Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

Kopfnoten: Brauchen wir Zensuren fürs Benehmen?

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Seit diesem Schuljahr wird in Nordrhein-Westfalen das Arbeits- und Sozialverhalten von Schülern benotet. „Kopfnoten“ heißen die Zensuren, die eigentlich in den meisten Bundesländern abgeschafft waren und die es nun auch an meinem Gymnasium in Borken-Burlo gibt. Warum wurde eine solche Maßnahme, die einst für unnötig gehalten wurde, nun erneut eingeführt?

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Einerseits, heißt es, weil Schulen einen Lehr- und Erziehungsauftrag haben. Und weil der immer wichtiger wird, sollen die Ergebnisse dieser Erziehungsarbeit auch sichtbar werden. Andererseits pocht die Wirtschaft darauf. Arbeitgeber möchten nicht nur wissen, wie gut ein Bewerber in Mathe oder Geschichte ist, sie möchten sich auch ein Bild seiner Persönlichkeit machen. Deswegen soll die Zensur in „Arbeits- und Sozialverhalten“ sechs Bereiche zusammenfassen, die das nordrhein-westfälische Schulministerium vorgibt: Leistungsbereitschaft, Zuverlässigkeit und Sorgfalt, Selbstständigkeit, Verantwortungsbereitschaft, Konfliktverhalten und Kooperationsfähigkeit. Wie sie dieses Gesetz umsetzen, bleibt den Schulen überlassen. Und da beginnen die Probleme. Die Verwirrung ist groß, sowohl unter Schülern als auch Lehrern. Das merkt bei uns die ganze Schule: „Ich habe das Gefühl, die Regierung hat da etwas in den Raum geworfen, aber sich dann nicht weiter drum gekümmert“, sagt etwa meine Mitschülerin Ramona Bünte, 17. Auch unsere Lehrer fühlen sich mit der neuen Vorschrift alleingelassen. „Wenn man die Vergabe dieser Note wirklich ernstnimmt, ist das ein Wust von Arbeit“, erklärt Helga Baecker, meine Englischlehrerin am „Gymnasium Mariengarden“: „Hier haben mehrere Kollegen eine Arbeitsgruppe gebildet, die verschiedene Bewertungsmodelle entwickelt.“ Aber wie soll ein Lehrer das Konfliktverhalten seiner Schüler bewerten? „Das geht vielleicht in Sonderfällen wie Mobbing, aber allgemein bekommen wir davon und auch vom sonstigen Sozialverhalten nur wenig mit“, sagt Frau Baecker. Sie bemängelt außerdem, dass Lehrer gar nicht für solche Bewertungen ausgebildet seien. „Aus- und Fortbildung im pädagogisch-psychologischen Bereich wären eine wichtige Voraussetzung, finden aber kaum statt.“ Ganz andere Fragen diskutieren meine Mitschüler. Was soll das überhaupt heißen: Kooperationsfähigkeit? Dem Lehrer die Tasche hinterher tragen? Müssen wir jetzt alle supersozial werden, damit wir nicht Gefahr laufen, dass ein Lehrer uns nicht leiden kann und eine Drei statt einer Zwei vergibt? Zudem sind die Vorlieben der Lehrer verschieden. Die einen mögen Schüler, die wenig kritisieren und nicht zu Konflikten neigen, andere sind begeistert, wenn wir auch mal Kontra geben, diskutieren wollen. Um zu verhindern, dass die Kopfnoten von diesen Neigungen einseitig geprägt werden, versuchen unsere Lehrer momentan, ein faires Bewertungsmodell zu finden. Weil nicht das gesamte Kollegium über jeden Schüler diskutieren kann, sollen in der Oberstufe ein Leistungskurslehrer und der Sportlehrer des jeweiligen Schülers über die Kopfnote entscheiden. Denn der eine verbringt überdurchschnittlich viel Unterrichtszeit mit uns, während der Sportlehrer aufgrund seines Faches mehr vom Sozialverhalten mitbekommt als andere Kollegen. Die Empfehlungen der beiden sollen dann auf Listen ausgehängt werden. Die übrigen Lehrer stimmen diesen entweder zu oder machen alternative Vorschläge. Das klingt natürlich immer noch schrecklich kompliziert und aufwendig – und schafft längst nicht alle Kritik aus der Welt. „Ich sehe in diesem System einen Versuch, den Musterschüler einzuführen. Da sind die Schüler ,gut’, die ins System passen, und alle Individualität geht verloren“, sagt mein Mitschüler Julian Schmeing. „Man sollte am besten allen Schülern die gleiche Note geben und nur in besonderen Fällen nach oben oder unten abweichen“, schlägt er vor. „Besondere Fälle“ sind für Julian Schüler, die sich in AGs oder in der Schülervertretung engagieren. Meine Lehrerin Frau Baecker hält die Kopfnoten prinzipiell für eine gute Sache. Vor allem als Disziplinierungsmaßnahme. „Das wird besonders in der Mittelstufe zum Tragen kommen, wo Schüler oft ausgelacht, nicht respektiert oder gar gemobbt werden.“ Die 14-jährige Isabell Wüst aus der neunten Klasse stimmt ihr zu: „Wir haben einen in der Klasse, der baut wirklich nur Mist und die Lehrer konnten bisher nicht viel dagegen tun. Jetzt gibt es die Kopfnoten, und wenn unser Klassenclown deshalb ein bisschen ruhiger wird, ist das auch für mich gut – er sitzt nämlich genau hinter mir.“

Text: eva-schulz - Illustration: katharina-bitzl

  • teilen
  • schließen