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"Mir geht es nicht ums Geld"

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Manche Ladeninhaber sind so skurril oder vielschichtig, dass man sich, nachdem man bei ihnen eingekauft hat, noch Tage später voll Ehrfurcht von ihnen erzählt. Wolfgang Mrosek ist einer von ihnen. Er betreibt in Berlin-Neukölln den Fahrradladen „Fietswinkel“. Er baut aus Schrottteilen neue Räder und verkauft sie zu einem Preis, der die Kosten nicht übersteigt. Wie der 48-Jährige in jungen Jahren vom Automechaniker zum Großverdiener und dann wieder zum Schrauber wurde und was er von all den Berliner Hipstern hält, die seine Räder kaufen, das erzählt er im Interview.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



jetzt.de: Wolfgang, du bist in den 80er Jahren von Hildesheim nach Berlin gekommen. Wovon hast du hier zu Beginn gelebt?
Wolfgang: Ich habe KFZ-Mechaniker gelernt. Anfänglich habe ich Autos repariert und einige Bautätigkeiten ausgeübt. Seitdem habe ich so viel gemacht – ich habe gar nicht die Zeit, dir von allem zu erzählen. Ich führe einfach kein konventionelles Leben. Von deiner Variante habe ich in meinen fast 50 Jahren schon etwa zehn Leben gelebt.
 
jetzt.de: Von meiner Variante?
Wolfgang: Der normale Mensch macht doch vielleicht sieben oder acht verschiedene Sachen im Leben. Ich hingegen habe schon 8000 gemacht.   

jetzt.de: Was zum Beispiel?
Wolfgang: Außer meinen Körper zu prostituieren habe ich eigentlich schon alles gemacht. Alles – vom Tellerwäscher bis zum Millionär.
 
jetzt.de: Du warst schon Millionär?
Wolfgang: Ich war noch ein bisschen fetter als nur Millionär. Ich war Kartennummer 6800. 
 
jetzt.de: Was heißt das?
Wolfgang: Das sind die Lufthansa-VIPs. Die Leute, für die normale Menschen aus dem Flugzeug aussteigen müssen. Zur Maueröffnung habe ich mit des Kanzlers Sondermaschine Ehrenrunden über dem Potsdamer Platz gedreht, um mir alles genau anzusehen. Aus dieser Liga stamme ich. Aber diese Liga ist beschissen. 
 
jetzt.de: Wie bist du in diese Liga gekommen?
Wolfgang: Ich habe durch einen Zufall viel Geld verdient. So viel, dass ich es mir erlauben konnte, 100 000 Mark im Monat für Spaß auszugeben. Wenn ich Achterbahn fahren wollte, habe ich mir eben eine aufstellen lassen – auch wenn das 20 000 Mark kostete.
   
jetzt.de: Ein Lottogewinn?
Wolfgang: Nein.  

jetzt.de: Was dann?
Wolfgang: Darüber muss man ja nicht unbedingt reden.   

jetzt.de: Irgendwann war aber Schluss mit Luxus. Wann genau?
Wolfgang: Als ich 30 wurde, haben mir gute Freunde gesagt, dass ich zum Arschloch werde. Das wollte ich natürlich nicht, also habe ich das Geschäft gestoppt.  
 
jetzt.de: Wie lange lief das Geschäft?
Wolfgang: Fünf Jahre.  
 
jetzt.de: Wie hast du in dieser Zeit gelebt?
Wolfgang: Ich bin damals schon in ähnlichen Klamotten rumgelaufen wie jetzt. Man hat mich deswegen auch oft des Feldes verwiesen. Die Leute wussten ja nicht, wer ich war. Mit dem vielen Geld habe ich mir die ganze Welt angeguckt. Und ich habe gesehen, dass wir hier in unseren Breitengraden überhaupt keine Probleme haben. Wir haben dermaßen viel zu essen und zu trinken, dass wir in einer Wanne voll Trinkwasser baden können. Meine Reisen haben meine Weltanschauung stark verändert. Ich habe gemerkt, dass Menschen, die weniger Geld haben offener, freundlicher und hilfsbereiter sind als Menschen, die mehr haben. Ein Müllkind in Rio de Janeiro würde selbst seinen letzten Krümel mit einem anderen teilen. Wenn ich aber in Beverly Hills irgendwo klingle und nach einem Schluck Wasser frage, werde ich von der Polizei weggefahren. 
 
