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"Kämpfe, kämpfe, kämpfe!"

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Ich heiße Maike und bin 21 Jahre alt. Müsste ich das Jahr 2010 mit einem Titel versehen, würde ich vielleicht das Wort „Stammzelltransplantation“ darüber schreiben. 

  2010 sollte mein Jahr werden. Ich war von zu Hause ausgezogen und kurz davor, meine Ausbildung zur Mediengestalterin abzuschließen und wollte im Wintersemester ins Studium starten. Ich wohnte in einer tollen WG, hatte einen Freund und jede Menge zu tun.

  Dass all die Pläne in wenigen Tagen in weite Ferne rücken sollten, wusste ich nicht, als ich Ende April zu meinem Hausarzt ging um meine Blutwerte kontrollieren zu lassen. Mir war seit einigen Wochen öfters schwindelig, ich war ständig müde und kam die Treppen zu meiner Wohnung im dritten Stock kaum noch hinauf. Ich dachte an Eisenmangel und ließ an einem Freitag Blutabnahme und EKG über mich ergehen.

  Am Montag darauf war mein letzter Schultag. Ich bekam mein Zeugnis und zu Hause die Nachricht, dass ich dringend meinen Hausarzt anrufen sollte. Er sagte mir, dass die Zahl der Leukozyten in meinem Blut den Normalwert um das Doppelte überstiegen habe. Am Dienstag fuhr ich mit meiner Mama zum Hämatologen. Dort stellte sich heraus, dass die Leukozyten mehr geworden waren und zum ersten Mal fiel das Wort, das mein Leben seither bestimmt: Leukämie. 

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



  Ich wurde am 27. April ins Zentralklinikum Augsburg eingewiesen. Auf der onkologischen Station machte ein Arzt eine Knochenmarkpunktion am Beckenkamm. Um 21 Uhr kam die Bestätigung, dass ich an akuter myeloischer Leukämie erkrankt war. Die Ärzte wollten noch am selben Abend mit der ersten Chemotherapie beginnen. Drei Monate lang sollte ich das Krankenhaus nicht verlassen. Ich habe nach der Diagnose nicht gleich das ganze Ausmaß erkannt. Ich weinte nicht oder fragte „Wieso ich?“ Stattdessen beschloss ich, mein Weblog in eine Art Leukämie-Tagebuch zu verwandeln, um meine Familie und Freunde auf dem Laufenden halten zu können. 
 
  Ich habe die schlechten Neuigkeiten recht gut verkraftet – auch wenn es mich tierisch ärgert, dass ich die Abschlussprüfung nicht mitschreiben kann. (29. April)
  
  Die Monate Mai bis Dezember lassen sich in drei Abschnitte unterteilen. Die Zeit auf der onkologischen Station (bis Mitte Juni), mein Aufenthalt auf der KMT-Station (KMT steht für Knochenmarktransplantation) und die Monate nach meiner Entlassung Ende Juli. Die Wochen auf der onkologischen Station waren geprägt von Chemotherapien und dem Warten auf die Ergebnisse. Nach der ersten Chemo waren noch immer kranke Zellen in meinem Knochenmark. Nach der zweiten war ich zunächst in Remission. Als jedoch einige Zeit später eine zweite Knochenmarkpunktion gemacht wurde, wurden wieder kranke Zellen nachgewiesen. Nun war klar, dass ich ohne eine Stammzelltransplantation nicht geheilt werden konnte. Zum Glück war die Suche nach einem Spender schon im Mai gestartet worden. Beinahe jeden Tag schrieb ich einen Eintrag auf meinem Blog und berichtete einer erstaunlich rasch zunehmenden Zahl von Lesern von meinem Krankenhausalltag. Am 1. Mai, meinem 21. Geburtstag, bekam ich jede Menge Glückwünsche. Als ich mir eine Perücke aussuchen durfte, bat ich um Feedback. Als ich meine Haare verlor, wurde mir Mut zugesprochen. Ich erzählte von Käfern, die sich in mein Zimmer verirrten, dessen Fenster ich nicht öffnen durfte und beklagte mich über das Krankenhausessen. 

  Zu meinem heutigen Mittagessen kann ich auch noch was sagen. Das hätte ich eigentlich fotografieren sollen, so eine Frechheit war das. Es gab „Baked Potatoes“. Das ist dann Krankenhaus-Jargon für „eine halbe Kartoffel mit Margarine und Salz“. Eine halbe Kartoffel, also bitte . . .
  
  Ich bekam viele Kommentare und dass so viele Leute mitfieberten und täglich an mich dachten, freute mich ungemein.
 
  Maike, kämpfe - kämpfe - kämpfe!!! Behalte bitte Deinen Optimismus, der jetzt ganz, ganz wichtig ist und Du wirst sehen: Du schaffst das!
    
  Am 9. Juni war ein Stammzellspender gefunden und meine Verlegung auf die KMT-Station folgte einige Tage später. Dort wurde bald mit der Vorbereitung auf die Transplantation begonnen. 
 
  Die Chemo vertrag ich leider keineswegs so gut wie die anderen drei, mir ist ständig übel, ich bin müde und hab keine Lust, irgendwas zu machen um mich abzulenken. Gott sei Dank ist heute der vorerst letzte Tag, an dem ich eine Chemo bekomme, Montag bis Mittwoch ist Pause, Donnerstag die Ganzkörperbestrahlung.
    
