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Interview: Mein ganzes Leben soll sich frei anfühlen
Du hast für deinen Debütfilm nicht nur das Buch geschrieben und Regie geführt, sondern auch die Hauptrolle gespielt. Warum? Schauspielen und Improvisieren ist für mich die Wurzel, aus der alles entspringt. Selbst beim Schreiben spiele ich die Szenen und Dialoge aus. Natürlich könnte ich andere Leute als Darsteller engagieren. Aber Schauspielen macht einfach so viel Spaß. Du spielst im Film die Videokünstlerin Christine – spielst du auch ein wenig dich selbst? Ich kann nicht behaupten, dass es ein Kraftakt war, Christine zu spielen. Sie ist nur zwei Schritte von mir entfernt. Eine Menge von mir steckt in ihr, aber das gilt für alle Figuren. Für meine Freunde ist das offensichtlich, sie erkennen mich in Robby, dem Siebenjährigen, genauso wieder wie in allen anderen. In „Ich und Du und alle, die wir kennen“spielt auch Sex eine wichtige Rolle. Zwei 14-jährige Mädchen testen an ihrem Klassenkameraden, wer besser blasen kann, und ein Siebenjähriger führt merkwürdige Cybersex-Gespräche im Internet. Sind Sex und das Erwachsenwerden heute schwieriger als früher? Ich denke, dass es durch die größere Verbreitung weniger Scham gibt. Ein schwuler Junge beispielsweise kann sich heute übers Internet mit einer Million anderer schwuler Jungs in Verbindung setzen, egal, wo sie wohnen. Es hat also etwas Gutes. Aber ich vermute, dass sich Sexualität heute für Jugendliche ziemlich anders anfühlen muss. Als ich klein war, war es eine große Sache, etwas Pornografisches zu sehen. Man dachte: Oh Gott, was habe ich gerade gesehen? Was passiert jetzt mit mir? Ich bin mir sicher, dass junge Menschen das heute die ganze Zeit tun, es ist für sie über das Internet kein Problem. Moral ist in den USA zur Zeit ein wichtiges Thema. Wie hat das amerikanische Publikum auf deine Darstellung von Sex reagiert? Im Allgemeinen lachen die Leute, sie regen sich nicht auf. Ich denke, das liegt daran, dass ihnen die Filmkritiker erlaubt haben zu fühlen, was sie wirklich fühlen. Die wichtigen MainstreamKritiker sind von Anfang an für den Film eingetreten. Wenn jemand zu Beginn gesagt hätte, das, was ich zeige, sei unangemessen und falsch, hätte sich das Publikum der Geschichte verschlossen. Es hätte in beide Richtungen gehen könne, ich hatte also ein bisschen Glück. Aber ganz ehrlich, „Ich und Du und alle, die wir kennen“ ist so ein hoffnungsvoller Film, eine öffentliche Prüderie-Debatte darüber hätte mich entsetzt. Du warst bislang vor allem als Video- und Performancekünstlerin bekannt. Warum hast du jetzt einen Kinofilm gedreht? Wie jeder andere arbeite ich auf größere Projekte hin. Ich habe Kurzgeschichten geschrieben und dadurch mehr über Erzählstrukturen und Figurenentwicklung gelernt. Es war ein sehr natürlicher Übergang. Über dich wird viel geschrieben. Aber wie du genau Künstlerin geworden bist, konnten wir nicht herausfinden. Ich bin Autodidakt, ich habe dafür keine Uni oder Kunsthochschule besucht oder so. Als ich 16 war, schrieb ich ein Theaterstück, das ich dann in einem Punkrock-Club aufgeführt habe. Ein Theaterstück in einem PunkrockClub? Ja, so hat es angefangen. Danach schrieb ich mehrere Theaterstücke, ging kurz aufs College, habe das aber abgebrochen, weil ich mir wirklich sicher war, was ich eigentlich machen wollte: Performances und Filme. Alles habe ich allein gelernt. Ich hatte keine Lehrer oder so etwas. Nicht jeder kann von sich behaupten, schon immer genau gewusst zu haben, was er machen will . . . Mein ganzes Leben soll sich sehr frei anfühlen und ich will viele Menschen erreichen. Für mich ist es das beste Gefühl auf der Welt, wenn jemand versteht, was ich sagen will. Es ist toll, wenn ich bei einer Performance oder in einem Film spüre, dass das Publikum die Gefühle zurückgibt. Wir streben alle immer zu dem, was uns Sicherheit verleiht. Für manche wäre mein freies Leben sicher ein Alptraum. Aber was diesen Menschen Sicherheit gibt, würde mich nervös machen. In einem normaleren Job würde ich mich recht verloren fühlen. Auf deiner Website learningtoloveyoumore.com stellst du den Besuchern kreative Aufgaben. Zum Beispiel sollen sie ein Foto machen, das zeigt, wie es unter ihrem Bett aussieht oder wie sich ihre Eltern küssen. Wie wichtig ist dir die direkte Verbindung zum Publikum? In meiner Vorstellung besteht das Publikum aus vielen anderen Künstlern. Aus Menschen, die nach Hause gehen und auf irgendeine Weise etwas schaffen. Learningtoloveyoumore.com ist ein sehr direkter Zugang zu diesem Gedanken. Demnächst wollen wir ein Buch mit den schönsten Arbeiten aus diesem Projekt herausbringen. Was für weitere Pläne hast du? Ich beende gerade ein Buch mit Kurzgeschichten und ich arbeite an einer großen Performance. Also kein Film? Doch schon, ich mache bestimmt weiter Filme. Ich muss nur abwechseln. Mit meinen anderen Projekte kann ich ein vollständigeres Bild von dem schaffen, was mich tatsächlich interessiert. Für mich ist es wichtig, nicht den Erwartungen zu folgen. Sie fühlen sich einfach zu beschränkt an. Die Leute aus dem Filmgeschäft wären begeistert, wenn ich einen kostspieligeren und sogar noch populäreren Film drehen würde. Unterstützen deine Eltern deine Arbeit? Als ich jünger war, war es schwieriger. Sie waren sehr unglücklich, als ich das College verlassen habe, um Kunst zu machen. Deshalb war „Ich und Du und alle, die wir kennen“ wirklich toll. Endlich denken sie „Okay, sie wird zurecht kommen, sie wird davon leben können“. Und sie sind wirklich stolz. Der Film hat sie begeistert, denn vorher wussten sie nicht so Recht Bescheid über das, was ich mache. Als der Film in die Kinos kam, sprachen all ihre Freunde darüber. Das war eine große Überraschung für sie. Mein Vater meinte sogar: „Wir haben gar nichts gemacht und plötzlich werden wir die ganze Zeit dafür gelobt, dass wir so tolle Eltern sind.“ Dieses Interview erscheint auf der in dieser Woche am Dienstag erscheinenden jetzt.de-Seite in der Süddeutschen Zeitung (Seite 17)