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"Mein Exfreund hatte einen schönen Penis"

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Einmal hat Lotte über Twitter eine Affäre kennengelernt. Sie hatte in 140 Zeichen etwas über ihre Brüste geschrieben, er antwortete darauf, sie kamen in Kontakt. Zwei Monate lang trafen sie sich. Auf Twitter, also dort, wo sie sich gefunden hatten, erfuhr niemand davon. „Ich schreibe nicht darüber, was ich mit Twitterern mache“, sagt Lotte. Dabei schreibt sie eigentlich über alles aus ihrer Intimsphäre.

Lotte, 27, die in Wirklichkeit anders heißt, aber auf Twitter den Account @peachlotte pflegt, erzählt ihren Followern von One-Night-Stands, vom Verliebtsein und Verlassenwerden, von Selbstbefriedigung, Sex und Knutschen, Partys und ihrem Job. Dabei wird sie oft emotional und genauso oft explizit. „suche jemanden, der beim duschen hinter mir steht und meine brüste einschäumt“, twittert sie. Oder: „mein exfreund kam aus weimar und hatte einen schönen penis.“

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Twitter wird in den Medien seit Jahren bejubelt: Als Echtzeit-Portal, auf dem man so schnell an Nachrichten kommt, wie nirgends sonst, wenn der US-Präsident gewählt wird, der Papst zurücktritt oder irgendwo die Erde bebt; als Instrument der Revolution, wenn Nordafrika seine Machthaber stürzt; als Ganz-nah-dran-Netzwerk, wenn ein Mann aus einem Vorort von Boston Fotos postet, auf denen das Fluchtauto des Marathon-Attentäters zu sehen ist, das zufällig vor seinem Haus parkt. Twitter kann man für Werbung oder auf Jobsuche nutzen, man kann dort berühmten Personen folgen. Was die Öffentlichkeit meist ignoriert, ist die große Masse an Menschen, die Twitter als Tagebuch und Gesprächsraum nutzt. Menschen schreiben aus ihrem Leben, machen lustige Wortspiele, geben sich bei Problemen gegenseitig Rat. Manche kommen sogar zum echten Gespräch bei sogenannten „Twitter-Treffen“ zusammen.

Hübsch, schlagfertig und selbstbewusst: Da wittern viele eine Fälschung.

In dieser Szene, weit weg von Nachrichtenflut und Eigenwerbung, gibt es eine Gruppe, zu der auch Lotte gehört. Sie hat keinen Namen, aber man könnte sie die „Twitter-Mädchen“ nennen. Es sind junge Frauen, die aus ihrem Leben berichten. Ihre Tweets drehen sich um das Erwachsenwerden, ums Studium und den ersten Job. Aber auch um das Frau-Sein, um den eigenen Körper, um Sex. Darum, dass Mädchen Pornos schauen und masturbieren, dass sie zu viel Bier trinken und mit jemand Fremdem im Bett landen.

Auffällig ist dabei, dass diese Intimitäten der Twitter-Mädchen keineswegs ungelesen in den Tiefen des Netzes verhallen wie so viel anderes Geplauder und Geschwätz in Blogs und Netzwerken. Im Gegenteil: Jedes der Twitter-Mädchen hat Followerzahlen im vierstelligen Bereich. Zum Beispiel @BubuHose (rund 2 600 Follower), @KatiKuersch (um die 5 000 Follower), @weisserzimt (etwa 3 000 Follower), @inschka (zirka 9 000 Follower) oder @inesmaedchen (etwa 6 800 Follower). Was Frauen bis vor ein paar Jahren noch höchstens im kleinen Kreis in einer Bar besprochen hätten, twittern diese Mädchen für Tausende Fremde.

Eine Art Ausnahmeerscheinung ist dabei die Nutzerin @regendelfin alias „Marie van den Benken“. Marie hat seit dem Start ihres Twitter-Accounts 2011 fast 20 000 Follower gesammelt. Weil sie mit ihrer Offenheit, ihren Wortwitzen und mit Fotos, auf denen sie eindeutig als sehr hübsche blonde Frau zu erkennen ist, so schnell so viel Erfolg hatte, kursierten bald Gerüchte: Hinter dem Account stecke eigentlich eine PR-Agentur. Oder irgendein Mann, der sich einen Spaß daraus mache, in der Rolle einer attraktiven, schlagfertigen Frau für Aufsehen zu sorgen.

Die ominöse Marie alias @regendelfin klopft mittlerweile fast nur noch Sprüche und spielt mit ihrem Image als Twitter-Star: „Ich würde ja auch Nacktbilder von mir posten, aber ich habe Angst, dass Ihr dann nie wieder schlafen könnt. Also, jedenfalls nicht mit mir.“ Aber das immer noch latente Misstrauen gegenüber ihrem Erfolg zeigt sehr deutlich: Frauen, die klug, schlagfertig, selbstbewusst, offen und noch dazu attraktiv sind, wirken auf viele leicht ungeheuer. So sehr, dass man sie für eine Fälschung hält, wenn sie im Internet auftauchen.

Doch die Twitter-Mädchen sind echte Mädchen, so echt zumindest, wie man im Internet sein kann. Zeigen sie uns vielleicht, wie sich das Selbst- und Fremdbild junger Frauen gerade wandelt? Kämpfen sie mit ihren Tweets für mehr Offenheit und Selbstbewusstsein? Machen sie den Männern womöglich eines ihrer letzten Macho-Reviere streitig: das der lauten Sex- und Potenz-Sprüche?

