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Mann sein - ohne Pistole im Hosenbund
Bei einem dieser Typen, die tagsüber eine Sonnenbrille tragen, wäre diese Aktion vielleicht vermessen rübergekommen. Aber der 34-jährige Soulsänger aus Charlotte, North Carolina, wirkt einfach nur entspannt. Hamilton lümmelt sich in der noblen Designer-Lounge, als ob er an einem schwülen Nachmittag zum Familientreffen auf der Veranda seines Hauses geladen hätte. All die Klischees aus dem durchschnittlichen Rhythm’n’Blues-Video – sie scheinen an seinem schlichten Baumwollanzug abzuperlen. Kein Wunder: Schließlich ist es gerade ihre Abwesenheit, auf der Anthony Hamiltons Erfolg beruht.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Sand im Stretchlimo-Getriebe „Alle wollen größer erscheinen als sie sind – aber ich bin kein Gangster. Klar, ich habe früher mit Drogen gedealt. Nur: Warum sollte ich damit hausieren gehen? Die Presse hat das groß aufgeblasen, obwohl mich das Drogengeschäft nie interessiert hat. Ich brauchte das lediglich zum Überleben“. Willkommen im schwarzen Pop der Gegenwart: wo man mit neun Kugeleinschüssen zum König des Rap ausgerufen wird. Und mehr R’n’Blues-Alben verkauft, wenn man mit einer kriminellen Vergangenheit aufwarten kann. Doch der Sänger mit dem Südstaatenakzent passt dort nicht rein, trotz Grammynominierung und Platin für sein 2003er Debüt „Comin’ From Where I’m From“: Stimmakrobatik über Hiphop-Beats? Anthony Hamiltons neues Album „Ain’t Nobody Worryin’“ kratzt und scheuert lieber an der gelackten Oberfläche des R’n’B. Streut Sand ins Getriebe der Stretchlimo- und Stripper-Fantasien. Unter seiner Musik köchelt stattdessen dieser warme Gospel-Groove, sein Gesang erinnert an den Old-School-Soul von Bill Withers oder Bobby Womack. Und klingt dabei doch frischer als all die Champagner-Parties auf MTV. „Warum sollt ich mir diesen Mist anhören?“, entfährt es Hamilton während er sich eine weitere Kartoffelecke greift und den schwülstigen „Urban“-Sound von der Stange imitiert: „,Wanna do you . . . ooh baby please . . . don’t cheat on me‘: Wenn du krank bist oder deine Kreditkarte gesperrt ist, träumst du wahrscheinlich nicht von Sex in Seidenlaken.“ Dass der R’n’'B von heute kaum noch etwas mit der Lebenswelt seiner Hörer zu tun hat – geschenkt. Soul degeneriert schon seit langem zur leicht konsumierbaren Funktionsdroge: Partypille oder Bett-Weichspüler. Doch offensichtlich ist da eine Sehnsucht nach mehr geblieben. Jedenfalls trifft Hamilton mit seiner Musik einen Nerv, der B-Boys und Gospelfans, Mütter und Möchtegern-Gangster gleichermaßen in seine Arme treibt. Er bringt es fertig, in einem Song von einer an Arbeitslosigkeit zerbrechenden Liebe zu singen, und im nächsten genauso glaubwürdig eine füllige Soulschwester anzuschmachten. Vielleicht hat der ehemalige Friseur aus North Carolina zu viel Curtis Mayfield und Sam Dees gehört, um als Shooting Star einfach die aktuellen Hitrezepte des R’n’B zu übernehmen. Vielleicht hat er Recht, wenn er sagt, er würde auf der Heimfahrt von den Grammys immer noch die Penner auf ihren Kartons schlafen sehen. Vielleicht ist Hamilton aber auch einfach zu oft enttäuscht worden, um sich auf die Fassade eines gesellschaftlich harmlos gewordenen R’n’B zu verlassen: Rhythm & Bullshit, wie er es buchstabiert. Als Anthony Hamilton bewusst wird, dass er als Drogendealer früher oder später im Grab oder Gefängnis enden wird, zieht er aus Charlotte nach New York. Und setzt alles auf seine Stimme. Tatsächlich ziert Hamiltons Gesang bald Produktionen von Technotronic bis Tupac. Die eigene Platte aber scheint weiter entfernt denn je: „Monatelang schlief ich im Auto oder der U-Bahn. Manchmal brach ich sogar nachts ins Studio ein“ Aber harte Zeiten, sagt er mit gedehntem Südstaaten-Drawl, seien eben auch