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Kaufrausch
Den Namen des Franzosen, der sein T-Shirt designt hat, kann er weder aussprechen noch schreiben. Aber dieser Christian Audigier hat ihn schon wieder 200 Reais gekostet. Das sind etwa 65 Euro. Ein zitronengelbes T-Shirt umhüllt Evandro Farias schlaksigen Oberkörper. Darauf ist eine Hand abgebildet, die ein Mikrofon hält, verziert mit weißen und pinken Glitzersteinen. In orangefarbenen Großbuchstaben steht darunter: FREEDOM. Was ist Freiheit für dich, Evandro Farias? "Ein T-Shirt aus dem Ausland zu kaufen."
Itaquera, ein Viertel im Osten Sao Paulos, einer der ärmeren Stadtteile des Molochs. Das durchschnittliche Einkommen beträgt hier 1 058 Reais, knapp 350 Euro. Im Shoppingcenter Itaquera, einem von 155 im Staat Sao Paulo, riecht es nach Kaugummi, Schokoeis und Honigparfum. Aus den Boxen eines Elektrogeschäftes hallt 50 Cents "In da Club".
Ein Wochentag Ende Mai, 13 Uhr. Evandro Farias tippt in sein Smartphone: "Ich bin im Shoppingcenter Itaquera. Wer mich sehen und Fotos machen will, kann vorbei kommen." Dazu stellt er ein Selfie ins Internet: Die linke Schädelhälfte hat er blond gefärbt, die kurzen Haare mit Gel getrimmt. Weil er lächelt, sieht man die Zahnspange, ein buntes Band ist von einem Bracket zum anderen gespannt. 129 seiner 23 000 Follower auf Facebook gefällt das. Dort steht auch: "Evandro Farias ist in einer Beziehung mit Evandro Farias".
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
"Ist das die neue Kollektion?" Evandro, 20, kennt sich aus mit Schuhen für 300 Euro. Auf dem Foto trägt er Kleidung im Wert von drei seiner Monatsgehälter.
Vor sechs Jahren hat er angefangen, sich für Markenkleidung zu interessieren. Heute ist er 20. Er sagt, er würde gern Fernseh-Moderator werden oder Journalismus studieren. Aber er macht im Moment nichts dafür. Er lebt für die Wochenenden, die er mit seinen Freunden im Shoppingcenter verbringt. Wie Millionen anderer Brasilianer aus der Mittelschicht.
Schon lange geht Evandro Farias nicht mehr nur zum Spaß ins Shoppingcenter. Seit etwa einem Jahr sind solche Besuche für ihn zur Arbeit geworden. Youtube-Videos haben ihn zur halböffentlichen Person gemacht. Er hält sein Publikum mit den Clips über Liebeskummer und Magendarm-Erkrankungen auf dem Laufenden. 18 318 Mal wurde sein berühmtestes Video geklickt.
Jugendliche Konsumstars wie Evandro Farias kommen aus den Favelas und haben nichts gelernt. Sie sind keine bekannten Sänger oder Telenovela-Darsteller. Für Brasiliens Ober- und Mittelschicht sind sie Unbekannte. Aber in den Armenvierteln verfolgen Hunderttausende jede ihrer Aktivitäten im Internet. Weil Evandro und die anderen Shoppingwütigen aus seinem Viertel den Traum der Unterschicht leben: von oben bis unten Marken tragen. "Wir Armen kaufen uns Sachen, die wir uns eigentlich nicht leisten können", sagt er, während sein Blick zum Schaufenster schweift. Sein Parfum heißt One Million, 100 Milliliter kosten knapp 120 Euro.
Es ist ein Land, in dem gilt: Wer sich Marken leistet, kann kein schlechter Mensch sein
Neben den Restaurants im Shoppingcenter Itaquera steht ein Stand mit Havaianas-Flipflops. Evandro geht daran vorbei, ohne aufzublicken – brasilianische Marken interessieren ihn nicht. Er trägt blitzblaue Mizuno-Turnschuhe für knapp 200 Euro, darunter weiße Socken der Marke Town & Country. Zusammen mit dem Hurley-Kapuzenpullover für 130 Euro trägt er mehr als drei seiner letzten Monatsgehälter am Körper. In einem McDonald’s-Restaurant hat er 2,2 Reais pro Stunde verdient – etwa 70 Cent. Im Moment sucht er Arbeit, aber jetzt betritt er erst mal das Sportgeschäft.
"Ist das die neue Kollektion?" 1000 Reais, 300 Euro, steht auf dem Schild neben den Turnschuhen, darunter die Aufforderung: "Jetzt oder nie!" Evandro schaut genauer hin. Nein, den Schuh hat er schon gesehen. Wenn Geld keine Rolle spielte, würde er sich jetzt ein Fußballtrikot kaufen, egal von welchem Land. Evandro Farias würde auch das der deutschen Fußballmannschaft anziehen, "weil es von Adidas kommt". Was ist schon Patriotismus gegen Markentreue?
Man kann durchaus rationale Gründe finden für den Markenfetisch von Favela-Jugendlichen. Denn in einem Land wie Brasilien, in dem man weit stärker auf das äußere Erscheinungsbild Wert legt als etwa in Deutschland, erkauft man sich mit teuren Kleidern womöglich wirklich bessere Chancen. Evandro und seine Freunde aus dem Shoppingzentrum werden weniger oft von der Polizei aufgehalten, sagt er. Sie bekommen eher Jobs. In Brasilien gilt die Meinung: Wer sich teure Marken leistet, kann kein schlechter Mensch sein. "Marken verleihen uns eine Identität", sagt Evandro. "Ohne sie sind wir niemand." Fälschungen kommen für keinen der Jugendlichen in Frage.
