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„Mein Gott, es passiert wieder“ 590743
1992 eskalierten Proteste gegen die zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber in Rostock-Lichtenhagen. Am 24. August wurde das "Sonnenblumenhaus", in dem vietnamesische Asylbewerber untergebracht waren, von rechtsradikalen Randalierern gestürmt und angezündet, mehr als 3000 Menschen sahen zu und spendeten Applaus. Die Bewohner konnten rechtzeitig fliehen. Die Ausschreitungen waren trauriger Höhepunkt einer Welle von Fremdenhass, die Anfang der Neunzigerjahre in Deutschland aufkam.
Der Spielfilm "Wir sind jung. Wir sind stark" des Regisseur Burhan Qurbani zeigt den 24. August in Lichtenhagen aus verschiedenen Perspektiven: Die Protagonisten sind die Vietnamesin Lien, die im Sonnenblumenhaus wohnt, der Politiker Martin, der mit der Situation überfordert ist, und sein Sohn Stefan, eigentlich ein ganz normaler Jugendlicher, der zu den Randalierern gehört.
"Wir sind jung. Wir sind stark" kommt am 22. Januar in die Kinos.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
jetzt.de: Die Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen sind jetzt 22 Jahre her, damals warst du elf Jahre alt. Hast du das bewusst miterlebt?
Burhan Qurbani: Ja klar, das lief ja ununterbrochen im Fernsehen. Das hat sich total eingebrannt.
Was hat das in dir ausgelöst?
Ganz normale Deutsche, die aussahen wie meine Nachbarn oder Leute, mit denen ich rumhing, haben plötzlich Menschen angegriffen, die fremd aussahen. Menschen wie mich. Da wurde mir zum ersten Mal klar: Du gehörst hier nicht richtig hin, du bist hier unwillkommen. Als ich älter wurde, habe ich begriffen, wie sehr das meinen Traum von Heimat erschüttert hat.
Hast du deshalb beschlossen, diesen Film zu machen?
Der Grund war eher, dass ich mehr erfahren wollte über Rostock-Lichtenhagen. Als ich vor ein paar Jahren angefangen habe zu recherchieren, war ich echt schockiert, weil ich so wenig Material gefunden habe.
Einige der Hauptdarsteller in deinem Film sind erst Mitte Zwanzig. Was wussten die überhaupt noch?
Wir hatten mehrere Casting-Runden. Als die Darsteller zur ersten Runde kamen, wussten sie oft gar nichts. Beim zweiten Mal haben sie gesagt: "Ich hab mir das im Internet angeguckt, ist ja krass, was damals passiert ist." Das hat uns noch mal darin bestätigt, dass wir diesen Film machen müssen. Dass da 3000 Menschen ein Haus anzünden, war eine zivile Katastrophe. Und dann Mölln, Solingen, Hoyerswerda. . . Es gab einen unglaublichen Rechtsruck in Deutschland. Und wir haben das komplett aus den Augen verloren.
Wie bist du die Recherche angegangen?
Zuerst habe ich mir einen Co-Autor gesucht, Martin Behnke, meinen Kommilitone von der Filmhochschule. Wir sind nach Rostock gefahren, haben Interviews geführt mit Leuten, die damals im Sonnenblumenhaus gewohnt haben. Dann haben wir die Politiker, die damals verantwortlich waren, angeschrieben und interviewt. Insgesamt hat es fast ein Jahr gedauert, bis wir dutzende Beteiligte, Täter und Opfer interviewt und damit genug Material hatten, um daraus unser Drehbuch zu schreiben.
Was hast du aus den Gesprächen mitgenommen?
Dass keiner richtig versteht, was damals schiefgelaufen ist. Die Polizei ist nach drei Tagen abgerückt und hat das Haus eine Stunde lang unbeschützt gelassen. In dem Moment ist die eigentliche Katastrophe losgegangen, es flogen Molotowcocktails, das Haus wurde angezündet und von Neonazis gestürmt. Man fragt sich bis heute: Was ist schief gelaufen, wer hatte Schuld?