jetzt.de: Als du mit 30 aus diesem Geschäft ausgestiegen bist – was hast du dann gemacht?
Wolfgang: Wieder Autos repariert, Wohnungen renoviert, Würstchen in England verkauft. Mit 40 bin ich dann Papa geworden und wollte nicht mehr nur von einer besseren Welt labern, sondern auch mal etwas dafür tun. 
  
jetzt.de: Es heißt, die Idee zu deinem jetzigen Laden sei entstanden, als du deinem Sohn erklärt hast, wie Marktwirtschaft funktioniert. Wie alt war er zu dem Zeitpunkt? Was hast du ihm erzählt?
Wolfgang: Er war drei Jahre alt. Alles fing an mit dem Kauf von Spielsachen und immer mehr Spielsachen. Ich habe ihm gesagt, dass die viel Geld kosten. Er meinte, dass das Geld doch aber aus der Bank käme. Und ich habe ihm daraufhin erklärt, dass man das Geld erst selbst zur Bank tragen muss. 
 
jetzt.de: Und dann habt ihr zusammen Geld verdient?
Wolfgang: Unser Nachbar ist Schrotti. Aus seinen alten Fahrradteilen habe ich mit meinem Sohn ein neues Rad gebaut, das wir auf dem Flohmarkt verkauften. Von dem eingenommenen Geld haben wir dann Spielzeug besorgt. Das haben wir wiederholt, immer und immer wieder. Und irgendwann dachte ich: Da kann man vielleicht auch einen Laden draus machen. 
 
jetzt.de: Musstest du viel in den Laden investieren?
Wolfgang: Ja, viel Zeit und Fahrradschrott, aber kein Geld. Ich bin zur Zwischennutzungsagentur gegangen und habe dort von meinem Vorhaben erzählt. Man hat mir dann einige Läden vorgeschlagen. Als ich den passenden gefunden hatte, musste ich ihn komplett entmüllen, bekam ihn dafür aber auch ein halbes Jahr mietfrei. Am Laden selbst habe ich bis heute überhaupt nichts gemacht, nicht mal die Wände gestrichen. 
 
jetzt.de: Du brauchtest für deinen Laden aber sicher mehr Schrott, als dir dein Nachbar liefern konnte.
Wolfgang: Ja, der Schrott kam dann von richtigen Schrotthändlern, denen ich pro Kilo das Doppelte von dem zahlte, was sie auf dem Schrottplatz dafür bekamen. Damals gab es dort für das Kilo Altmetall 15 Cent. Ich habe 30 gegeben.
 
jetzt.de: Und jetzt kommen Privatleute direkt mit Schrott zu dir?
Wolfgang: Genau.

jetzt.de: Wer kommt da so?
Wolfgang: Alle. Vom gutverdienenden Arzt bis zum nichts verdienenden Hartz-IV-Empfänger. 
 
jetzt.de: Und wer kauft die Räder?
Wolfgang: In letzter Zeit vor allem Zugezogene, die meinen, dass das alles hier total hip sei. Die nehmen sich dazu noch ein Abo von der taz und schon denken sie, sie seien die neuen Alternativen. Auch wenn ihre Eltern aus Stuttgart jeden Monat das Geld für alles schicken. 
  

