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Leben im Platzmangel

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Jerome schämt sich. Er will nicht, dass man sein Gesicht erkennt und auch nicht, dass man seinen richtigen Namen in der Zeitung liest. Dabei hat der 18-Jährige eigentlich keinen Grund, sich zu schämen. Er macht gerade sein Fachabitur an einem Münchner FOS, er arbeitet in einem Bekleidungsgeschäft, schreibt Songtexte und nebenher modelt er auch noch ein bisschen. Während er all das mit einem schüchternen Lächeln und in akzentfreiem Deutsch erzählt, sitzt er in einem gerade 20 Quadratmeter großen Raum und neben ihm schaut sein kleiner Bruder Fernsehen. Vor den beiden Fenstern ragen zwei Stockbetten in die Höhe, neben der Tür steht ein kleiner Elektroherd mit zwei Platten. An den Wänden stapeln sich Kartons. Jerome schämt sich für seine Wohnung. Er lebt in einem Zimmer mit seiner Mutter, seinem 12-jährigen Bruder und seiner 7-jährigen Schwester. Eigentlich könnten sie sich eine richtige Wohnung leisten. Sie haben den Status „geduldeter Flüchtlinge“ und außerdem eine Arbeitserlaubnis. Eine eigene Wohnung nehmen dürfen sie trotzdem nicht – und das seit 13 Jahren. Unter Hartz-IV-Niveau Das liegt am so genannten bayerischen Aufnahmegesetz. Die Verordnung regelt die Leistungen und Unterbringung von Flüchtlingen und Asylbewerbern und ist im Vergleich zu anderen Bundesländern eine der strengsten. Während Asylbewerber beispielsweise in Berlin das Recht haben, sich eine eigene Wohnung zu suchen, müssen sie in München in einem Heim wohnen. Davon gibt es in Bayern 118 mit 7636 Bewohnern, die zum Teil unter katastrophalen Zuständen leben. In Zeiten der CSU-Alleinherrschaft lehnte die Regierung jeden Antrag auf Änderung der Situation ab. Doch seit einiger Zeit ist Bewegung in die Sache gekommen. „Wir hoffen, dass es bis zur Sommerpause zu einer Gesetzesänderung kommt“, sagt Alexander Thal vom Bayerischen Flüchtlingsrat. Der erste Schritt dorthin soll eine Expertenanhörung am kommenden Donnerstag sein. „Die Menschen hier leben unter Hartz-IV-Niveau, denn demnach stünde der Familie von Jerome eine Wohnung von mindestens 65 Quadratmetern zu. Letztlich sollen Flüchtlinge dazu gebracht werden, in ihr Heimatland zurückzukehren. Das ist sogar schriftlich fixiert.“ Tatsächlich findet sich in der bayerischen Asyl-Durchfürungsverordnung der Satz „Die Unterbringung soll die Bereitschaft zur Rückkehr in das Heimatland fördern.“

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Im Falle Jeromes ist das jedoch absurd. Er und seine Familie stammen aus dem Kongo. In dem Land tobt seit Jahren ein Bürgerkrieg. In den letzten zehn Jahren sind dabei etwa fünf Millionen Menschen ums Leben gekommen, was den Konflikt zum blutigsten seit dem Zweiten Weltkrieg macht. Vor 13 Jahren verließ Jerome mit seinen Eltern den Kongo. Erinnerungen an die Zeit in Afrika hat er keine mehr. Er war gerade fünf Jahre alt, als er mit seinen Eltern nach Deutschland kam. Sie blieben zwei Jahre in einer Flüchtlingsunterkunft, gingen nach England und kamen nach zwei Jahren zurück nach München in das Flüchtlingsheim in der Waldmeisterstraße. „Da mussten sich hundert Personen die Toilette teilen“, sagt Jerome. Sieben Jahre lebte die Familie dort. Das Heim ist mittlerweile geschlossen. Von Kleinkindern, die mit toten Ratten spielten und Schimmel an den Wänden war die Rede gewesen. „Hier ist es schon besser“, sagt Jerome. „Aber immer noch viel zu wenig Platz.“ Seine Stimme ist die eines Menschen, der sich widerwillig mit seinem Leben abgefunden hat und versucht, das Beste daraus zu machen. Dessen Wunsch nach mehr Platz zu einer Konstante geworden ist, einer fixen, aber doch weit entfernten Hoffnung. Das Haus in der Schwanthalerstraße zwischen den Döner-Läden und türkischen Reisebüros ist ein unscheinbarer Altbau. Nur die Satellitenschüsseln, die wie Köpfe an jedem Fenster hängen, lassen darauf schließen, dass hier Menschen leben, die nicht vollkommen hier angekommen sind. Etwa zehn Parteien wohnen auf dem Stockwerk. Im Flur raucht ein Schwarzafrikaner zwischen zwei Wäscheständern eine Zigarette und entschuldigt sich auf Französisch. Die Türen der Zimmer haben Nummern, keine Namen. Jerome wohnt in Nummer 103. Mit den anderen Bewohnern habe er kaum Kontakt, sagt er. Er verbringt so wenig Zeit wie möglich hier. Vor ihm auf einem kleinen Schemel steht sein Laptop. Auf dem Fensterbrett hinter den beiden Stockbetten stapeln sich Klopapierrollen, unter dem Fernseher steht eine Dose Nutella, eine Aldi-Tüte liegt auf einem Stuhl. Nachts wird die Couch ausgefahren und zu einem Bett für die beiden jüngeren Geschwister umfunktioniert. Kaum ein Quadratzentimeter ist ungenutzt, überall liegt, steht und stapelt sich etwas. Trotzdem sieht das Auge nur Nötiges. Das Zimmer der Familie ist gleichzeitig ein Musterbeispiel an Platznutzung. Lernen nur mit Kopfhörer Ein Stockwerk höher gibt es eine Art Gemeinschaftsraum. Aber dafür hat Jerome noch keinen Schlüssel. Um ihn zu kriegen, muss er einen Antrag stellen, der läuft gerade. Wenn Jerome für die Schule lernt, setzt er sich einen Kopfhörer auf und hört Musik. Die einzige Möglichkeit, Ruhe zu haben, sagt er. Die ganze Familie steht jeden Tag um 6:30 Uhr auf. Ausschlafen geht nicht. Auch am Wochenende, wenn er abends aus war, ist er spätestens um 9 Uhr auf den Beinen. Jerome weiß, dass sein Leben nicht ganz so normal ist wie das seiner Klassenkameraden. Kaum einer seiner Freunde weiß, wie er lebt. Seine Ex-Freundin, mit der er acht Monate zusammen war, hat er einmal das Zimmer gezeigt. Jerome zuckt mit den Schultern, als wolle er damit ausdrücken: Zu was soll das führen? Selbst wer die Atmosphäre im Heim romantisch verklären möchte, weil so viele fremde Kulturen auf engen Raum zusammenleben, dem wird es nach kurzer Zeit zu eng. Später möchte Jerome Schauspieler oder Architekt oder Model werden und außerdem möchte er irgendwann einmal nach Amerika. „Wegen der Musik, ich liebe R'n'B“, sagt er. Auch wenn ihm Deutschland eigenlich gut gefalle, verbinde er mittlerweile nur noch Probleme damit. „Manchmal wundere ich mich schon“, sagt er, „wenn ich höre, dass sich zwei Geschwister um ein Zimmer streiten, das doppelt so groß ist wie dieses.“

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