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Immer in der Minderheit
jetzt.muenchen: Im November feiert „Jung und Jüdisch“ in Deutschland seinen fünften Geburtstag. Wie kam es dazu, dass ihr in München einen Ableger gegründet habt? Naemi: Vor vier Jahren fand eines der bundesweiten Treffen in der liberalen Gemeinde in München statt. Ich dachte bis dahin, in unserer Gemeinde seien vor allem Familien mit kleinen Kindern, aber kaum jemand in unserem Alter. Bei dem Treffen stellten wir fest, dass das nicht stimmt und begannen, uns regelmäßig zu verabreden. Das war eine große Bereicherung für mich. Plötzlich habe ich über Themen gesprochen, über die ich vorher nie geredet habe. Bis dahin hatte ich keine jüdischen Freunde und dachte auch immer, ich brauche das nicht. jetzt.muenchen: Was für Themen ? Wenn in der Schule über den Holocaust geredet wurde, habe ich mich einsam gefühlt. Mit der eigenen Familiengeschichte steht man immer auf der anderen Seite. Meine Großeltern waren in Auschwitz. Viele ihrer Familienangehörigen sind dort umgekommen, nur einige haben überlebt. Wenn in Kinderbüchern von einem kleinen Jungen im KZ die Rede war, habe ich mir den Cousin meines Vaters vorgestellt, der mit dreizehn vergast wurde. Ich habe nie erzählt, dass das Thema Nationalsozialismus für mich der Horror war. Wenn ich das gesagt hätte, hätte ich damit mein Anderssein noch mehr betont.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
jetzt.muenchen: Fühlst du dich denn ausgegrenzt? Obwohl ich mich als Deutsche fühle, merke ich gelegentlich, dass ich nicht richtig dazugehöre. Ich habe mich als Jüdin schon immer einer Minderheit zugehörig gefühlt. Manchmal hab ich das Gefühl, meine nichtjüdischen Freunde verstehen das nicht, weil ihnen meine Erfahrungen fehlen. An jüdischen Feiertagen musste ich mir schulfrei nehmen. Dann läuft man hübsch angezogen durch die Stadt und fragt sich, was die anderen über einen denken. Gerade als Kind will man ja nicht auffallen. Wenn die Leute meinen Namen hören, fragen sie verwundert, wo er herkommt und stellen teilweise erstaunt fest, dass ich gar nicht jüdisch aussehe. Erst als ich über solche Sachen reden konnte, habe ich gemerkt, dass ich das davor vermisst hatte. jetzt.muenchen: Wirst du mit antisemitischen Vorurteilen konfrontiert? Manchmal höre ich Sprüche, die nicht antisemitisch gemeint sind, hinter denen aber ein antisemitisches Bild steckt. Beim Thema Geld passiert das zum Beispiel. Das verletzt einen dann doch. In Zusammenhang mit Israel kommt es auch manchmal vor, aber wesentlich subtiler. Bei „Jung und Jüdisch“ kann ich genau darüber sprechen: wie erlebe ich solche Situationen, wie soll ich mich verhalten oder bin ich vielleicht zu empfindlich? Das kann ich mit Nichtjuden nicht besprechen. jetzt.muenchen: Wenn du jemanden kennen lernst, erzählst du dann, dass du jüdisch bist? Ich sage recht schnell, dass ich jüdisch bin, da es ein wichtiger Teil von mir ist. Außerdem ist es auch mein Schutz. Je offensiver man damit umgeht, desto weniger blöde Sprüche bekommt man mit. Ich trage auch, seit ich klein bin, eine Kette mit Davidstern. Nur wenn ein Typ mit Glatze in die S-Bahn einsteigt und ich mir unsicher bin, merke ich, dass ich die Kette verstecke. Aber ich bin noch nie darauf angesprochen worden. Auch auf die Mesusa, die an der Wohnungstür meiner Schwester und mir hängt, sind wir