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Wolfgang in seinem Laden

jetzt.de: Wobei diese Leute ja auch Geld im Laden lassen und dich dadurch doch nur sekundär stören dürften, oder?
Wolfgang: Nein, die stören primär und kriegen von mir teilweise sogar Hausverbot. Denn mir geht es nicht ums Geld. Mir geht es mit dem Laden darum, dass das Volk lernt: Wenn wir die alten Sachen am Leben erhalten, werden unsere Kinder noch Bäume sehen können. Wenn wir weiterhin nur kaufen, nutzen, wegschmeißen und neu kaufen, wird es nicht dazu kommen. In Dritte-Welt-Ländern werden riesige Flächen abgeholzt, damit wir auf Öko-Papier scheißen und uns jeden Monat ein neues, glitzerndes Fahrrad kaufen können. Wir sehen Brasilien ja nicht. Würden wir es sehen, würden wir nichts Neues mehr kaufen. Mittlerweile fangen wir ja sogar schon an, denen dort das Fressen wegzunehmen, weil unsere Autos Bio-Sprit tanken müssen. 
 
jetzt.de: Glaubst du, dass sich die hippen Kids in deinem Laden auch an dir und deiner Einstellung stören? Oder ist denen all das egal, weil sie bei dir ihre Fahrräder gut und billig bekommen?
Wolfgang: Manchen ist es wirklich egal, weil sie ihr ganzes Leben lang nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind. Und ihr Vorteil bei mir im Laden ist, ein Fahrrad, das eigentlich 150 Euro kostet, für 50 zu kriegen. Da schlucken sie die Abneigung mir gegenüber einfach runter. Ihnen wird nun mal immer und überall suggeriert, dass man alles irgendwie irgendwo noch billiger bekommen kann. Wenn dein Handyvertrag zehn Euro teuerer ist als der deines Freundes, bist du blöde – so denken die dann auch. 
 
jetzt.de: Gleichst du im Laden die Preise an die Kosten an?
Wolfgang: Ja, der Preis der Fahrräder ist immer so hoch wie die Kosten, die ich mit ihnen habe. Das Einzige, was dabei heraus fällt, sind hochwertige Rennradteile. Für mich sind Rennräder einfach sehr viel Wert. Ich bin damit ja früher schon die Tour de France gefahren.
 
jetzt.de: Die Tour de France?
Wolfgang: Ich hätte auch den Giro d’Italia fahren wollen, aber dafür reichten meine Beziehungen nicht aus. In der Zeit, in der ich so viel Geld hatte, konnte ich mich bei der Tour de France einfach einkaufen. Ich wollte, dass man mir auch so ein schönes Fahrrad baut, eine Profi-Maschine. Aber die bekommt man nur, wenn man die Tour fährt. Durch meine Connections zu einem holländischen Team habe ich erreicht, dass ich zwei Etappen in einem fremden Trikot fahren konnte. So hat mir die Firma Pinarello in Italien dann auch einen Rahmen für mein Rad geschnitzt. Wie du siehst, hängt er bis heute hier im Laden. 
 
jetzt.de: Hattest du denn überhaupt die physischen Voraussetzungen, um dort mitfahren zu können?
Wolfgang: Klar, die hatte ich mir aufgebaut. Auch du könntest mitfahren, so lange ein Team um dich herum fährt, und du nicht in den Wind kommst. 
 
jetzt.de: Wie stand es damals mit unerlaubten Hilfsmitteln?
Wolfgang: Doping? Permanent! Damals hat auch jeder gekokst, weil nach Koks keiner geguckt hat. Damit macht es dir auch nichts aus, dass du acht Stunden im Sattel sitzt, der dir den Hintern zerreibt. Irgendwas nimmst du freiwillig ein, wenn du das jeden Tag machst. 
 
jetzt.de: Es gibt ja Leute, die behaupten, man könne die Tour auch ohne Doping fahren.
Wolfgang: Mag sein. Ich kenne nur keinen.

  Infos zum Laden unter fietswinkel.de

Text: erik-brandt-hoege - Foto: Knipsermann/photocase.com, privat

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