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"Nach dem Aufwachen ist die Nähe wieder verschwunden"

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Als Christine Neder, 25, für ein dreimonatiges Praktikum bei einem Magazin nach Berlin zieht, umgeht sie die Wohnungssuche und schläft stattdessen 90 Tage lang fast jede Nacht in einer anderen Wohnung. Sie wird zur Dauer-Couchsurferin. Jetzt ist das Praktikum vorbei und wir fragen: Wie wars?
 
  jetzt.de: Wie entstand die Idee zu 90 Tage Couchsurfing?
  Christine: Das war sehr spontan und eigentlich aus der Not heraus. Ich war für ein Praktikum in München und wusste, dass ich drei Wochen später in Berlin ein neues Praktikum starten sollte. Allerdings hatte ich insgeheim immer die Hoffnung, dass sich vor meiner Abreise doch noch ein Job in München ergibt. Also kümmerte ich mich um nichts und fuhr stattdessen mit einer Freundin nach Rumänien. Dort lernten wir Couchsurfer kennen und ich hörte das erste Mal, dass es so etwas gibt, dass man also, vermittelt durch eine Website, bei Privatleuten kostenlos auf der Couch übernachten kann. Zusammen mit meiner Wohnungslosigkeit entstand dann die Idee. Ich hoffte aber auch, dadurch Berlin besser und schneller kennenzulernen.
 
  jetzt.de: Wie bist du mit den Leuten in Kontakt gekommen, bei denen du schließlich übernachtet hast?
  Christine: Über couchsurfing.com habe ich mir für die ersten 30 Tage Übernachtungsmöglichkeiten organisiert und meine Erlebnisse auf meinem privaten Blog beschrieben. Schließlich wurden einige Medien auf mich aufmerksam. Ich habe Interviews gegeben und für ein großes Online-Magazin über mein Projekt geschrieben. Dadurch habe ich dann viele Einladungen von Leuten bekommen und musste nicht mehr über die Website suchen.
 
  jetzt.de: An wen deiner Gastgeber denkst du häufig zurück?
  Christine: Ich war einmal bei einer älteren Dame in einem Vorort von Berlin. Diese Übernachtungsmöglichkeit hatte mir ein Radiosender vermittelt. Die Dame hat mir ihre dramatische Lebensgeschichte erzählt und das hat mich wirklich beeindruckt. An sie muss ich noch oft denken. Dann habe ich einmal eine Nacht in einem Van übernachtet, ohne Bad natürlich, was mir wirklich gezeigt hat, wo meine Grenzen liegen. Das war schrecklich. Und einmal habe ich bei einem Fotografen übernachtet, der mit zwei Frauen zusammenlebte. Die ganze Wohnung hatte einen Fetisch/Bondage-Touch. Ich hatte natürlich unglaublich viele Vorurteile, aber dann haben wir ganz normal zusammen gesessen und uns gut unterhalten. Bei der Gelegenheit habe ich wieder gemerkt, wieviel man Leuten andichtet, obwohl sie gar nicht so sind. Die 90 Tage haben mich wirklich toleranter gemacht. 
  

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Christine

  jetzt.de: Gab es einen Punkt, an dem du am liebsten alles abgebrochen hättest?
  Christine: Nach dem 60. Tag. Es war ein Wochenende und da bin ich sozusagen fremd gegangen ich habe Couchsurfing in München gemacht. Da war ich dann unter Freunden und habe ein halbwegs normales Leben gehabt. Als ich aus diesem Wochenende zurückkam, war es ganz schwer.
 
  jetzt.de: Hast du weitergemacht, weil du wusstest, dass so viele Leute dein Projekt verfolgen?
  Christine: Nein. Ich hatte ja eigentlich gar keine Wahl ich hatte keine Wohnung. Und außerdem wusste ich, dass es nur eine Phase war.
 
