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Mein erschossener Bruder
Tennessee singt ein Lied. Benedict (seine Freunde nennen ihn Ben) sitzt auf dem Fußboden seines Zimmers und lauscht der Stimme seines Bruders. Für einen Augenblick scheint es, als sei Tennessee im Raum. Die Stimme aber, die ein bisschen nach dem jungen Neil Young klingt, kommt vom Band. Tennessee Eisenberg, der Mensch hinter dieser Stimme, ist tot. Und Ben weiß noch immer nicht, was an jenem Vormittag im April geschah, an dem Tennessee starb, getroffen von mindestens zwölf Pistolenkugeln. Der 30. April 2009. Gegen elf Uhr morgens erreicht die Regensburger Polizei ein Notruf. Ein Mann gibt an, von seinem mutmaßlich suizidgefährdeten Mitbewohner Tennessee Eisenberg bedroht zu werden. Als die Polizei am Einsatzort ankommt, ist der Anrufer in ein nahe gelegenes Sonnenstudio geflüchtet. Im Hausflur treffen die Beamten auf den 24-jährigen Tennessee. Wie die Ermittler später berichten, drängt Tennessee einen der acht Polizisten mit einem Küchenmesser in die Enge. Zwei Beamte schießen sechzehn Mal, zwei Schüsse treffen Tennessee in den Rücken. Der Staatsanwalt vermutet noch am selben Tag „Notwehr“. Drei Wochen später. Ben sitzt mit Tennessees Freundin Anna am Küchentisch, vor ihm steht eine Tasse grüner Tee, durch das Fenster leuchtet die Frühlingssonne. Ben wirkt gefasst, aber müde. Die Staatsanwaltschaft hat keine neuen Erkenntnisse. Zum Mitbewohner, der die Polizei rief, ist der Kontakt seit dem 30. April gerissen und mit der Polizei gibt es keinerlei Kommunikation. „Ich glaube, dass deshalb keine Informationen herausgegeben werden, weil die Polizei genau weiß, dass sie großen Mist gebaut hat“, sagt Ben. Der 22-Jährige will nicht glauben, dass sich acht ausgebildete Beamte nur mit tödlichen Schüssen gegen seinen, wie er sagt, körperlich schwachen Bruder wehren konnten. Inzwischen hat Ben zwei der besten Regensburger Anwälte engagiert, um die Zweifel, die ihn bewegen, auszuräumen. Weil es der Familie an finanziellen Mitteln fehlt, nimmt er es in Kauf, sich dafür zu verschulden. Zwar habe es großzügige Spenden auf ein von ihm eingerichtetes Spendenkonto gegeben, doch fehle hinter dem bisher gesammelten Betrag „noch mindestens eine Null“, so Ben. Rache an den beteiligten Polizisten habe er nicht im Sinn. „Jeder ist ein Mensch, jeder macht Fehler. Aber es ist das Mindeste, sich diese Fehler einzugestehen.“ So denkt auch Anna: „Es geht uns nicht darum, die Beamten bloßzustellen. Es geht um Wahrheit und Gerechtigkeit.“
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Benedict Eisenberg
Wenige Tage später trifft das Vernehmungsprotokoll der ermittelnden Polizeibehörde ein. Bens Anwälte sprechen von widersprüchlichen Aussagen der am Einsatz beteiligten Beamten, von fehlender Koordination und Kommunikation seitens der Einsatzleitung. Weitere Erkenntnisse stehen zu diesem Zeitpunkt noch aus, darunter das toxikologische Gutachten. Es soll Aufschluss darüber geben, ob Tennessee unter Alkohol- oder Drogeneinfluss stand. Für seine Angehörigen stellt sich diese Frage nicht: „Er war ein Asket“, sagt Ben. Er habe jede Form von Suchtmitteln abgelehnt. Eine Überreaktion seines Bruders könne er sich nicht erklären, doch erinnere er sich, dass Tennessee in den Tagen vor dem 30. April irgendwie schwach gewirkt habe. Er habe über seine Zukunft nachgedacht und sei vor einem Umbruch gestanden, erzählt Ben: Tennessee (die Mutter gab ihm den Namen, weil sie den Schriftsteller Tennessee Williams so gern las) hatte sein Leben ganz auf die Musik ausgerichtet, er studierte an einer Musikschule, spielte Klavier und Gitarre, schrieb Songs. In den Wochen vor seinem Tod aber spielte er mit dem Gedanken, auf eine Schauspielschule zu wechseln. „Es gibt eben Phasen im Leben, in denen man nach unten sackt und sich zurückzieht“, sagt Ben. An eine Lebenskrise ohne Ausweg glaubt er indes nicht. „Als ich meinen Bruder gefragt habe, was er vorhat, wenn er wieder bei Kräften ist, hat er gesagt: ,Ich möchte leben‘.“
Sechs Wochen später. Auch Ben möchte leben, doch immer noch fällt es ihm schwer. Wieder sitzt er am Küchentisch bei grünem Tee, wieder grübelt er. Während er spricht ist sein Kopf gesenkt, er wirkt wie besiegt. Die ausstehenden Abiturprüfungen hat er abgesagt, seine Konzentration gilt nur mehr der Aufklärungsarbeit. Endlose Telefonate mit den Anwälten, die Reaktion auf Medienanfragen und das tägliche Gespräch mit seiner Mutter prägen Bens neuen Alltag. In dieser Phase erscheint der amtliche Obduktionsbericht. Der Fall wird rätselhafter. Während die Staatsanwaltschaft bis dahin betonte, die Polizisten hätten erst geschossen, nachdem es nicht gelungen sei, Tennessee mit Schlagstöcken und Pfefferspray zu stoppen, ergibt die Obduktion keine Hinweise auf den Einsatz von Schlagstöcken und Pfefferspray. Die Ermittlungsschwierigkeiten bleiben auch dem Bayerischen Landtag nicht verborgen: SPD und Grüne fordern, dass der Fall im Kommunalausschuss behandelt wird. Ein Abgeordneter verlangt eine Diskussion über die eingesetzte Munition. Für Ben ist das kein Trost. „Es sollte eher darüber nachgedacht werden, wie sich ein ähnlicher Einsatz in Zukunft besser koordinieren lässt“, sagt er. In der Tat deuten die verstreuten Einschusslöcher und die vielen Blutspritzer im Treppenhaus nicht auf einen reibungslosen Ablauf. „Wenn man versucht hätte, mit Worten auf Tennessee einzuwirken, statt drauf los zu ballern, dann wäre es wohl nicht so weit gekommen“, glaubt Ben.
