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Ob nah oder fern
Da sind diese Menschen, mit denen wir verwandt sind. Und irgendwie ist klar, dass wir zu ihnen gehören und sie zu uns, egal, was passiert. Aber verpflichtet uns das dazu, uns regelmäßig bei ihnen zu melden? Oder müssen wir das eben gerade nicht tun, weil Verwandtschaft ja auch nicht vergeht, wenn man sie nicht pflegt? Und was, wenn uns die Familie mehr schadet als nutzt? Sind wir ihr dann trotzdem etwas schuldig? Fakt ist: Jede Familie ist anders. Und findet ihr eigenes Nähe-Distanz-System. Sechs Autorinnen erzählen, wie das bei ihnen läuft.
Abstand
Es gibt diese Wochenenden an denen meine WG leer ist, weil alle Mitbewohner „heimgefahren“ sind. Für sie bedeutet „heimfahren“, an den Ort zurückzukehren, an dem sie aufgewachsen sind. Bei mir ist das anders. Meine Mutter ist nach meinem Abi umgezogen, mein Vater lebt seit der Scheidung mit zwei neuen Kindern in einem anderen Bundesland. Natürlich fahre ich hin und wieder zu ihnen. Aber ich nenne das etwas kühl „besuchen“, nicht „heimfahren“. Wir gehen dann meistens essen. Richtige Familienrituale gibt es nicht, auch keine Verpflichtungen, dafür ist meine Familie zu zerstritten. Bei uns macht jeder sein Ding. Das ist für alle irgendwie okay. Wir halten Abstand, um uns zu schützen, denn wenn wir streiten, tun wir uns oft sehr weh. An den Wochenenden, an denen alle zu ihren Eltern fahren, sitze ich alleine in meiner Wohnung, stelle mir vor, wie sie mit ihren Familien wandern gehen – und werde neidisch. Das harmonische Zuhause aus ihrer Kindheit existiert noch. Sie sitzen vereint an großen Tischen und spielen Trivial Pursuit oder gehen angeln. Sie tanken sich voll mit Nähe und Geborgenheit, bis sie es nicht mehr aushalten, und kehren dann zufrieden in ihr eigenes Leben zurück.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Aber meine Trauer über den fehlenden Familienzusammenhalt zeigt mir auch, wie wichtig stabile Beziehungen sind und wie wichtig es ist, dass man sie pflegt. Ich baue mir jetzt mein eigenes Zuhause in Wien auf. Mein Bruder und meine Oma leben auch hier. Ich möchte die Beziehung zu ihnen immer gut warm halten.
Simone Grössing
Prioritäten
Meine Eltern sind beide verstorben, dafür habe ich noch alle vier Großeltern. Durch den Tod meiner Eltern haben sich die Beziehungen zu meinen Großmüttern intensiviert. Allerdings in völlig unterschiedliche Richtungen. Die eine Oma ist mein Ein und Alles, die andere geht mir auf die Nerven. Aber von vorne. Als ich klein war, schickten mich meine berufstätigen Eltern jede Ferien die eine Hälfte der Zeit zur einen, die andere Hälfte zu anderen Oma. Die Mutter meiner Mutter war die vermeintlich liebere Oma. Bei ihr durfte ich so viel Eis essen, wie ich wollte, und so lange fernsehen, bis mir die Augen zufielen. Bei der Mutter meines Vaters gab es strikte Regeln. Die wurden auch für mich als einzige Enkelin nicht umgeworfen. Nicht überraschend also, dass ich lieber zur Mama-Oma fuhr. Als Teenager drehte sich das: Denn ich erkannte plötzlich, dass mir meine Mama-Oma nur deshalb alles erlaubte, weil sie mir in Diskussionen unterlegen war. Ihre Weltanschauung stellte mir die Fußnägel auf, ihr Horizont endete nämlich am Gartentürchen. Und da war sie auch noch stolz drauf. Die andere Oma bot mir immer fair die Stirn. Sie verlor nie den Anschluss. Weder an mein Leben noch an das um sie herum. Heute ist sie mit 80 meine fleißigste Kommentatorin auf Facebook. Sie nimmt an meinem Leben teil, wir telefonieren fast jede Woche, mindestens jede zweite. Beide Omas wohnen ungefähr 400 Kilometer von mir entfernt. Die Papa-Oma besuche ich mehrmals im Jahr. Aber nur ein- oder zweimal fahre