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Mein Leben mit dem Therapeuten

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Jeanne hätte wahrscheinlich kein Problem damit, hier ihren echten Namen zu lesen, wenn sie sich nur ein Bein gebrochen hätte. Aber ihre Krankheit begann nicht mit einem Unfall, sie begann einfach so, mit 16 Jahren. „Ich wollte damals nicht mehr raus, nicht mehr in die Schule, es war nur noch Mutlosigkeit in mir. Ich wollte am liebsten liegen bleiben und warten bis ich sterbe.“ Sie war depressiv. Später entwickelte sie noch eine Magersucht, dann eine Esssucht, heute ist sie Anfang 30 und es geht ihr, sagt sie, zumindest nicht mehr ganz so schlecht. Jeanne, die eigentlich anders heißt, wälzt in ihrem Kopf immer wieder die Frage, warum außer ihrer Mutter und einer Freundin fast niemand von ihrer Krankheit weiß. „Unsere Gesellschaft ist ziemlich roh und geht mit weniger selbstbewussten Leuten nicht zimperlich um“, sagt sie. Bei ihrer Arbeit in einer Apotheke hat sie einmal von der Plage in ihrem Kopf erzählt. Da sagte der Chef: „Warum haben Sie das nicht früher gesagt? Ich hätte sie gar nicht eingestellt.“ Im vergangenen Jahr, nach dem Selbstmord des Torwarts Robert Enke, wurde viel über Depressionen gesprochen und die psychischen Krankheiten ganz generell bekamen das Licht der Öffentlichkeit ab. Auch in vielen Freundeskreisen scheinen sich Menschen heute leichter zu tun, von ihrer Therapie zu erzählen. Maren ist Mitte 20. Sie will zwar ihren echten Namen nicht sagen, hat aber trotzdem den Eindruck, dass viele Menschen häufiger über Therapien sprechen. „Ich war von Anfang an offen und habe Freunden gesagt, dass ich zur Therapie gehe, wie andere zur Krankengymnastik gehen“, sagt sie. Es gibt Psychotherapeuten, die einen ähnlichen Eindruck haben. Aber sie scheinen damit noch in der Minderheit zu sein. Denn die meisten Menschen mit Depressionen oder Angststörungen (das sind die häufigsten psychischen Erkrankungen) lächeln milde über das vermeintliche Verschwinden eines Stigmas. Gilbert zum Beispiel (auch sein Name ist geändert) ist Mitte 30 und kämpfte Jahre lang mit seiner Komfortzone: Er braucht Platz um sich und scheut sich vor Menschenansammlungen. Er ist seit sieben Jahren in Therapie und vieles hat sich verbessert mit seiner Furcht vor zu vielen Menschen. Nur eine Sache ist geblieben, sagt er: „Das Stigma, das die Psychotherapie begleitet, ist noch da. Außer mit meinen Freundinnen habe ich nie über die Angststörung gesprochen, weil ich nicht als mental defekt gelten möchte.“ Zweimal wollte Gilbert seiner Mutter von der Therapie erzählen. Aber die Gespräche blieben kurz. „Diese abstrakte Seelenschicht im Menschen macht ihr Angst“, glaubt Gilbert. Die Welt der Psychotherapie und der psychischen Erkrankungen ist kompliziert. Johannes Klüsener kennt sich darin aus, er ist Diplompsychologe und Psychotherapeut. Er behandelt Patienten und arbeitet außerdem bei der Techniker Krankenkasse, die, wie viele Krankenkassen, so genannte Gesundheitsreports erstellt. Klüsener gibt Jeanne und Gilbert recht: „Die Stigmatisierung ist noch sehr stark, auch bei meinen Patienten.“ Wenn er in sein Krankenkassenbüro geht, sieht er aber all die Zahlen, die nicht zu dieser Beobachtung passen. Im Sommer hat seine Kasse einen Zehnjahresvergleich veröffentlicht und herausgefunden, dass die „Zahl der psychisch bedingten Krankschreibungen bei Erwerbspersonen“ in den vergangenen zehn Jahren um 40 Prozent zugenommen habe. Es werden immer mehr Menschen psychisch krank, aber trotzdem redet niemand über diese Krankheiten?