Während Tennessees Familie die Beerdigung wegen der laufenden Ermittlungen weiter verschieben muss, fährt Ben Anfang Juni mit Freunden nach Italien um Abstand zu gewinnen. Nach der Rückkehr verpufft die Erholung. „Als ich in meine Wohnung kam, hatte ich das Gefühl, sofort wieder weg zu müssen“, erzählt er heute. Ben packt wieder seine Sachen, doch er geht nicht. Zu groß ist seine Angst, Tennessee im Stich zu lassen; zu sehr versteht er sich inzwischen als Anwalt seines Bruders. Bens gepackte Reisetasche steht noch immer in seinem Zimmer. Ein Campingkocher liegt darin, ein Schlafsack, Kleidung, eine Blechtasse.
Als sich der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) am 17. Juni im Innenausschuss des Landtags erstmals zum Fall Tennessee Eisenberg äußert, hört auch Ben zu. Mit versteinerter Miene verfolgt er das Geschehen, er trägt jetzt ein Sakko, das schwarze Hemd ist bis oben zugeknöpft. Von seinem Anwalt, der neben ihm sitzt, ist er kaum zu unterscheiden. Der Minister spricht klare Worte: „Die Art und Weise, in der der Polizeieinsatz eskalierte, ist auch für mich immer noch nicht begreifbar.“ Doch Ben scheint es nicht zu beeindrucken, dass selbst das Innenministerium von Eskalation spricht, dass der Ablauf des Polizeieinsatzes kritisch gesehen wird. Während ein Abgeordneter nach der Sitzung von „Hinrichtung“ spricht, beantwortet Ben scheinbar kühl die Fragen der anwesenden Reporter.
Ende Juni. Ben sitzt im Flur seiner Wohnung, er trägt jetzt wieder Pullover, die Hose sitzt lässig. Er lächelt, macht einen Scherz.
„Es ist irre, was der Tod mit einem anstellt“, erzählt Ben, als er über die vergangenen acht Wochen spricht. Er spricht von diesem lähmenden Pflichtgefühl, das ihn dazu brachte, über Wochen hinweg die Rolle des beherrschten Anwalts seines toten Bruders zu spielen. Er spricht von der seltsamen Gewöhnung an die Ungewissheit. Etwas in ihm scheint sich gelöst zu haben.
„Ich bin an einem Punkt angelangt, an dem ich meine Gefühle endlich zulassen kann.“ Er will die Anwälte jetzt alleine nach der Wahrheit suchen lassen. Ben hofft, dass er seinen Bruder bald beerdigen darf. Danach will er für zwei Monate in die USA gehen. Er wird dort Freunde besuchen und sich auf die Nachholprüfungen zum Abitur vorbereiten. „Ich habe verstanden, dass ich Zeit für mich selbst brauche, sonst gehe ich kaputt“, sagt er. Dann klingelt sein Handy. Einer der Anwälte. Er fragt, ob er vorbeikommen könne, es gebe Wichtiges zu besprechen. Ben blickt auf die Uhr, es ist halb zehn Uhr abends. Er gibt dem Wunsch des Anrufers nach, doch die neuerliche Besprechung wird nicht mehr Licht ins Dunkel bringen. Noch immer stehen Gutachten aus und die kriminalpolizeiliche Ermittlung dauert an.
So unklar es ist, was an diesem Vormittag in Regensburg geschah, Ben scheint heute einen Schritt weiter zu sein als noch vor zwei Monaten. „Ich konnte mir das Recht, um meinen Bruder zu trauern lange Zeit nicht eingestehen. Jetzt bin ich an einem Punkt angelangt, an dem ich es endlich kann“, sagt Ben und wirkt irgendwie erleichtert. Er hat ein kleines Stück Gewissheit gefunden. Zumindest, was seine Trauer betrifft.
Unter www.tennessee-eisenberg.de haben Ben und seine Familie eine Homepage zum Fall eingerichtet.
Text: andreas-glas - Foto: Evi Lemberger