ich dann noch ins Nachbardorf, um die Mama-Oma zu besuchen. Dort halte ich es nie länger als eine Stunde aus. Meine Augen hängen jedes Mal am Minutenzeiger der Küchenuhr, der sich nicht bewegen mag. Als meine Mutter starb, hatte ich anfangs ein schlechtes Gewissen. Immerhin ist diese Frau die einzige Brücke zu ihr. Heute denke ich mir: Ich habe sie mir nicht ausgesucht. Ich muss sie nicht mögen, ihre Werte nicht teilen, nur weil wir verwandt sind. Das bringt meine Mutter nicht zurück. Darum teile ich meine Zeit nicht salomonisch, ich setze mich einfach gleich bei meiner Papa-Oma auf die Terrasse, esse Kuchen und freue mich, dass sie immer noch da ist. Und viele schlaue Dinge sagt. Michèle Loetzner
Große Fische
Hätte mein Vater kein Online-Zeitungsabo abgeschlossen und daraufhin ein Ritual für uns erschaffen, müssten wir uns immer noch mit verkrampften Pflichtanrufen quälen. Man muss wissen: Mein Papa ist kein Telefonmensch. Unsere Kommunikation war deshalb lange entweder gezwungen oder lief über die Vermittlungsinstanz Mama. Aber eines Tages schickte mir Papa eine E-Mail mit dem Betreff: „Zwei-Meter-Waller aus Garchinger See gefischt“. Von da an wurde alles anders. In der E-Mail befanden sich ein Zeitungsartikel aus seinem neuen Abo und die Notiz: „Da sind wir schon geschwommen, Eli.“ Ich musste lachen. Dann antwortete ich mit einem Kommentar zu dem übergroßen Fisch und dem Link zu einer Reportage über Papas Arbeitgeber. Seitdem mailen wir uns alles aus dem Internet, was wir irgendwie wichtig finden oder was den anderen interessieren könnte. Immer schreibe ich in den Betreff: „Lies mal, Papa!“ Und immer beendet er seine Mail mit: „Hab dich lieb, Papa“. An die Artikel knüpfen wir Gespräche über Gott, die Welt und alles aus unseren Leben an – manchmal sogar am Telefon. Verkrampft ist dabei keiner von uns, denn: Mit dem Ritual hat Papa uns von allen Ich-muss-mal-wieder-anrufen-Zwängen befreit. Wir melden uns nicht beieinander, weil wir es als unsere Pflicht empfinden – sondern weil uns etwas an den anderen denken lässt. Das ist immer sehr schön – selbst wenn es sich bei dem Etwas um einen angsteinflößend großen Fisch handelt.
Daniela Gassmann
Output
Mein Bruder und ich sind beide als Einzelkinder aufgewachsen: Uns trennt ein so großer Altersunterschied, dass ich schon als Dreijährige die Alleinunterhalterin auf seinem 18. Geburtstag spielen konnte. Als ich in die Schule kam und er ausgezogen war, schrieben wir uns Briefe. Er gestaltete das Briefpapier passend zu dem, was ich gerade cool fand: Tabaluga, Biene Maja, Löwenzahn. Ich kann mit Stolz behaupten, dass wir uns noch nie gestritten haben (ich hörte, das sei üblich unter Geschwistern). Doch je älter wir werden, desto mehr merke ich, dass wir uns eigentlich gar nicht kennen. Wir haben uns noch nie gemeinsam betrunken oder uns Probleme anvertraut. Wenn wir uns sehen, sind meist unsere Eltern, seine Frau oder seine Kinder mit dabei. Wegen der 15 Jahre zwischen uns stecken wir immer in verschiedenen Lebensphasen. Trotzdem – oder gerade deswegen – haben wir etwas gefunden, das uns am Leben des anderen teilhaben lässt: Er macht Musik, ich schreibe, und ganz selbstverständlich kriege ich neue Tracks zu hören, liest er meine Texte. Kommentieren ist oft gar nicht nötig. Wir kennen uns durch unseren Output und durch Empfehlungen. Er prägte meinen Musik- (Tocotronic!) und Filmgeschmack (Absolute Giganten!). Vielleicht müssen wir deswegen nicht mehr voneinander wissen: Uns genügt diese Ebene, die ja durchaus eine emotionale ist; und es ist sowieso klar, dass wir uns gegenseitig schätzen. Nicht aus blutsverwandtem Pflichtgefühl, sondern weil wir Interesse zeigen. Wie schon damals beim Briefpapier.