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Ein Grund könnte sein, dass viele nicht wissen, was in diesen Menschen vorgeht. „Menschen, die nichts von Therapie wissen, können das nicht einordnen. Denen ist das unheimlich“, sagt Gilbert. Er ist Programmierer und hat bis Mitte 20 bei seinen Eltern gewohnt. Dann hatte er die Schnauze voll, wie er sagt. „Ich wollte maximal weit weg und bin von Nord- nach Süddeutschland gezogen. Als ich Wochen später, nach einem Besuch in meiner alten Heimat wieder in den Süden fuhr, habe ich während der langen Zugfahrt zum ersten Mal in meinem Leben Schweißausbrüche und Todesängste bekommen. Ich fühlte mich eingesperrt. Ich hatte durchgehend einen Puls von 200 und konnte die Nacht nicht schlafen. Das kannte ich vorher nicht, dass ich mich auf meinen Körper nicht verlassen kann. Ich habe später oft in der Therapie gesagt, es wäre angenehm, wenn ich Angst vor was Konkretem hätte, vor Spinnen oder Regenwetter. Aber dieses Schwammige, das aus dem Nichts kommt? Danach habe ich mich vier Jahre ohne Behandlung durchs Leben gemogelt. Die Attacken sind weiter gekommen, auch wenn man sie mir nicht angesehen hat. Ich habe mir aber nie bewusst gemacht, dass ich eine Behandlung brauche. Erst als ich eine Frau kennenlernte, die Psychologie mit dem Schwerpunkt Tiefenpsychologie studiert hat. Sie hat mir gesagt: Du musst etwas tun. Vielleicht war es auch ihr eigenes Interesse, weil sich meine Anspannung in unseren Streits abgebaut hat.“ Ob sich bei einem Menschen eine generalisierte Angststörung wie bei Gilbert oder eine Depression oder eine Schizophrenie oder eine andere psychische Erkrankung entwickelt, hängt von vielen Umständen ab. Die erbliche Veranlagung spiele häufig eine Rolle, sagen Ärzte. Die größte Rolle spielen aber wohl unsere Erlebnisse, sagt Johannes Klüsener. „Wie wir die Welt sehen und Erfahrungen emotional verarbeiten ist davon abhängig, welche Erfahrungen wir gemacht haben“, sagt er. Vielleicht muss man sich den Kopf an dieser Stelle wie eine Werkstatt vorstellen. Wir erleben in jungen Jahren Dinge und stellen dementsprechend einen Werkzeugkasten zusammen, mit dem wir unser Leben angehen. Wer einen guten Werkzeugkasten hat, bleibt im Leben stabiler. Psychologen beschreiben das eleganter und sprechen von hoher oder niedriger Resilienz: Wer das richtige Werkzeug im Kopf hat, kommt vielleicht besser damit zurecht, wenn er als Kind eine Zeitlang gehänselt wird. Wer hingegen weniger eigene Ressourcen hat, wird im Leben angreifbarer. Dann nimmt einen die Scheidung der Eltern mit. Dann kann einem schon nach der Schulzeit der Auszug von zu Hause zusetzen. Dann kann der Druck während der Ausbildung oder der Stress im Beruf etwas auslösen. Ein erfahrener Psychiater sagte einmal: „Wir sind nun mal schicksalsanfällige, verletzliche Wesen. Schmerz und Verlust reißen etwas auf. Ohne stabile psychische Konstitution und ein soziales Umfeld, das Schutz gewährt, sind psychische Störungen programmiert.“ Die Ausprägungen, die diese Störungen bei den gut 700.000 Menschen haben, die in Deutschland in psychotherapeutischer Behandlung sind, sind unterschiedlich. Mancher entdeckt irgendwann im Leben eine seltsame Bindungsunfähigkeit und fängt an, sich zu wundern. Mancher plagt sich plötzlich damit, dass er in Aufzügen schwitzt und Unbehagen spürt. Meist sind es immer noch Frauen, die sich behandeln lassen. Bei Depressionen zum Beispiel stellen Frauen zwei Drittel der Behandelten. Johannes Klüsener wundert das nicht. Er sagt, dass sich psychische Belastungen im männlichen Organismus anders ausdrücken, im Körper, als psychosomatisches Phänomen, über Rückenschmerzen vielleicht. Und trotzdem ist die Botschaft die gleiche. Sie heißt, dass sich etwas ändern muss. Jeanne geht