nur einmal angesprochen worden. Das ist eine kleine Metall- oder Glasrolle, in der das Schma Israel liegt, also das wichtigste jüdische Gebet, das die Wohnung beschützen soll. Wir dachten, sie fällt niemandem auf. Auf einer Party im Haus erzählte uns eine Nachbarin aber, ihr Sohn habe gerade Judentum in der Schule und sie habe sich schon überlegt, ihn mal zu uns rüber zu schicken. jetzt.muenchen: Abgesehen von der Mesusa: Sieht man, dass man in einem jüdischen Haus ist, wenn man dich besucht? Bei uns sieht man das genauso wie bei meinen Eltern. Im Wohnzimmer stehen jüdische Gegenstände wie Kerzenleuchter, die wir zur Bat Mitzwa, der Feier zur Religionsmündigkeit und Aufnahme in die Gemeinde, geschenkt bekommen haben. Wir haben auch jeder eine Bibel auf hebräisch, eine Thora, Kommentare zur Thora, sogar eine bestimmte Kerze und einen Duft für die Hawdala. Das ist eine Zeremonie, die man zum Ende der Woche durchführt, damit die nächste gut anfängt. Außerdem haben wir zwei Israelfahnen in der Wohnung, eine hängt sogar über dem Fernseher. jetzt.muenchen: Bist du religiös erzogen worden? Ich bin in Gräfelfing aufgewachsen und habe dort einen katholischen Kindergarten besucht. Als wir in die Schule kamen, sind wir einmal in der Woche in der Israelitischen Kultusgemeinde in den Religionsunterricht. Aber nur zwei Jahre, weil es meinen Eltern nicht gefallen hat, wie und was dort unterrichtet wurde. Man musste zum Beispiel auf hebräisch nach Stoppuhr lesen. Schnelles Beten ist wichtig für Orthodoxe, weil im Gottesdienst alles auf Hebräisch stattfindet. Aber was die Bedeutung der Gebete ist, haben wir nicht gelernt. Das fanden meine Eltern nicht gut und haben uns deshalb, bis die liberale Gemeinde in München gegründet wurde, selbst unterrichtet. Es war ihnen wichtig, uns Wissen über das Judentum zu vermitteln. Wir sind nur nicht oft in die Synagoge gegangen, weil sich unsere Eltern dort nicht wohl gefühlt haben. jetzt.muenchen: Warum nicht? Das orthodoxe Judentum der Israelitischen Kultusgemeinde war nicht ihre religiöse Heimat. Es war nicht das Judentum und die Art von Gottesdienst, die sie kannten. Mein Vater kommt ursprünglich aus Tschechien und floh 1968 während des Prager Frühlings vor den Kommunisten nach Deutschland. Seine Familie praktizierte ein liberales Judentum. Deshalb hat er mit rund 60 Gleichgesinnten 1995 die liberale Gemeinde „Beth Shalom“ in München gegründet. jetzt.muenchen: Was sind die Unterschiede zwischen orthodoxem und liberalen Judentum? Vor allem der Gottesdienst unterscheidet sich: In der liberalen Gemeinde beten wir neben Hebräisch auch auf deutsch. Da ich hebräisch zwar lesen kann, aber nicht verstehe, finde ich das wichtig. Das liberale Judentum möchte Tradition mit Moderne verbinden. Wir sagen nicht, so steht das in der Thora und deshalb wird es so gemacht. Wir überlegen, ob die Gebote mit der heutigen Welt noch vereinbar sind. Am Wichtigsten ist mir aber, dass ich als Frau eine aktive Rolle haben kann, was bei der Orthodoxie nicht geht. In der Synagoge in der Reichenbachstraße sitzen die Frauen auf der Empore, in anderen Synagogen oft hinter einem Vorhang. Bei uns sitzt die ganze Familie zusammen und ich kann genauso zur Thora gerufen werden wie ein männliches Gemeindemitglied. Wenn ich einmal aus München weggehen sollte, würde ich versuchen, in eine Stadt mit liberaler Gemeinde zu ziehen.