Nicht immer wird die Liebe erwidert, manche Marken schämen sich für ihre armen Kunden, wie ein brasilianisches Meinungsforschungsinstitut herausgefunden hat. Andere nutzen die Popularität der neuen Konsumenten und statten sie mit Gratiskleidung aus. Die 15-jährige Yasmin Oliveira zum Beispiel. Sie ist der Superstar unter den Shoppingwütigen. Oliveira hat einen Manager, der sich um Presseanfragen kümmert. Evandro spricht mit Bewunderung von ihr, "sie ist sehr schön". Die meisten ihrer 406 408 Follower auf Facebook finden das auch. Wenn sie am Nachmittag den Satz "Lust, shoppen zu gehen" postet, hat sie abends mehrere Tausend Likes.
Kleidung als soziale Leiter: Man braucht dafür keine Bildung, kein Elternhaus. Nur Geld.
Ein PR-Manager für ein Mädchen aus der Favela. Es klingt absurd – doch wirtschaftlich gesehen ist es konsequent: Weil die brasilianische Unterschicht so enorm breit ist, verfügt sie über eine weit stärkere Kaufkraft als die Oberschicht. Tatsächlich hat eine der untersten Klassen der Gesellschaft, zu der Evandro Farias und seine Freunde gehören, ein größeres Einkommen als alle besser verdienenden Klassen zusammen: 129,2 Milliarden Reais im Vergleich zu 99,9 Milliarden. Und das Einkommen des ärmsten Viertels der Bevölkerung ist in den vergangenen zehn Jahren um knapp die Hälfte gewachsen – das des reichsten Viertels gerade mal um 13 Prozent.
Das hat Folgen: Menschen wie Evandro haben begonnen, etwas für sich zu beanspruchen, das nicht für sie gedacht war. Die Marken, die sie begehren, waren ursprünglich einem exklusiven Kundenstamm vorbehalten. Die Favela-Jugend hat diese Produkte zur Massenware gemacht. Für sie sind Markenkleider der am leichtesten erreichbare Zugang zu höheren Schichten. Um aufzusteigen braucht es ausnahmsweise keine Bildung, kein Elternhaus, keine Kontakte in der Gesellschaft. Es braucht nur eines: Geld.
"Wenn ich 1000 Reais verdiene, gebe ich 1500 für Klamotten aus", sagt Evandro, während er die Rolltreppe hinauffährt. Seine Mutter leiht ihm daher schon lange nichts mehr, die Bank ist großzügiger. In Brasilien stellen auch Geschäfte Zahlungsmittel aus, mit denen man in anderen Läden einkaufen kann. Sechs Kreditkarten stecken in seiner Brieftasche, zusammen ermöglichen sie ihm ein Volumen von 4000 Reais im Monat, knapp 1300 Euro. Weil er gerade nicht arbeitet, gibt er nur rund 100 bis 200 Euro monatlich für Kleidung aus. Über die genaue Höhe seiner Schulden spricht er nicht.
Aber es wirkt nicht, als würden ihn seine Finanzen besonders kümmern. Lieber verzichtet er auf vollwertige Ernährung als auf Shopping. Und die ganz teuren Designermarken aus dem Ausland gibt es im Shoppingcenter Itaquera ohnehin kaum. "Dazu müsste man schon in die Kaufhäuser der Reichen gehen", sagt er. Aber die meidet er. Dort wäre Evandro nur ein gewöhnlicher 20-Jähriger.
Der neue Trend brach im Dezember 2013 über Itaquera herein. Damals stürmen 6000 Jugendliche aus den armen Vierteln das Einkaufszentrum. Sie ziehen durch die Gänge, lachen, essen Eis. "Rolezinhos" nennen sie diese Treffen seither. Die Favela-Jugendlichen organisieren sie über Social Media, wie einen Flashmob. Im Chor singen sie Lieder, die den großen Marken huldigen: "Ich bin aus Adidas / Ich bin aus Nike / goldene Hüfte / und das Shirt ist Lacoste." Evandro Farias ist einer unter den Tausenden. Sie bleiben friedlich. Trotzdem stürmen damals Sicherheitskräfte das Shoppingzentrum, schießen Tränengas in die Menge. Die Geschäftsinhaber aus der Mittelschicht fürchten die Massen junger schwarzer Menschen von ganz unten.
Es ist inzwischen später Nachmittag im Einkaufszentrum von Itaquera. Hier, in der Nähe des Hauses seiner Mutter, kennt Evandro jedes Geschäft, zumindest von außen. Aber wohl fühlt er sich nur in den Läden, in denen er regelmäßig konsumiert. Etwa im Jeansladen im ersten Stock. Evandro greift nach einem mausgrauen Pullover der Marke Hollister. Vorher hat er das Preisschild studiert, so wie das viele beim Einkaufen tun. Nur dass er es nicht macht, weil er sparen will. "Je teurer, desto besser gefällt mir ein Stück." Warum ist teurer schöner? Evandro zuckt die Achseln. Er hat keine Antwort auf eine Frage, die er sich selbst nie stellt.
Text: barbara-bachmann - Foto: Bachmann