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Henry und die Drogenhändler
Henry Bustamantes Stärke sind sicher nicht Buchstaben und Zahlen. Wenn man ihn fragt, was er die vergangenen vier Jahre gemacht hat, kommt es einem trotzdem so vor: AK-47, 7.62 mm, M16, ein Revolver .38 und zwei Granaten. Mehr als vier Jahre war Henry bei den Bacrim, bei einer schwer bewaffneten, kriminellen Bande in Kolumbien. Ob er schreiben und rechnen konnte, war ziemlich egal, Hauptsache er konnte schießen. Und wenn Henry heute der Reihe nach die von ihm benutzen Waffentypen aufsagt, tut er das auch, um zu zeigen, wie gut er in dem war, was seine Auftraggeber von ihm forderten. Henry war ein loyaler Kämpfer, und dass seine Bewaffnung mit jedem neuen Befehl besser wurde, bedeutete, dass seine Bosse das ganz genau so sahen.
„Als ich in die Bande eingetreten bin, waren wir 100 Mann“, sagt Henry. Er fröstelt. Der kühle Nieselregen, der Wind, die Höhenluft: Henry ist erst seit zwei Monaten in Bogotá und hat sich noch nicht wirklich an das Klima gewöhnt. Er zieht sich seinen Pullover über die vernarbten Arme: „Nach zwei Monaten Training waren noch 36 am Leben.“ Die Überlebenden bildeten dann eine eigene Kompanie – mehr als die Hälfte war unter 18 und Henry Bustamante einer der jüngsten. Schon mit 14 heuert er bei einer der Bacrim im Bundesstaat Santander im Nordosten Kolumbiens an. Seine Mutter hatte er nie kennengelernt, sein Vater schlägt ihn. Deshalb reißt Henry aus. Nach wenigen, schrecklichen Monaten voll Hunger auf der Straße schließt er sich den Bacrim an, die ihm Kleidung, Essen und ein Einstiegsgehalt von 500 000 Pesos anbieten, etwa 200 Euro im Monat. Zwei Monate Ausbildung, danach schickt ihn sein Kommandant in den 700 Kilometer entfernten Dschungel im schwülheißen Departamento del Meta. Henry soll dort die Drogengeschäfte der Bande vor dem Militär und der Guerilla schützen.
Die Bacrim sind oft landesweit vernetzte Verbrecherbanden. Sie sind die Nachfolgerorganisationen der kolumbianischen Paramilitärs, straff organisierte, quasi-militärische Einheiten, die auch im kolumbianischen Drogengeschäft mitmischen. Genauso wie die Guerilla, auf die Henry im Meta trifft. „Wenn wir Guerilleros gefangen genommen haben, haben wir sie gefesselt und sie mussten sich in einer Reihe hinknien“, erzählt er. Jedem Neuen in der Bande wurden dann eine Machete in die Hand gedrückt. Henry musste sich hinter einen Gefangenen stellen. „Und dann ging es von einer Seite zur anderen“, sagt Henry und macht: „Fffft!“
Henry ist damals 15. Danach steigt er schnell auf: Er arbeitet als Patrullero, als Beobachter und Bote, später als Sabanero, eine Art bewaffneter Motorradkurier, hat er sogar ein eigenes Motorrad. Immer wieder kommt es zu Kämpfen, Racheaktionen und langen Feuergefechten. Wie viele Menschen Henry in den vier Jahren getötet hat, kann er nicht sagen.
Heute kämpft Henry mit Buchstaben und Zahlen. Er ist 18 und wieder in der Schule. Henry fängt da an, wo er vor vier Jahren aufgehört hat: in der achten Klasse. Vor zwei Monaten ist er aus dem Dschungel im Meta in die Hauptstadt Bogotá geflüchtet. Die Nächte auf 2 900 Metern Höhe sind viel kälter als im Dschungel. Eine warme Jacke hat Henry noch nicht, deshalb friert er oft. Dafür hat er ein Bett in der Kinderstiftung Benposta – zusammen mit 120 anderen Jugendlichen, die auch bedroht wurden oder nicht bei ihren Familien wohnen können. Henry hat keine Familie. Und kein Geld.
„Ich bin mit 25 000 Millionen Pesos rausgegangen“, sagt Henry über seinen Abschied von der Bande. Stolz klingt er dabei nicht, obwohl die umgerechnet 10 000 Euro ziemlich viel Geld sind in Kolumbien. Henry verprasste es in wenigen Wochen: für Essen, Alkohol, Zigaretten und Prostituierte. Danach fing er an, auf dem Bau zu arbeiten, bis ihn sein ehemaliger Kommandeur fand. Wir brauchen dich, hat der gesagt. Die Armee oder die Guerilla hat wohl einmal zu oft gegen meine ehemaligen Kameraden gewonnen, hat Henry gedacht. Jetzt brauchen sie Leute. Gesagt hat er: „Klar, lass mich noch schnell meine Sachen holen. In einer Stunde treffen wir uns.“ Und dann ist er abgehauen.
