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Mein Hirn, so leer

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Ich mag es nicht, wenn Leute das erste Mal mein Zimmer betreten. Weil sie immer zielstrebig auf die gleiche Ecke neben meinem Schreibtisch zustreben. Obwohl ich meine Gitarre so gut wie möglich versteckt, sogar das Regal vor sie geschoben habe. Wahrscheinlich sollte ich das blöde Ding noch mit Tüchern verhüllen. Es beginnt das immergleiche Gespräch: "Wow, du spielst Gitarre, das wusste ich ja gar nicht!" - "Nein, ich konnte das mal." 

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Nach dem Ende meiner Schulzeit konnte ich so vieles. Gitarre, Klavier und Geige spielen, Französisch und Spanisch sprechen und in Geometrie ausknobeln, wie groß die einzelnen Winkel im Dreieck sind. Ich war eine Wissens-Matruschka, ein Allgemeinwissenspüppchen mit übereinandergestapelten Fachbereichen. Denn in der Schule wurde mir im 45-Minuten-Takt ein neues Lernhäppchen serviert: eine Dreiviertelstunde lang die Ringparabel von Lessings "Nathan der Weise" interpretieren, dann in Physik die Entfernung zwischen zwei Planeten ausrechnen, anschließend in Geschichte über die Auswirkung der Eisenbahn auf Wirtschaft und Gesellschaft diskutieren. 

Schule schmirgelte Wissenslücken so verlässlich weg wie Scheuermilch einen Kaffeefleck auf dem Küchenschrank.

Natürlich ging das Wissen nicht in die Tiefe, aber in die phänomenale Breite. Jetzt, drei Jahre später, ist alles weg. Einfach so. Als hätte es diese 13 Schuljahre nie gegeben, als hätte ich alles auf einer externen Festplatte gespeichert und die dann in einer Schublade verschlampt. Dabei wäre ich so gerne wieder diese allwissende Dorothea meiner Abizeit, die in jedem Moment die richtige Formel oder das richtige Instrument parat hat.

Das geht, sagt Carsten Brandenberg. Mein altes Wissen könne ich jederzeit wieder ausbuddeln. Brandenberg arbeitet als Psychometriker, in der Memory Clinic in Essen testet er die Gedächtnisleistung der Patienten. Warum sich mein Gehirn anfühlt wie ein Luftballon, aus dem man die Luft herausgelassen hat, erklärt er mit der Formel "Use it or lose it": Benutz' es oder verlier' es. 

Das Wissen und die Fertigkeiten, die wir in unserem Leben gerade nicht brauchen oder anwenden können, werden von unserem Gehirn nämlich als unwichtig bewertet und in einer Windung des Gedächtnisspeichers vergraben. Aber dort wartet das Wissen über Brandrodungswanderfeldbau (Erdkunde, fünfte Klasse) und das französische Wort für Teilchenbeschleuniger (le synchroton, Französisch, neunte Klasse) darauf, von mir wieder aufgefrischt zu werden. Und das geht auch viel schneller als beim ersten Mal lernen.

Trotzdem, alles, was ich an Schulwissen angehäuft habe, kann ich nicht wiederholen und damit reaktivieren. Ich hab' das mal großzügig überschlagen und nur die Gymnasialzeit einbezogen: Neun Jahre mal 200 Schultage mal sechs Unterrichtsstunden macht 10.800 Schulstunden. Sogar wenn ich beim Auffrischen zehnmal so schnell wäre, könnte ich neben dem, was ich ansonsten noch so tun möchte oder muss, kaum die Zeit aufbringen. Jeder Investor würde sich die Haare raufen ob dieser desaströsen Investition. 

Da in meiner Brust aber kein Taschenrechner sitzt, sondern ein Herz schlägt, kann ich mich gerade noch mit dem Gedanken anfreunden, dass ich mir die Highlights der Schulzeit herauspicke. Zum Beispiel Bremsweg-Berechnung aus der Physik (ich sehe mich schon als triumphierend-nervige Beifahrerin, die erklären kann, warum wir mehr Abstand zum vorderen Auto halten müssen). Oder eine Auffrischung meines Französisch im Spezialgebiet Backwaren, damit ich mich beim nächsten Frankreichbesuch wieder mit nasal-weltmännischem Klang nach der Füllung des Hörnchens erkundigen kann. 

Einen Trost hat der Gedächtnisforscher Carsten Brandenberg dann aber doch noch für mich: Mit meinen 22 Jahren nähere ich mich gerade erst dem Höhepunkt meiner geistigen Leistungsfähigkeit. Menschen zwischen 25 und 35 Jahren können Informationen nämlich am allerschnellsten verarbeiten. Wenn ich also schon alles vergesse - wenigstens habe ich meinen Gehirnfrühling noch vor mir.

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