  Während ich die Wochen relativ fit gewesen war, ging es mir nun schlagartig schlechter. Ich schlief die meiste Zeit, hatte Schmerzen, war wie erschlagen und hörte deshalb fast ganz auf zu bloggen. Trotz schlechten Gewissens all denen gegenüber, die mich so großartig unterstützt hatten, konnte ich mich nicht aufraffen, das Notebook anzuschalten. Hin und wieder schrieb ich Einträge auf dem iPad, aber ich musste mich dazu zwingen. In dieser Zeit hörte ich auch auf zu essen und wurde wochenlang künstlich ernährt. Auf der KMT-Station gibt es Einzelzimmer, die man während der Umkehrisolation nicht verlassen darf. Besucher mussten sich Handschuhe, Mundschutz, Haube und Kittel anziehen, bevor sie das Zimmer betraten. 

  Am 29. Juni war es soweit. Nachmittags kam der Oberarzt mit meinen neuen Stammzellen in mein Zimmer. Die Transplantation passiert genauso wie eine Bluttransfusion: Die Stammzellen befinden sich in einem Beutel und gelangen über den Venenzugang in den Körper, wo sie sich im Knochenmark ansiedeln. 
 
  Die Zeit vergeht hier leider überhaupt nicht. Ich verbringe die meiste Zeit damit, auf die Uhr zu starren und zu hoffen, dass sie ein bisschen schneller tickt, was sie natürlich nicht tut. Essen kann ich im Moment auch nicht. Sobald ich was esse, liegt es mir schwer im Magen und findet dann später seinen Weg wieder nach oben. Ich werde künstlich ernährt und habe auch kein Hungergefühl oder so, aber insgesamt belastet mich die Situation gerade ungemein. Wie soll sich das alles denn von alleine wieder einpendeln? Ich kann nicht essen, mein Magen spielt verrückt, ich habe lauter kleine Wehwehchen, die irgendwie von alleine wieder weggehen sollen. Wie wird das passieren? Ich frag immer die Schwestern, ob das und das normal ist und bei den anderen genauso oder ob das nur bei mir so ist. Meistens geht’s anderen auch so und das meiste pendelt sich wohl wieder ein, wenn die eigenen Zellen nach der Transplantation wieder anfangen zu wachsen. Das dauert leider noch einige Zeit . . . Ab Tag 10 nach der Transplantation kann man damit rechnen. (3. Juli)
  

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



  In meinem Zimmer hing ein Kalender. Nach der Transplantation begann ich, jeden Tag durchzustreichen. Ich versuchte, die Zeit mit Fernsehen herumzukriegen. Ich bekam jeden Tag Besuch von meinen Eltern und meinem Freund, manchmal auch von meinen Großeltern. Andere Leute wollte ich nicht sehen. Ich sah furchtbar aus und fühlte mich auch so. Mein Blog interessierte mich nicht. Ich wollte nur noch nach Hause. 

  Am 20. Juli durfte ich nach knapp zwölf Wochen endlich in den Park und als mein Arzt sagte, ich müsse mich jetzt langsam darauf einstellen, nach Hause zu kommen, war ich glücklich. Ich versuchte wieder zu essen und tauschte die Krankenhausschlafanzüge gegen meine Kleider. Die Infusionen wurden durch Tabletten ersetzt und ich war das erste Mal seit Ende April ohne Venenzugang und Infusionsständer. Am 28. Juli durfte ich endlich nach Hause. Dort ging es mir erstmal wieder schlechter. Ich lag die ersten Wochen nur auf dem Sofa und schlief oft, konnte die Treppen nicht gut laufen, war insgesamt sehr schwach und verlor viel Gewicht. Jede Woche musste ich zur Kontrolle in die Ambulanz. Immerhin begannen meine Haare wieder zu wachsen. 

  Seit Ende Oktober kann ich wieder besser essen und auch meine Kondition ist so gut, dass ich ohne Probleme längere Spaziergänge machen oder einkaufen gehen kann. Bis auf eine Erkältung war ich nicht krank. Meine Abschlussprüfung habe ich am 7. Dezember nachgeholt. Insgesamt hatte ich großes Glück während der Erkrankung. Ich habe die Chemotherapien gut vertragen, es war bald ein Spender gefunden und es gab keine größeren Komplikationen, obwohl mir vorausgesagt wurde, dass ich mit einem entzündeten Mund, Morphiumgaben und Infektionen rechnen müsste. Das blieb mir erspart. Dass es auch ganz anders laufen kann, habe ich erst im Nachhinein so richtig mitbekommen. 

  Durch meinen Blog habe ich nun Kontakt zu einigen anderen Mädchen, die 2010 eine Stammzelltransplantation hatten. Und unglaublich viele Menschen haben sich wegen mir typisieren lassen. Sie haben mich aufgemuntert und an mich gedacht. Das hat gut getan. 

  2011 will ich meine Ausbildung abschließen, mich fürs Studium bewerben und hoffentlich einen Studienplatz bekommen. Ich will einige Freundinnen besuchen, die in anderen Städten studieren und in den Urlaub fahren. Wenn ich wieder vollends gesund bin, möchte ich mich auf jeden Fall für die Deutsche Knochenmarkspenderdatei oder eine andere Organisation engagieren. Und mein Blog, das mich das Jahr über begleitet hat, soll wieder mit anderen Themen befüllt werden. Nach der langen Krankheit gibt es genügend Dinge, die mich jetzt mehr interessieren.
  
  Maike bloggt auf cookiesandmonsters.com

Text: maike-baltner - Fotos: privat

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