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Mein Freund, der Jude: Lieben in Tel Aviv
Damit habe ich nicht gerechnet. Gerade hat mir mein Freund Tom die Küche seines Appartements in Tel Aviv gezeigt. Mir fiel sofort der zweiflammige Herd auf: "Super, ich liebe Gas", habe ich gerufen. "Na klar, tun das nicht alle Deutschen?", erwiderte mein Freund. Tom ist Jude. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. In Momenten wie diesen merke ich, dass wir aus unterschiedlichen Welten kommen. In meiner Welt, in Deutschland, ist diese Art Witz unmöglich. Fiele dort eine lustige Anspielung auf den Holocaust, reagierten die Menschen entsetzt, genervt oder pflichtbewusst betroffen - lachen würde keiner. In Israel begegne ich zum ersten Mal in meinem Leben der entgegengesetzten Perspektive auf die Geschichte. "Wir sind die erste Generation, die Witze über den Holocaust macht", erklärt mir Tom. "Wir sind auch die Ersten, die mit den Überlebenden darüber sprechen können." Beides hängt mit dem zeitlichen Abstand zusammen: Zeit musste vergehen, damit Witze über das Thema erträglich wurden, und damit die Opfer der Nazis, die damals nach Israel geflüchtet sind, ihre Leidensgeschichten erzählen wollten. Toms Großmutter etwa floh als Achtjährige mit ihrer Familie aus Wuppertal nach Holland - wo die Nazis sie fanden, gefangennahmen und nach Theresienstadt schafften. Jahrzehntelang konnte Toms Grossmutter, längst raus aus Deutschland, mit ihren Kindern nicht darüber sprechen. Erst, als die Kinder ihrer Kinder erwachsen waren, erzählte sie der Familie die Geschichte. Von der Vergangenheit besessen Ein paar Tage nach der Szene in der Küche treffe ich sie. Ich bin sehr nervös. Toms Oma hat Satellitenfernsehen und sieht sich nachmittags gerne deutsche Gerichtsshows an. Auch mit mir spricht sie deutsch, akzentfrei. Beim Abendessen fällt mir etwas ein, was Tom über ihre Zeit in Theresienstadt erzählt hat: wie sie mit ihren Mitgefangen manchmal an lange, mit Essen beladene Tische gesetzt wurde, um Mitarbeitern des Roten Kreuz ordentliche Zustände im Lager vorzutäuschen. Keiner der halbverhungerten Gefangenen durfte das Essen anfassen. Der Kuchen in meinem Mund schmeckt nach gar nichts. Ich schaffe es nicht, sie zu fragen, ob sie mich persönlich dafür verantwortlich macht, was die Generation meiner Grosseltern angerichtet hat. Erst auf dem Nachhauseweg erzähle ich Tom von meiner Angst. Er schüttelt den Kopf. "Du spinnst. Was hat das mit dir zu tun?" Avi Primor, zwischen 1993 und 1999 Israels Botschafter in Deutschland, sagte einmal, dass er bei den Deutschen zwei unterschiedliche Haltungen gefunden habe: die einen seien nahezu besessen von der Idee, sich mit der Nazi-Vergangenheit auseinandersetzen zu müssen, die anderen seien genauso besessen von dem Gedanken, dass die Vergangenheit endlich ruhen sollte. Ich gehöre zu der Gruppe, die einen gewaltigen Schuldkomplex mit sich herumträgt. Ich erinnere mich an einen Spaziergang, den ich einmal irgendwo in Mecklenburg-Vorpommern machte. Der Weg hörte nach einer Weile einfach auf, am Ende stand eine Gedenktafel: "Im Jahr 1944 wurden an dieser Stelle 19 Menschen ermordet." Jemand hatte mit einem wasserfesten Stift ein Hakenkreuz darauf gekrizelt. Meine Schwester riss ihren Rucksack vom Rücken, kramte einen Einweg-Rasierer heraus und versuchte, das Hakenkreuz von der Platte zu kratzen. Die Rasierklinge schnitt