gute Zeiten: „Weil dir ein Stück Popeye-Chicken wie eine Köstlichkeit vorkommt. Und du lieber mit leerem Magen singst, als deine Chance zu verpassen“. Seine Chance: Sie kam ein halbes Dutzend Mal in zehn Jahren. Doch entweder ging das Label pleite oder das Album landete im Archiv: Weil niemand an einen Markt für ihn glaubte. Zu viel Blues! Zu wenig Klingelton-Potential! In Deutschland scheint das leider noch immer zu gelten: Seine Plattenfirma mag zwar Journalisten für eine Listening Session mit Rapper XY bis nach L.A. fliegen, ein Treffen mit dem Soulsänger ist ihr aber nicht so wichtig. Nur in den USA hat es Hamilton inzwischen geschafft – nachdem er mit den Nappy Roots den Grammy für den besten Hiphop-Song gewann, und der Vater von Hitproduzent Jermaine Dupri ihn singen hörte: Warum so eine Stimme auf ein paar Gesangsschleifen für Rapper verschwenden? Wenig später beförderte ein nach erdigem Soul ausgehungertes US-Publikum Songs wie „Charlene“ in die Radio- und Video-Sender. Hamilton ging – mit Truckermütze und Rollkragenpulli – auf Tour und missionierte die Hiphop-Gemeinde. „Sie brauchten eine Zeit, um mit mir warm zu werden. Schließlich kennen sie Soul nur als Sample oder Filmsoundtrack. Und nun die volle Dosis. Aber dann haben sie es geschluckt. Wie Hühnersuppe. Ein Geschmack aus einer Zeit, als sie noch am Daumen nuckelten.“
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Musik als Asthma-Spray Schon seit den 90ern hängt der R’n’B am Tropf des Hiphop. Nicht nur die Baseball-Kappen und Baggy Pants haben die Rhythm’n’Blues-Sänger von ihren rappenden Kollegen übernommen. Sondern auch deren Macho-Posen: Da erinnern viele Videos bestenfalls an den Monolog eines masturbierenden Gangsters. Was nicht schlimm wäre - gäbe es Alternativen. Doch die sind im konservativen R’n’B-Business rar: Ist ein 50 Cent oder Usher einmal erfolgreich, werden die nächsten hundert Alben nach der gleichen Masche produziert. Anthony Hamilton wirkt in dieser Gesellschaft wie ein Relikt aus der Vergangenheit. Ein Typ, bei dem sich Männlichkeit noch auf Zärtlichkeit – und ja, Zweifel – reimt. „Viele von uns müssen das wieder lernen“, sagt der Ex-Dealer, „Mann sein – ohne Pistole im Hosenbund. Wir haben zu lange die Luft angehalten. Jetzt dürfen wir wieder ausatmen. Meine Musik liefert das Asthma-Spray“. Schließlich dienten die harten Posen doch nur dem Schutz allzu zerbrechlicher Seelen: Nach jeder Show, sagt Hamilton, bedankten sich Männer bei ihm für das Rollenbild, das er abgibt: „You’re acting like a man“. Später am Abend steht Anthony Hamilton auf der Bühne des ausverkauften Londoner Criterion Theatre. Getragen von den warmen, erdigen Grooves seines zehnköpfigen Orchesters schraubt er sich mühelos vom mürrischen Grummeln zum honigweichen Falsett. Auf die Hymne an die starken, stets von Diäten gebeutelten „Sista Big Bones“ folgt der dunkel treibenden Funk von „Preacher’s Daughter“. Hamiltons heimlicher Hit aber ist die Dancehall-Nummer „Everybody“. Den Refrain „Everybody needs some love in their life“ singen die B-Boys wie die schwarzen Paare in Abendgarderobe stehend mit. Kein Bettkantengeraune – sondern die Einforderung eines öffentlichen Rechts auf Liebe. Mittendrin: Polizeisirenen, düstere Keyboards, harte Beats. „Ain’t Nobody Worryin‘“, Hamiltons Gegenstück zu Marvin Gayes „What’s Going On“ handelt von desolaten Schulen, kaputten Familien und politischer Gleichgültigkeit. „Wir alle sehnen uns danach, perfekt, schön und selbstbewusst sein“, predigt der kleine Mann während er durch die Sitzreihen springt. „Aber wir wollen nicht zugeben, dass wir Probleme mit unserer Arbeit, Beziehungen, Alkohol oder Pornographie haben. Deshalb brauchen wir einen Freund. Jemanden, der uns hilft, das alles auszusprechen . . .“ Yes, my lord: Jemanden wie Anthony Hamilton.