In dem Kinderdorf von Benposta am Stadtrand von Bogotá bekommt Henry zu essen. Wenn Geld da ist, kauft ihm die Stiftung auch Klamotten. Für Taschengeld reicht es nie. Früher hat Henry gut verdient: acht Millionen Pesos, mehr als 3000 Euro im Monat. Selbst wenn er es nach der Schule an eine Universität schafft, wird es schwierig, jemals wieder so viel zu verdienen wie im Drogengeschäft.
Mehr als eine Stunde mit dem Bus von Henrys neuem Wohnort, im Zentrum der Stadt, denkt Ariel Avila über die Frage nach, wie viel Geld die Narcos, die Drogenhändler in Kolumbien, wohl pro Jahr umsetzen. Zehn Milliarden Dollar pro Jahr, die Zahl von der die Regierung ausgeht, sei wohl recht niedrig, sagt er. Avila ist 28, ein smarter, aufstrebender Referent mit eigenem Büro. Viel Zeit hat er nicht, gleich kommt noch ein Kamerateam für die Abendnachrichten vorbei. Avila bearbeitet den wichtigen Bereich „Organisierte Kriminalität“ bei der Denkfabrik Nuevo Arco Iris, die sich seit 1994 für den Frieden im Land einsetzt. „Das Drogengeschäft ist demokratischer geworden“, sagt Avila. Früher hätten die Kartelle bestimmt, wer mitmischen durfte. Als die großen Bosse dann weg waren, konnte jeder sein Glück versuchen. „Und die Menschen versuchten es in Scharen.“ Avila schätzt, dass der Narcotráfico heute nicht weniger Macht habe als zur Zeit der großen Kartelle in den 90er Jahren. Er sei nur weniger sichtbar geworden. Anstatt großer, hierarchischer Strukturen dominieren heute kleine Netzwerke. „Traqueteo“ nennt Avila die Miniatur-Nachfolger der bekannten Bosse wie Escobar und der Ochoa-Brüder.
Ein Traqueteo ist ein Drogenhändler mit zwei, drei Bodyguards. „Der kann sich vielleicht ein oder zwei Liebhaberinnen und ein paar Autos leisten, aber er hat nicht so viel Geld, wie die großen Narcos früher“, sagt Avila. Und trotzdem haben die Traqueteos etwas geschafft, was die Kartelle nicht erreichten: Sie haben die kolumbianische Gesellschaft tiefer und tiefer durchdrungen. Sie seien deshalb schwerer zu fassen, sagt Avila, weil sie ihre Geschäfte abwickeln können, ohne Aufsehen zu erregen. Die Gewalt, auf die der Staat gegen Escobar noch gesetzt hat, sei heute deshalb wirkungslos.
Juan Manuel Santos, der Präsident Kolumbiens und damit auch der Staatschef des Landes mit der weltweit größten Produktion an Kokain, hat das anscheinend eingesehen. „Trotz unserer größten Bemühungen müssen wir heute doch eines zugeben: Der Handel mit illegalen Drogen geht weiter“, hat Santos vor Kurzem den versammelten Präsidenten des amerikanischen Kontinents gesagt. Eine Idee wäre, Drogen zu legalisieren – doch im Moment wird das nur in Bezug auf Marihuana diskutiert. Im Kampf gegen das weitaus lukrativere Exportgut Kokain setzt Kolumbien immer noch auf Gewalt.
Durch Henry Bustamantes dünne Hände sind über die Jahre viele Kilo Kokain gegangen, probiert hat er es nie. Dafür hat er umso öfter mitbekommen, wie brutal die Regierung die Drogenhändler bekämpft. Bei einem Überfall des Militärs auf das Versteck seiner Band hatte er nur wenige Minuten, um sein Gewehr zu packen und zu fliehen. Bevor die Soldaten ankamen, war das Lager leer. Das sei die Strategie der Banden, sagt Henry: Wer gegen das Militär kämpft, verliert. „Die haben Flugzeuge, da haben wir uns lieber versteckt.“
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Mittlerweile ist das auch die Überlebensstrategie von Henry. Er versteckt sich hinter Menschen, unter den acht Millionen Einwohnern Bogotás versucht er nicht aufzufallen. Henry sitzt neben dem Schulgebäude der Kinderstiftung. Nebenan probt die Musikgruppe, unter ihm liegt Bogotá in der Abendsonne. Das ist Henrys neues Leben. Von seinem alten sind ihm nur Erinnerungen und ein Tattoo geblieben.
Sein Freund Chorro hat ihm während der gemeinsamen Zeit bei der Bacrim einen Hund auf den rechten Arm gestochen. Die schwarze und rote Tinte ist bis heute nicht verlaufen. „Es ist ein großer, böser Hund, der mich beschützen soll, egal wo ich bin“, sagt Henry. Seine Finger streichen über den krakeligen Schriftzug, den Chorro über den Rücken des Beschützerhundes tätowiert hat. „Evil Hall“ steht da. Was es heißt, weiß Henry bis heute nicht. Aber: In der Schule will er es jetzt endlich lernen.
Text: florian-meyer-hawranek - Fotos: Florian Meyer-Hawranek