ihre Finger auf, Blut lief über den Stein, sie weinte. Ich stand daneben und dachte: "Es geht einfach nicht weg." Mit 16 fahren fast alle jüdischen Israelis nach Polen, um ehemalige Konzentrationslager zu besichtigen. "Shopping und Holocaust" nennen Kritiker diese Reisen. Sie bemängeln, dass die Teilnehmer nicht genug lernen und zuviel Spaß an der Sache haben, weil die Schüler sich benehmen, wie man es eben auf Klassenfahrten macht: Sie stöbern durch fremde Läden, gehen aus, trinken Bier. Viele sind nur schlecht auf den Schrecken vorbereitet, der sie erwartet, wenn sie ein ehemaliges Vernichtungslager besuchen. "Wie sollen wir mit einem solchen Schock denn umgehen?", fragt Tom. "Es ist grauenvoll, aber wir können uns nicht die ganze Zeit schreiend auf dem Boden wälzen. Irgendwie muss ein Ausgleich her." Es ist der gleiche Reflex, der Toms Freunde dazu bringt, Holocaust-Witze zu reißen - es geht darum, der Schwere etwas Leichtigkeit entgegenzusetzen, damit das Entsetzen erträglich wird. In Israel führt das Holocaust-Trauma zu entgegengesetzten Meinungen, die sich politisch auswirken: "Die einen fühlen sich von aller Welt bedroht und glauben, dass Israel alles daransetzen muss, militärisch stark und hart zu werden, weil niemand uns helfen wird, wenn wir es nicht selber tun. Die anderen meinen, dass wir Juden, gerade weil wir soviel gelitten haben, ein Vorbild in Sachen Menschenliebe und Verständigung sein sollten", erklärt Tom. 43 Prozent der Juden, die in Israel leben, glauben, dass die meisten Deutschen judenfeindlich sind. Das hat die Bertelsmann-Stiftung herausgefunden. Als ich nach Israel kam, hatte ich befürchtet, dass die Menschen mich wie ein Monster behandeln würden. Aber während der drei Monate, die ich dort war, bin ich keinem einzigen Menschen begegnet, der mir dieses Gefühl gegeben hat. Eine deutsche Studentin, die ich traf, fasste es so zusammen: "Man kommt mit einem gewaltigen schlechten Gewissen in Sachen Nazis her. Dann redet man mit ein paar jungen Israelis, und sie nehmen einem den ganzen schönen Schuldkomplex einfach weg. Weil sie verstehen, dass wir nicht schuld sind, aber genau wie sie mit den Folgen umgehen müssen. Die Geschichte verbindet uns beinahe mehr, als dass sie uns trennt." Ein Freund meinte: "Seltsam - mit Israelis hat man als Deutscher sofort etwas gemeinsam: den Holocaust." Jung - mit der alten Schuld Als Tom das nächste Mal mit seiner Grossmutter spricht, stellt sich heraus, dass sie mich für gar nichts verantwortlich macht. Mehr noch, als er sie fragt, ob nur Deutsche die Nazis so mächtig werden lassen konnten, wird sie wütend. "Du kannst dir das nicht vorstellen, es waren harte Zeiten damals. Und gibt es in Israel vielleicht keine schrecklichen Morde? Was in Deutschland passiert ist, hätte überall passieren können." Es klingt verrückt, aber ich bin in Israel meinen deutschen Schuldkomplex losgeworden. Weil ich verstanden habe, dass es für jemanden in meinem Alter nicht darum gehen kann, die Schuld auf sich zu nehmen oder abzuwehren. Es geht darum, zu verhindern, dass es wieder passieren kann. Mittlerweile zucke ich kaum noch zusammen, wenn einer von Toms Freunden einen Holocaust-Witz macht. So richtig wohl fühle ich mich dabei trotzdem nicht. Um mich zu ärgern, nannte mein Freund mich statt "Theresa" neulich "Theresienstadt". Als ich sauer wurde, lachte er. "Wir sind sowas von dritte Generation", sagte er.