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"Händeschütteln ist immer eklig"
jetzt.de: Du bist Asperger-Autistin und entwickelst "N#mmer", ein Magazin für Autisten und ADHS-ler. Warum?
Denise Linke: Magazine schaffen Normalität, sie sind Freunde. Menschen mit Autismus und ADHS haben Probleme, Freundschaften zu knüpfen und zu pflegen, für uns ist es umso wichtiger, dass wir ein Magazin haben. Außerdem will ich Vorurteile abbauen. Etwa, dass wir superintelligent oder gewaltbereit seien.
Viele Autisten bloggen, um sich zu erklären.
Nur werden die Blogs hauptsächlich von Menschen gefunden, die sich ohnehin mit dem Thema befassen. Ich will mit meinem Magazin nicht nur Autisten, ADHS-ler und ihr Umfeld erreichen. Sondern auch "Astronauten", die überhaupt nichts damit zu tun haben.
"Astronauten"?
Damit sind die Menschen gemeint, die weder Autisten noch ADHS-ler sind und uns "auf unserem Planeten" besuchen. Eine Anspielung auf dieses "Autisten leben in ihrer eigenen Welt"-Getue. So ein Satz steht in jedem Artikel zum Thema.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Per Crowdfunding sammelt Denise derzeit Geld für die erste Ausgabe von "N#mmer".
Was haben Autisten und ADHS-ler eigentlich gemeinsam?
Beides sind Entwicklungsstörungen, die ziemlich nah beieinander liegen, sie werden auch oft zusammen diagnostiziert. Ich habe viele ADHS-ler in meinem Freundeskreis. Irgendwann habe ich festgestellt, dass das auch daran liegt, dass wir ähnlich gestrickt sind, zum Beispiel in unserer Wahrnehmung.
Wie meinst du das?
Bei vielen Reizen auf einmal können wir uns nicht konzentrieren. Wenn uns etwas begeistert, kriegen wir den Superfokus.
Werden die Artikel anders aussehen als in anderen Magazinen?
Sie sind jedenfalls nicht kürzer. Autisten und ADHS-ler haben nur ein Problem sich zu konzentrieren, wenn uns etwas nicht interessiert. Deshalb bekommen Themen, die spannend sind, mehr Seiten im Magazin, wie in jedem anderen auch.
Um welche Themen wird es gehen?
Im ersten Heft um Liebe. Es dreht sich um Beziehungen, um Eltern-Kind-Liebe. Wie jemand gelernt hat, sich nach seiner Diagnose wieder selbst zu lieben. Daneben geht es um aktuelle Themen. Zum Beispiel BDSM . . .
. . . du meinst Fesselspiele und Sado-Maso?
Es gibt Studien, die zeigen, dass BDSM bei Autisten und ADHS-lern häufiger praktiziert wird als in der breiten Bevölkerung.
Warum?
Ich vermute, weil es dabei klare Ansagen gibt. Da passiert nicht einfach irgendwas, sondern man weiß genau, was. Und es sind nicht diese leichten Berührungen, die vor allem für Autisten oft unangenehm sind, sondern greifbare, härtere Berührungen. Die Themen im Heft sind normale Themen, nur der Blick auf sie ist anders. So wie unser Blick auf die Welt anders ist.
Wie ist dein Blick auf die Welt?
Nach dem, was mir andere erzählen, nehme ich die Welt ungefilterter wahr: die Musik im Café, das Gespräch am Nebentisch, das Auto, das vor dem Fenster vorbeifährt, den Vogel, der auf dem Baum sitzt – und zwar genauso intensiv wie das Gespräch, das ich gerade führe.
Dann ist die Welt besonders laut für dich?
Extrem laut und extrem hell. Ich stelle mir immer vor, wenn es für alle so laut wäre wie für mich, dann gäbe es wahrscheinlich keine Cafés und keine Clubs. Meine Sinne vermischen sich: Wenn es sehr hell ist, ist es für mich gleichzeitig sehr laut. Auch wenn es leicht bewölkt ist, trage ich eine Sonnenbrille.
Wie ist es, wenn du unter Leuten bist?
Ich muss mich extrem konzentrieren. Was andere einfach so können, musste ich lernen und immer noch bewusst tun, zum Beispiel meine Mimik kontrollieren. Ich muss mich auf mein eigenes Gesicht konzentrieren, darauf, wie der andere guckt, welcher Muskel im Gesicht sich wie bewegt, um überhaupt etwas zu verstehen. Und dann soll ich ja auch noch zuhören. Normal nimmt man das große Ganze wahr und die Details nicht. Bei mir ist es andersherum. Ich verstehe zum Glück in ungefähr der Hälfte der Fälle Ironie und Sarkasmus. Aber ich muss immer noch kurz darüber nachdenken, ob etwas so gemeint ist, wie es gesagt wurde.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Das vorläufige Cover der ersten Ausgabe.
Wie nimmst du Berührungen wahr?
Umarmen finde ich okay bei Menschen, die ich mag. Handgeben finde ich immer eklig. Hände sind oft schwitzig. Bei einer Umarmung merke ich das nicht, weil da Stoff dazwischen ist. Was auf meiner Haut ist, nehme ich sehr intensiv wahr. Viele Stoffe kann ich nicht tragen. Aber das ist bei jedem anders.
Im Moment bist du wegen deines Projekts viel unter Menschen. Wie gehst du damit um?