in Gedanken im Dauerlauf durch die vergangenen Jahre. „Nach der Depression in der Schule habe ich die Sportmagersucht gekriegt und mich auf 38 Kilogramm trainiert. Ich war jeden Tag vor dem Frühstück laufen, selbst bei minus 20 Grad, als sei der Teufel hinter mir her. Am Schluss habe ich gedacht: Ich möchte so lange laufen, bis ich nicht mehr existiere. Das war meine Form der Lebensverneinung. Dann bin ich esssüchtig geworden und war nahe am Übergewicht. Jetzt bin ich wieder normal. Ich wollte mit dem Sport alles ausschwitzen, die Emotionen, die Wut. Leider ist es nicht so, dass du zum Psychologen gehst und der krempelt einmal dein Leben um. Man redet in der Verhaltenstherapie darüber, was einen belastet und versucht Lösungsmöglichkeiten zu erarbeiten. Das ist aber in einer Phase, in der aus einem selbst gar nichts mehr kommt, sehr schwer. Die Therapeuten fragen immer: Was denken denn Sie, was Ihnen helfen könnte? Es sollen die eigenen Gedanken sein, die einem helfen.“ Der Weg zum Verstehen und zum Ändern der Zusammensetzung des Werkzeugkastens dauert. Wer einen Therapeuten braucht, geht meist erst zur Kassenärztlichen Vereinigung, lässt sich eine Liste mit Therapeuten geben und vereinbart Probetreffen. Eine Verhaltenstherapie zum Beispiel kann über ein Jahr hinweg 45 Sitzungen beinhalten. Eine Psychoanalyse hingegen, in der tief in die Vergangenheit des Patienten geschaut wird, um dort die Ursachen für eine Erkrankung zu finden, fordert mitunter drei Treffen pro Woche. Neben diesen beiden Therapieformen gibt es noch viele andere. Manche unken, seit Sigmund Freud Ende des 19. Jahrhunderts die moderne Psychotherapie begründete, hätten sich so viele Therapieformen entwickelt wie es Psychotherapeuten gebe. (Therapeut wird man übrigens, indem man Medizin oder Psychologie studiert und dann die dreijährige Ausbildung zum Psychotherapeuten macht. Als Psychiater bezeichnet man dagegen einen Mediziner mit psychiatrischer Facharztausbildung, der im Gegensatz zum Psychologen auch Medikamente verschreiben darf.) Maren ging erst als alles schief gelaufen war in die Psychiatrische Ambulanz einer Uniklinik. „Bis ich 15 war“, sagt sie, „haben wir im Westen Deutschlands gewohnt und sind dann wegen dem Job meines Vaters in den Süden gezogen. Das war der Schnitt. Vorher hatte ich einen tollen Freundeskreis. In der neuen Stadt wurde es ein harter Kampf, weil da lauter isolierte Grüppchen waren. Ich habe in keine reingepasst. Die Therapeuten sagen, es wäre besser gewesen, meine Eltern hätten mich bei meinen Freunden wohnen lassen. 15 ist ein schwieriges Alter. Man baut sich etwas auf und schlägt Wurzeln. So wurde ich wurzellos. Ich hatte schon Freundinnen, ja. Aber es blieb schwierig. Nach dem Abschluss bin ich als Au Pair nach Paris und als ich zurückkam, bin ich immer wieder in neue Jobs gerutscht. Ich habe als Kostümbildnerin gearbeitet oder Schaufenster dekoriert. Tagsüber habe ich funktioniert und abends war ich lost. Ich habe wieder zu Hause bei meinen Eltern gewohnt und wurde plötzlich immer trauriger. Dann fing wieder das mit der Magersucht an. Ich habe Abführtabletten genommen und dadurch mein Sozialleben zerstört. Essen gehen konnte ich nicht mehr, ich musste ja zu Hause sein, wenn die Tabletten wirkten. Dann wollte ich Stewardess werden, habe aber den Englischtest nicht bestanden und dachte: Du bist nichts wert, du kannst nichts. Ich war rastlos. Jeden Abend war ich auf Eröffnungen von Ausstellungen, auf Partys. So war ich nie alleine aber immer einsam. Ich hatte alles, Depressionen, Magersucht, traumatische Erfahrungen. Mir hat jemand sehr weh getan als ich 17 war. Aber anstatt darüber zu sprechen, habe ich immer mehr Scham und Ekel aufgebaut. Ich musste Drogen nehmen, um Sex zu ertragen. Aber wo in der Welt findest du einen Mann, der ohne Sex leben will? Ich dachte oft, dass ich gerne dumm wäre, weil man dann vielleicht weniger denkt und fühlt. Denn wenn ich sensibel bin, bin ich schlechter dran. Wenn es mir schlecht geht, ist jede Konzentration hinüber, ich kann dann oft nicht mal einen Satz in der Zeitung zu Ende lesen. Ich sitze dann unter einer Glasglocke. Darunter ist nichts. Da ist nur eine ebene, grüne Wiese. Irgendwann mit 21 Jahren bin ich in die Psychiatrische Ambulanz und habe beim Aufnahmegespräch zwei Stunden geweint.“