Es gibt in deinem Film unter den Jugendlichen nur einen "richtigen" Neonazi, die anderen sind eher Mitläufer. Ist das realistisch?
Es gab auf jeden Fall überzeugte Neonazis, aber es war nicht die Mehrheit. Wir haben bei der Recherche auch mit Nazi-Aussteigern geredet, die haben gesagt: "Wir dachten, das ist die völkische Revolution." Die waren total drin, aber die meisten waren ganz "normale" Menschen. Das finde ich persönlich viel gefährlicher als Glatzen mit ihren Bomberjacken. Die kannst du identifizieren, auf die kannst du zeigen, die kannst du in eine Ecke schieben. Wir fanden es schockierend, dass ganz normale Jugendliche plötzlich etwas so Monströses machten.
Sind junge Menschen anfälliger dafür, einfach mitzulaufen, so wie die Jugendlichen in deinem Film?
Ich glaube, das hängt nicht vom Alter ab, sondern hat mit einer inneren Stabilität zu tun. In unserem Film zeigen wir Jugendliche, die verzweifelt nach Identität oder Aufmerksamkeit suchen. Die sind nicht rechtsradikal oder wirklich fremdenfeindlich, aber sie merken, dass kein Mensch sie ernst nimmt.
Das Thema Fremdenhass ist in Deutschland gerade wieder besonders aktuell. Im Dezember wurden in Mittelfranken Flüchtlingsunterkünfte angezündet.
Wir haben diesen Film nicht gemacht, weil wir Deutschland als fremdenfeindlich darstellen wollten. Was gerade in Deutschland hochschwappt, war, als wir 2010 angefangen haben, in anderen europäischen Ländern ja schon längst da. In Osteuropa, Frankreich, Schweden und Holland waren die Rechtspopulisten auf dem Vormarsch. In Deutschland hat das Thema keinen so wirklich interessiert. Erst 2011, 2012, als der NSU aufflog, haben die Leute realisiert, dass es auch hier rechte Kräfte gibt. Im Laufe der Zeit wurde das immer mehr. Was momentan in Deutschland passiert, ist einfach unfassbar.
Spielst du auf die Pegida-Demonstrationen an?
Ja, das Krasse ist doch, dass die Pegida-Leute sagen: "Wir sind das Volk". Das haben die Leute in Lichtenhagen auch gerufen. Ursprünglich war das der Slogan der Bürgerrechtsbewegung der DDR, eines Volkes, das sich befreien wollte. Jetzt nehmen die Leute dieses Motto und missbrauchen es, um ihre kleinbürgerlichen Ängste auf die Straße zu tragen. Und ich muss dann sagen: Meine Eltern kommen aus Afghanistan, aber ich bin hier geboren und aufgewachsen, ich bin einer von drei Millionen Migranten in Deutschland und ich bin auch Teil dieses Volkes. Da bin ich persönlich beleidigt und fühle mich vor den Kopf gestoßen.
Siehst du noch andere Parallelen zwischen der Situation von 1992 und der heutigen?
Pegida versteht sich als Protestbewegung und 1992 haben sie auch gesagt: "Das ist eine Protestaktion." In Rostock gingen Handzetteln rum, die zu einer "Protestaktion gegen die zentrale Aufnahmestelle für Asylsuchende in Lichtenhagen" aufgerufen haben. Außerdem gibt es noch Bilder aus Köln, als zum ersten Mal die "Hooligans gegen Salafisten" auf die Straße gingen. Am Tag darauf hatte die FAZ als Titelbild: zwei Jungs, die Arm in Arm den Polizisten den Mittelfinger gezeigt haben. Dieses Bild könnte genauso in meinem Film vorkommen. Ich habe nur gedacht "Mein Gott, es passiert wieder".
Fotos: Zorro Film/ Malik Vitthal (Porträt); zorrofilm.de