  jetzt.de: Hättest du das Projekt auch gestartet ohne darüber zu berichten?
  Christine: Auf jeden Fall. Als ich angefangen habe, habe ich ja nur gebloggt. Da hatte ich vielleicht hundert Leser. Aber ich glaube, das Schreiben über das Projekt war wichtig, denn ich habe mich nach jedem Besuch noch mal intensiv mit dem Abend und der Nacht beschäftigt und konnte die Erinnerungen verarbeiten und mich wieder auf etwas Neues einlassen. 

  jetzt.de: Was hat dein Umfeld zu all dem gesagt?
  Christine: Meine Mutter fand es ganz schrecklich. Sie wusste anfangs auch gar nicht, was Couchsurfen heißt. Aber sie hat sich daran gewöhnt und sie wusste ja auch, dass sie es mir nicht ausreden kann. Meine Freunde haben es alle erst nicht geglaubt. Und mein Freund wurde erst Mitte des Projektes mein Freund und hatte daher kein Mitspracherecht.
 
  jetzt.de: Was glaubst du: Hat einer deiner Gastgeber gedacht, dass aus deinem Besuch mehr als eine Übernachtung werden könnte?
  Christine: Das kam nicht vor und wenn, dann habe ich es im Keim erstickt.
 
  jetzt.de: Hattest du Angst?
  Christine: Ich habe darauf geachtet, dass, wenn ich zu einem Mann eingeladen wurde, wir vorher noch etwas in der Öffentlichkeit gemacht haben. Einer hat mich zum Beispiel mit zur Chorprobe genommen. Das hatte er angekündigt. Da war klar: Das ist eine sichere Angelegenheit. Es wäre dumm, wenn er mich erst mit zur Probe nimmt und dann umbringt.
 
  jetzt.de: Du hast also darüber nachgedacht, dass etwas passieren könnte?
  Christine: Ich nicht, aber alle anderen. Ich bin da total unbefangen herangegangen. Aber als ich dann die Kommentare unter meinen Texten gelesen habe, in denen stand, dass man mich sicher bald bei Aktenzeichen XY ungelöst im Fernsehen sehen würde, habe ich schließlich auch Angst bekommen. Einmal durfte ich bei jemandem übernachten, der nicht zu Hause war. Den Schlüssel sollte ich beim Nachbarn abholen und der war ein sehr kräftiger Mann. Er sollte mir die Wohnung zeigen und alles erklären. An diesem Abend wusste niemand, wo ich bin normalerweise hatte ich es meinen Eltern immer geschrieben. Auf einmal bekam ich Panik, dass er die Tür zumacht und mich umbringt. Ich habe total den Film geschoben. Natürlich ist nichts passiert, aber das kam von den Horrorszenarien der anderen.
 
  jetzt.de: Mit wildfremden Menschen in einer Wohnung zu schlafen, ist eine intime Angelegenheit. War das nie seltsam?
  Christine: Wenn man vorher miteinander isst, kennt man sich ja schon ein bißchen. Und wenn man weiß: ,Mit diesem Menschen verbringe ich jetzt die Nacht, der geht nicht nach Hause dann wird das Gespräch auch schnell viel intimer. Bemerkenswert ist aber, dass diese Nähe am nächsten Morgen nach dem Aufwachen wieder verschwunden ist.
 
  jetzt.de: 90 Tage sind eine lange Zeit. Warst du nicht irgendwann total fertig?
  Christine: Ich war zwischendurch schon sehr gestresst, aber hauptsächlich wegen normaler Alltagsdinge. Das Ankommen in den fremden Wohnungen hat mich komischerweise eher entspannt.
   
  jetzt.de: Wie viele deiner Gastgeber wirst du noch mal treffen?
  Christine: Mit einer Gastgeberin treffe ich mich zum Beispiel bald auf dem Weihnachtsmarkt. Am liebsten würde ich eine große Party machen. Eigentlich müsste ich noch mal 45 Tage dranhängen, um alle Leute wieder zu treffen mit mehr als der Hälfte würde ich gerne noch mal was machen.

Christines Erlebnisse erscheinen Anfang des kommenden Jahres in Buchform unter dem Titel 90 Nächte, 90 Betten.

Text: marie-charlotte-maas - Foto: privat

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