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Es dauert häufig Jahre, ehe sich Menschen mit psychischen Problemen Hilfe suchen. Niemand möchte gern als „mental defekt“ gelten. Viele scheuen sich vor der Auseinandersetzung mit sich selbst. Johannes Klüsener nickt und sagt, dass man in einer Therapie eben nicht nur Urlaubsfotos anschaue. Anhand einer Essstörung erklärt er, wie eine Verhaltenstherapie funktioniert. „Wir suchen gemeinsam die Hinweisreize: Welcher Reiz sorgt für den Heißhunger? Ein Hinweisreiz kann Stress sein. Ein Reiz kann aber auch in einer Auseinandersetzung mit jemand bestehen oder in einem Zustand, in den ich gerate, den ich aber radikal von jetzt auf gleich verändern will, indem ich mich vollstopfe und erbreche. Danach fühlen Sie sich komplett anders. Das ist Emotionsregulation. Das Ziel der Verhaltenstherapie ist es an dieser Stelle, eine alternative emotionale Verarbeitung zu gewinnen. Sie müssen Zeit gewinnen. Meist sind es nur kurze Episoden, in denen man sich einen Fressanfall erlaubt. Diese zehn Minuten muss man überbrücken. Durch einen Spaziergang um den Block. Durch eine kalte Dusche. Durch anderes Verhalten.“ Gilbert: Was in all der Therapiezeit mit mir geschehen ist, würde ich „positives Neuausrichten“ nennen. In meinem Kopf wurde etwas neu vernetzt. Therapie hat an der Stelle schon was Mystisches, auch wenn mein Therapeut das nicht hören will. Jeanne: Manchmal übertrage ich diese alternativen Lösungen schon ins Leben. Aber ganz soweit bin ich noch nicht. Gilbert: Es geht um ein Neubewerten von Situationen. Bei dieser Bewertung spielen die Eltern eine Rolle. Ich hatte eine unangenehme Mischung zwischen einer übervorsichtigen Mutter und einem tyrannischen Vater. Er war Alkoholiker, ein Pegeltrinker, der unzufrieden mit seinem Leben war. Trotzdem war nur das gut, was er machte. Darüber haben wir in der Therapie geredet. Jeanne: Ich habe viele Probleme aus meiner Vergangenheit aufgearbeitet. Die ersten drei Lebensjahre sind ja absolut entscheidend. Da bilden sich die Verbindungen im Gehirn und wenn die falsch gelegt werden, sind die sehr schwer zu verändern. Bei mir war der Vater in den ersten drei Jahren kaum da und ich stehe nun regelmäßig auf Männer, die fast 20 Jahre älter sind. Ich kenne viele, bei denen die Eltern der Auslöser der Probleme waren. Manche haben zu wenig Anerkennung vom Vater bekommen oder sie haben Geschwister, denen mehr Aufmerksamkeit zuteil wurde. Gilbert: Der Therapeut überließ es immer mir, das Gespräch mit dem anzufangen, was ich im Kopf hatte. Was einem in den Sinn kommt, ist vermutlich nie Zufall. Der Therapeut sagt dabei nie etwas. Er versucht nur, das Gespräch in eine gewisse Richtung zu lenken. Und plötzlich geht es in die Tiefe. Jeanne: Der Hauptnutzen der Therapie ist, dass ich immer wieder besser auf den Boden zurückgebracht werde, weil ich mich teilweise in meine Probleme eindrehe oder total abdrehe und mir Vorstellungen von meinem Leben mache, die absurd sind. Deshalb brauche ich die Therapie. Sie ist mein Netz. Ein Arzt, der ein gebrochenes Bein eingipst, kann ungefähr sagen, wann alles heil ist. Die Psyche reagiert nicht so klar auf eine Therapie. Häufig wird die Behandlung