Ich habe mir leider nach dem Abitur angewöhnt zu rauchen. Es ist viel einfacher, mich aus einer sozialen Interaktion rauszuziehen, wenn ich sage, ich gehe eine rauchen. Ich würde gerne sagen, dass ich fünf Minuten rausgehe, um mich zu sammeln, danach geht’s wieder. Aber dann denken die Leute: Was hat die denn?
Du bekamst deine erste Asperger-Diagnose 2011 in Kalifornien, eine zweite im Jahr darauf in Berlin. Wie bist du darauf gekommen, dich testen zu lassen?
Ich war in den USA und wohnte mit ungefähr 40 Leuten in einem großen Haus. Als einmal vor dem Haus ein Krankenwagen mit Sirene vorbeifuhr, hielten mein Mitbewohner David und ich uns beide die Ohren zu. David fragte mich dann, wann ich meine Diagnose bekommen hätte. Ich hatte keine Ahnung, was er meint, bis er erzählt hat, dass er Asperger hat. Ich ließ mich dort testen, zurück in Deutschland ging ich noch einmal zu einer Psychologin. Beide Tests waren positiv.
Wie läuft so ein Test ab?
In jeder größeren Stadt gibt es Psychologen, die testen, manche allerdings nur Kinder. Mir wurden unfassbar viele Fragen gestellt, etwa 200, bei denen ich teilweise überhaupt nicht verstanden habe, was die mit Autismus zu tun haben.
Zum Beispiel?
Konntest du als Baby krabbeln? Machst du gerne Tiergeräusche nach? Autistische Kinder können oft nicht krabbeln. Ich konnte es auch nicht. Woran das liegt, weiß ich nicht. Und Autisten machen gerne Geräusche nach. Wir lernen ja viel durch Nachahmung, Mimik, Gestik, soziale Interaktion. Autisten machen da keinen großen Unterschied zwischen Mensch und Tier, sondern ahmen automatisch alles nach. Ich miaue meine Katzen an und die miauen mich an.
Wie ging es dir mit der Diagnose?
Direkt nach der ersten stellte ich mich vor den Spiegel und fragte mich: Sehe ich jetzt anders aus, sehe ich autistisch aus? Was natürlich totaler Quatsch ist. Ich hatte genau das gleiche klischeehafte Bild von Autismus und Asperger, das viele Leute haben.
Dachtest du vor der Diagnose daran, dass du Autistin sein könntest?
Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich anders bin als die anderen, aber die anderen haben mir sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass ich es bin. An meiner alten Schule war es schlimm, die anderen Kinder beschimpften und bespuckten mich. Ich musste die Schule wechseln.
Was ist passiert?
Die Kinder in meiner Klasse sagten immer, ich sei komisch. Sie sagten, ich würde lügen. Erst Jahre später habe ich verstanden, warum. Ich sah den anderen im Gespräch nicht in die Augen, das wird als eindeutiges Zeichen für eine Lüge aufgefasst. Dabei bin ich eine ganz schlechte Lügnerin, ich kann mich nur schlecht auf das Gespräch konzentrieren, wenn ich jemandem in die Augen sehe, weil da so viel passiert. Ich konnte lange nicht mal "White Lies" verstehen. Wenn mich jemand fragte, wie ich sein neues Hemd finde, und ich fand es total hässlich, sagte ich: Hässlich! Es hat Jahre gedauert, bis ich verstanden habe, dass ich trotzdem "Voll schön!" sagen muss. Wahrscheinlich war ich deswegen so unbeliebt. Inzwischen habe ich das gelernt, auch dass ich dem anderen in die Augen sehen muss. Und Gesichtsausdrücke.
Wie hast du das gemacht?
Meine natürliche Reaktion, wenn es mir sehr schlecht geht, ist natürlich auch Weinen, ich bin ja ein Mensch, aber ich lächle dann. Das musste ich mir abgewöhnen, weil das alle anderen seltsam finden. Ich hatte dann ein Mama-Gesicht, das war fröhlich, ein Oma-Gesicht, das war eher nachdenklich, ein Papa- und ein Opa-Gesicht. Ich habe die verschiedenen Gesichtsausdrücke von den Menschen gelernt, die ich gut kannte, bei allen anderen habe ich die Gefühlsregungen im Gesicht ja nicht verstanden.
Hast du nach der Diagnose eine Therapie begonnen?
Die Therapeutin sagte, dass sie das Gefühl habe, dass ich gut zurechtkomme, ich solle wiederkommen, wenn es mir schlecht geht. Ich habe nie eine Therapie gemacht, ich war auch nie in einer Selbsthilfegruppe.
Was hat sich seit der Diagnose für dich verändert?
Ich gehe sehr offen damit um und erzähle früh davon, wenn ich jemanden kennenlerne. Mir hilft es, dass ich sagen kann: "Ich habe Asperger, deswegen bin ich manchmal ein bisschen komisch." Leider kam die Diagnose recht spät, mit 22. Aus meiner Unizeit habe ich zum Beispiel gar keine Freunde. Ich sprach da einfach mit niemandem, ich ging in mein Seminar oder meine Vorlesung und wieder raus, das war sehr praktisch. Ich verstehe bis heute nicht, wie sich Freundschaften entwickeln. Ich sehe, dass es passiert und ich finde das schön für die Menschen. Aber ich verstehe nicht, wie die das machen. