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Mythos mit Butterschmalz

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Kein Stadtteil pflegt seinen Mythos so wie das Westend. Seit Jahren hört man, nun sei es endlich so weit: Das Westend sei das kommende Viertel. Nicht so starr und ewiggestrig wie Schwabing, nicht so gediegen wie Haidhausen, nicht so szenig wie das Gärtnerplatzviertel. Auf der Habenseite werden das multikulturelle Flair verbucht, die familienfreundlichen Mietpreise, die Nähe zum Zentrum und schwer greifbare Vorzüge wie die Authentizität des Einfachen, die Alltagspoesie des ehemaligen Arbeiterviertels. All das ist nicht falsch, aber die Gewichtung muss neu justiert werden. Es ist kein Geheimnis mehr, dass man Baader- oder Schellingstraße getrost vergessen kann. Dass die neue Lebensader der Stadt mitten durch Münchens altes Glasscherbenviertel verläuft. Dass sich hier Gegensätze zeigen, die man der Stadt landläufig gar nicht zutraut. Und doch sei klargestellt: Das Westend ist nicht das kommende Viertel. Es ist längst da. Von einem Hype kann nicht die Rede sein – und ein Hype wäre das letzte, was dieses Viertel braucht. Dem Mythos auf die Spur kommt man am besten bei einem Spaziergang über die Schwanthalerhöhe rund um die Ligsalzstraße. Hippe Cafés öffnen hier neben muffigen Altstadtkneipen ihre Türen, fast monatlich drängeln sich neue Galerien und Ateliers zwischen Import/Export-Geschäfte und Friseurläden, die aussehen, als sei dort Rainer Werner Fassbinder Stammkunde gewesen. Architekten und Web-Designer siedeln sich hier an, dazu Künstler, Übersetzer und Journalisten. Die vielen griechisch- oder türkischstämmigen Bewohner, deren Familien meist schon in der dritten oder vierten Generation hier leben, sieht man gerne als legitime Nachfolger der früheren Arbeiterschicht, als die neuen Underdogs. Menschen unterschiedlichster Herkunft – so ist man sich einig – leben hier freundschaftlich miteinander. Anzugträger aus dem nahe gelegenen KPMG-Gebäude holen sich mittags einen Imbiss beim Türken, der griechische Gemüsehändler und der bayerische Biergartenbesitzer helfen sich gegenseitig mit Ziegenkäse aus.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Eine angenehm geheimnisvolle Gegenströmung zur „Verglockenbachung“ des Westends bilden die zahlreichen, oft von Nachkommen ehemaliger „Gastarbeiter“ geführten Sportclubstätten und deutsch-türkischen Freizeitvereine, von denen niemand so recht weiß, was sie eigentlich sind: Sportlerheime, Jugendzentren, steuergünstige Kneipen oder private Wettbüros. Man bleibt dort gerne unter sich, woran nicht das Geringste auszusetzen wäre, würde vom Multikulti-Konsens nur nicht ständig das Gegenteil behauptet. Tagsüber werden dort Fußballwetten abgeschlossen, abends spielt man unter Neonbeleuchtung Karten. Immer werden aufgeregte Gespräche geführt, der Geräuschpegel ist hoch, es wird noch geraucht, was das Zeug hält. Nur Frauen sieht man hier praktisch nie.


Alte Läden, neue Kunden Die quirlig-herzliche Lebensart des Westends ist ein Klischee, wobei natürlich das einzige Klischee, das nicht zutrifft, jenes ist, dass Klischees nicht zutreffen. Tatsächlich spürt man hier eine Lebendigkeit, die sich nur entfalten kann, wo gewachsene Strukturen von neuen Strömungen verändert und geprägt werden, ohne sich dabei restlos schlucken zu lassen. Zum Vorteil gereicht dem Westend nun, dass seine Entwicklung zum Trendviertel träge vonstatten geht. Noch immer kann man hier an guten Tagen glauben, in der flimmernden Mittagshitze am Horizont die Küstenlinie der Ägäis schimmern zu sehen. Und ja, für alle, die ein Votum wünschen: Es ist das beste Viertel der Stadt. So viel zum Mythos. Aber was gibt es Neues?

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Christian Blau wird nach dem Umzug aus Haidhausen ab Oktober seine Kneipe Kilombo in der Gollierstraße neu eröffnen. Für ihn ist das Westend schlicht der „urbanste Stadtteil Münchens. Hier sind feste Bindungen verankert. Da werden Mietverträge über Generationen weitergereicht, so bleibt die Identität des Ortes erhalten.“ Das „Café Marais“ in der Parkstraße ist fast zu schön, um wahr zu sein. An der Fassade prangt noch der Schriftzug Hans Mier, denn bis Ende letzten Jahres war hier ein alteingesessenes Bekleidungsgeschäft. So verstaubt und bieder hatte die Ware hier die Jahrzehnte überdauert, dass die Restbestände nun als Szeneklamotten nebenan in der Second-Hand-Boutique „Herrenabteilung“ verkauft werden. Noch immer, sagt Alexandra Baumann, eine von drei Marais-Geschäftsführerinnen, kommen manchmal alte Männlein herein und fragen irritiert nach grauen Strickpullundern. Das ist nicht ganz abwegig, denn das Café hat fast das gesamte Interieur übernommen. 50er Jahre-Möbel, die alte Verkaufstheke, Schneiderschübe und Spielzeug aus der Zeit der vorletzten Jahrhundertwende sind von wunderlich aus der Zeit gefallenem Gepräge. Statt der Auslegeware kann man nun Menschen im Schaufenster sitzen und Kaffee trinken sehen, als handele es sich um Living Sculptures.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Zum Mythos der Vermischung von Gegensätzlichem passt, dass das Marais nicht nur ein Café ist, sondern zugleich ein Laden, in dem viele der herumstehenden Möbel zum Verkauf stehen, aber auch Schmuck, Tücher, Hüte und Bio-Kosmetik. Auf eingleisige Lebensläufe stößt man hier im Viertel kaum. Jeder scheint immer mindestens drei Dinge gleichzeitig zu machen. Um die Ecke, zurück in der Ligsalzstraße, hat Thomas Schillo den kleinen Verlag Kunst- und Textwerk gegründet – der noch ein Antiquariat, eine Buchhandlung und ein lauschiges Lesecafé beheimatet. Sonntags kann man hier Dichterlesungen hören. Nur zwei Schritte weiter gibt es die Werkschau zu entdecken, eine der schönsten Kleingalerien Münchens, in der Inge Brandl seit knapp einem Jahr Papierarbeiten und skulpturale Kunst zeigt. Faszinierend doppelbödige Bilder des ortsansässigen Amerikaners David Virgien gab es hier unter anderem schon zu bewundern, und wenn man Glück hat, kann man auch noch einen Blick in das Atelier des Münchner Künstlers Bernhard Stöger werfen, das im Nebenraum untergebracht ist. Natürlich ist auch Inge Brandl, die seit 24 Jahren im Westend wohnt, vielseitig beschäftigt. Eigentlich ist sie Architektin, ihr Büro liegt nur einen Steinwurf entfernt. „Dass das Westend ein Geheimtip sei, kann ich schon fast nicht mehr hören“, sagt sie. Früher hätten mehr Ausländer hier gewohnt, da sei es noch lebhafter gewesen. Seit das Westend Sanierungsgebiet ist und mit dem Umzug der Messe einen Bauboom erlebt hat, können sich das viele schon gar nicht mehr leisten.


Die Halbe für 1,90 Nach so viel Kultur lockt wiederum nur gut eine Armlänge entfernt das „Rund-um“ mit Erfrischungen. „Verhilft hässlichen Leuten zu Sex seit 1862“ steht da auf einem Bierplakat an der Eingangstür. Zu behaupten, das „Rund-um“ gleiche noch einer Arbeiterpinte alten Stils und sei somit ein belebendes Gegenstück zu den schicken Bars, die mehr Laufsteg als Bierschänke sind, wäre euphemistisch. Es riecht hier wie früher nach den Schulfesten im Jugendzentrum und an den Wänden hängen E-Gitarren, Wikingerhelme aus Plastik und sorgfältig schief angepinnte Poster von den Scorpions. Die Halbe kostet 1,90 Euro und keinen Cent mehr. Zusammen mit dem Plakat an der Tür reicht das, um den Tresen schon nachmittags voll zu kriegen, sagt Wolfgang Preis, der Geschäftsführer, dessen feines Gesicht nicht recht zu den tätowierten Armen passen will. Müssen Kneipen wie seine oder die kleinen, von Familien ausländischer Herkunft geführten Geschäfte nun, da das Westend endgültig als ‚in’ gilt, um ihre Existenz fürchten? „Ach was“, sagt Herr Preis, „ich hab’ eh fast nur Stammkundschaft, und die Türken wirst du hier auch nicht so schnell wegbringen.“

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Hält man zuletzt noch Ausschau nach so etwas wie einer guten Seele des Westends, kann man aufhören zu suchen, wenn man am Küchentisch der 82-jährigen Frau Augsberger Fencheltee serviert bekommt. Schon ihre Eltern vermieteten das 8-Parteien-Haus in der Ligsalzstraße und noch heute sucht Frau Augsberger jeden neuen Mieter persönlich aus. Sie erzählt, wie in der Bombennacht 1944 das Hinterhaus getroffen wurde und dass die Schäden am Dachstuhl, der von der Gewalt des Luftdrucks verzogen wurde, noch heute zu erkennen sind. Von der Frage, ob es für sie nicht gut sei, dass mit der Wandlung zum angesagten Wohngebiet nun vermehrt zahlungskräftigere Mieter hierher strömen, lässt sie sich nicht provozieren. „Die Mischung macht’s doch gerade erst aus.“ Überhaupt weiß sie allerhand aus der Nachbarschaft zu berichten. Zum Beispiel, dass es im nahe gelegenen „Wirtshaus zur Schwalbe“ deshalb das beste Kalbsschnitzel weit und breit gebe, weil es noch mit echtem Butterschmalz zubereitet werde. Treffender kann man das, was das Westend ausmacht, kaum auf den Punkt bringen. Aber wird dieses ganze Lokalkolorit nicht bald verloren sein, wenn der Stadtteil zum Modeviertel verkommt? „Das Westend? Modeviertel?“, erwidert Frau Augsberger ungläubig, lacht herzhaft los, schüttelt den Kopf, und plötzlich hat man tatsächlich das Gefühl, etwas sehr, sehr dummes gefragt zu haben. Fridolin Schley ist Schriftsteller, er lebt und arbeitet im Westend. Gerade ist sein Erzählband „Wildes schönes Tier“ im Berlin Verlag erschienen. Ein Interview mit dem Chef des neuen Kilombo gibt es noch hier. Impressionen aus dem Westend auf den nächsten Seiten!


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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


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Illustration: Julia Schubert


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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

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Illustration: Julia Schubert



Text: fridolin-schley - Fotos: David Freudenthal

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