Svenja Gräfen
Salztomaten
Die Liebe meiner russischen Eltern ist selbstlos, bedingungslos und absolut planlos. Sie würden mir immer helfen, wenn ich in der Klemme stecke, antworten aber manchmal drei Wochen lang nicht auf meine SMS und rufen dann plötzlich an, um stundenlang zu quatschen. Ein paar Mal haben sie auch schon meinen Geburtstag vergessen. „Liebe braucht keinen Stundenplan“, sagt meine Mama in solchen Fällen. „Man muss doch keine Termine mit seiner Familie ausmachen wie bei der Zahnvorsorge.“ Manchmal bin ich mir da nicht so sicher. Einerseits möchte ich keine Familie, die ohne ein Skelett aus Sonntagsanrufen und Feiertagsbesuchen zusammenbrechen würde. Andererseits beneide ich das elaborierte dreitägige Weihnachtsprogramm meiner deutschen Freunde. Bei uns ist Weihnachten ein Mischmasch aus Limbotanzen (hat mein Stiefvater bei einer Deutschen Betriebsfeier abgeguckt), ABBA und Dosenwürstchen. Danach fällt uns nichts Weihnachtliches mehr ein und den Rest der Feiertage gucken wir Actionfilme und essen Reste. Aber dieses Chaos ist wohl das, was uns zusammenhält. Es sind die Einweckgläser mit russischen Salztomaten, die sie mir in die USA schickten. Und die Tatsache, dass ich immer, selbst zum unpassendsten Zeitpunkt, ans Telefon gehe, wenn die Nummer meiner Eltern auf dem Display erscheint. Ich weiß, dass sie sofort zu mir gereist kommen, wenn ich sie brauche. An meinem Geburtstag rufe ich sie allerdings vorsichtshalber selbst an.
Wlada Kolosowa
Kaffeeklatsch
Mama und ich wohnen beide in München, trotzdem telefonieren wir jeden Tag. Absolute Ausnahme: Einer von uns ist übers Wochenende weg oder im Urlaub. Ganz selten, wenn viel los ist, schaffen wir es nicht – dann wird zumindest kurz geschrieben: „Wie geht’s dir? Alles klar? Bist du gut angekommen?“ Viele meiner Freunde finden das seltsam. Es ist wahrscheinlich auch nicht „normal“, mit 25 so viel Kontakt zu seiner Mutter zu haben. Aber wir beide finden es gut, wie es ist – und das ist ja alles, was zählt. Früher haben wir uns zudem mindestens einmal in der Woche gesehen. Das bekommen wir jetzt, seitdem ich eine Fernbeziehung nach Hamburg habe, nicht mehr ganz so regelmäßig hin. Wenn ich am Wochenende hierbleibe, ist aber klar, dass wir uns treffen. Meistens sonntags und meistens bei ihr zu Hause. Wir trinken Kaffee und wenn ich danach nicht noch verabredet bin, bleibe ich zum Abendessen. Meine Schwester war bis vor kurzem auch immer dabei. Jetzt wohnt sie ein paar Stunden von München weg. Mit ihr habe ich seitdem leider etwas weniger Kontakt, wir schreiben uns alle ein bis zwei Wochen. Dass meine Mama und ich eine Art „Spezialverhältnis“ haben, stört niemanden in der Familie. Mein Papa ist da recht unkompliziert, wir sehen uns, wenn es passt, und wenn es mal über ein oder zwei Monate nicht klappt, ist es auch nicht wild. Meine Schwester ist frisch ausgezogen und glaube ich ganz froh, dass sie erst mal nicht mehr täglich von Mama hört.
Anja Schauberger