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



In jedem Fall geben die Accounts Einblicke in die Lebenswelt junger Frauen, die analog nicht denkbar wären. Sie haben das Netzwerk als perfekten Ort für sich und ihre Geschichten ausgemacht. Und dafür gibt es gute Gründe. Auf Facebook etwa, wo man Interessen angibt, auf Fotos verlinkt wird und häufig nicht einmal um eine „Freundschaft“ mit den eigenen Eltern herumkommt, achten die meisten auf einen gepflegten Ton und einen guten Ruf. Twitter hingegen verlangt keine Klarnamen und keine Vernetzung mit Freunden. In seiner Anonymität ist es dem Prinzip des Tagebuchs einen Schritt näher. 

Bleibt die Frage nach der Authentizität. Die Twitter-Mädchen spielen in ihren Tweets mit ihren Identitäten als junge Frauen im 21. Jahrhundert und erzählen nah an der Realität. „Manchmal spitze ich etwas zu, um es unterhaltsamer zu machen“, sagt die 25-jährige @BubuHose. „Aber 98 Prozent stimmen so.“ Kati, 21, gibt zu, dass ihr Twitter-Alias @KatiKuersch eine Kunstfigur sei, hinter der sie sich in gewisser Weise verstecke – „aber sie basiert auf mir!“

Die Twitter-Mädchen kennen sich untereinander, zwar meist nicht persönlich, aber viele von ihnen folgen sich gegenseitig. Lotte zum Beispiel weiß, dass Kati oft angefeindet wird, wenn sie sagt, dass sie Sex mag. Kati liest Lottes Tweets am Abend als Einschlafritual. „Man fiebert mit den anderen mit“, sagt sie.

Die Twitter-Mädchen sind keine organisierte Gruppe, sie pflegen nur einen ähnlichen Stil. Trotzdem wurde ihnen in dem Frage-Netzwerk „Formspring“ schon mal vorgeworfen, sie seien eine „Gang“, erinnert sich Kati. „Da hieß es, wir würden Andersdenkende ausschließen und mobben, zum Beispiel Leute die gegen Abtreibung sind oder auf monogame, heterosexuelle Beziehungen und konservative Rollenverteilung pochen. Das ist ja nicht so die klassische Einstellung der Twitter-Mädchen.“

Die eigenen Freunde? Sollen lieber nicht mitlesen. Sonst denken die, sie seien gemeint.

Dabei hat Kati nicht das Gefühl, jemanden auszuschließen. Sie schreibe einfach „frei Schnauze“. Wenn sie ihre Periode hat und davon genervt ist, dann erfahren ihre Follower das. Und wenn sie einen Sex-Gedanken hat, dann erfahren sie das auch: „Ich soll Zäpfchen nehmen. Kann ich stattdessen nicht lieber Analsex ohne Gleitgel haben?“ Auf solche Tweets gibt es nicht immer nur positive Reaktionen. „Es passiert oft, dass Mädchen, die so offen wie ich damit umgehen, als Schlampe bezeichnet werden“, sagt Kati. „Aber warum sollte ich, nur weil ich eine Vagina habe, meine Sexualität anders ausleben als jemand, der einen Penis hat?“ Dabei versteht sie sich aber nicht als Kämpferin für diesen offenen Umgang. „Wir sind einfach selbstbewusste junge Frauen, die offen mit ihrer Sexualität umgehen“, sagt sie. Als sei das draußen auf der Straße genau so.

Doch natürlich ist das Internet nicht die Straße, es ist ein Raum, der die Identität schützt. Kati ist zwar nicht ganz anonym auf Twitter. „Aber mit meinen richtigen Freunden spreche ich nicht so offen über Sex.“ Auch Lotte sagt, dass ihre Freunde ihren Twitter-Account nicht kennen. @BubuHose ist ihre Anonymität das Allerwichtigste – vor allem wegen ihres Berufs, sie ist Grundschullehrerin. „Aber auch meine Freunde sollen nicht mitlesen“, sagt sie. „Nicht, dass jemand denkt, er sei gemeint.“

Es ist also eine Offenheit unter Vorbehalt. Vielleicht, weil die Schamgrenze generell höher ist, wenn man jemandem gegenübersteht. Vielleicht aber auch, weil es für eine junge Frau doch noch nicht so einfach ist, jederzeit offen mit ihrer Sexualität umzugehen, wenn sie nicht als „Schlampe“ bezeichnet werden möchte. Eine Frau, die viele Sexualpartner hat, muss immer noch mehr um ihren Ruf fürchten als ein Mann. Und die meisten verbinden Pornokonsum und Masturbation nach wie vor mehr mit Männern als mit Frauen.

Die Twitter-Mädchen zeigen, dass sie ihre Sexualität nicht mehr verschämt hinter der der Männer verstecken wollen. Mit ihren 140-Zeichen-Nachrichten zu diesen Themen bahnt sich langsam die sexuelle Gleichberechtigung im Netz an. Wenn sie auf die Straße schwappt, hätte Twitter wieder etwas geschafft, das man bejubeln könnte.

Text: nadja-schlueter - Illustrationen: katharina-bitzl

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