verlängert und erweitert, manchmal dauert sie Jahre. Aber es scheint sich zu lohnen. Es gibt Studien, nach denen im Schnitt mindestens zwei Drittel der Patienten mit ihren Therapien zufrieden sind. Dieser Erfolg hat immer auch mit dem Therapeuten zu tun, den man während des Probegesprächs kennenlernen darf. Wenn beide Seiten glauben, dass sie zusammenpassen, beginnt die Therapie aber nicht sofort. In der Regel wartet man drei bis sechs Monate auf einen Platz. Und wer in der Provinz wohnt, hat meist Pech: Die meisten Therapeuten leben in Ballungsgebieten. Ein Problem, das, sagt Johannes Klüsener, für viele Ärztegruppen typisch ist. Nur wenige eröffnen ihren Sitz auf dem Land. Was das bedeutet, drücken Zyniker so aus: „In der Stadt werden psychische Erkrankungen therapiert. Auf dem Land werden Psychopharmaka geschluckt.“ Aus dieser Perspektive kann einem der Satz „Immer mehr Menschen leiden unter psychischen Erkrankungen“ fast Angst machen. Ein paar Mal im Jahr hört man ihn in den Nachrichten. Zitiert wird dann meist aus den Gesundheitsreports, in denen zum Beispiel steht, dass sich die Zahl der Krankmeldungen wegen psychischer Beschwerden seit den Neunziger Jahren verdoppelt hat. Das Deutsche Studentenwerk unterhält an vielen Hochschulen Psychosoziale Beratungsstellen und berichtet, dass die Beratung so sehr nachgefragt wird wie noch nie. Die Weltgesundheitsorganisation hat angeblich nachgewiesen, dass durch psychische Krankheiten in den so genannten Industrieländern mittlerweile mehr „gesunde Jahre“ verloren gehen als durch jede andere Krankheit. Johannes Klüsener schüttelt nachdenklich den Kopf und sagt: „Ich bin immer vorsichtig mit Horrormeldungen.“ Tatsächlich kann man nicht genau sagen, ob wirklich mehr Menschen krank werden oder ob viele nur wachsamer geworden sind und deshalb häufiger als früher zum Arzt gehen. Klüsener sagt deshalb, dass man sich die Zahlen sehr genau ansehen müsse. Er kann sich vorstellen, dass die Diagnostik der bewussten Krankheiten besser geworden ist. Er glaubt aber auch, dass man manchmal genauer zwischen einer vorübergehenden psychischen Belastung und einer echten Erkrankung unterscheiden müsse, der Grat sei an dieser Stelle schmal: „Wir neigen dazu, unsere Gesellschaft kränker zu machen, als sie ist.“ Vieles ist unsicher, wenn von psychischen Erkrankungen die Rede ist. Nur zwei Dinge sind gewiss: Offenbar brauchen, unabhängig von der Diskussion über Alarmmeldungen, mehr Menschen Hilfe. Und offenbar braucht es noch viel Aufklärung, ehe eine psychische Erkrankung wie ein Beinbruch betrachtet wird. Denn die Stigmatisierung ist nicht nur ein persönliches Problem. Sie ist ein zentrales Problem nahe am Kern aller psychischen Krankheiten, die eben im Zusammenleben mit anderen auftreten. „Mir fehlt in unserer Gesellschaft der Mut, Andersartigkeit anzunehmen und sich Schwächeren zuzuwenden statt sie auszugrenzen“, sagt Jeanne und es klingt wie eine Bitte. „Das erfordert natürlich Zivilcourage. Aber die kann man nur sehr schwer haben, wenn man selbst Angst davor hat, ausgegrenzt zu werden.“ Maren erinnert sich an einen Aufenthalt in einer Klinik. „Alle Menschen dort brauchten jemanden. Ich habe sie angesehen und es war, als würde ich in den Spiegel sehen. Allen fehlte Liebe. Alle müssen lernen, sich selbst zu lieben, um dann wieder andere lieben zu können. Mir geht es heute super. Die Therapie ist um und ich bin verliebt in einen Mann, der nun zu mir gezogen ist, der mich versteht. Seine Liebe hat mich gerettet, glaube ich. Bei ihm und bei meinen Eltern muss ich mich, wenn es mir nicht gut geht, nicht verstecken. Das ist draußen, in der Gesellschaft, anders.“

Text: peter-wagner - Fotos: una.knipsolina/photocase.com

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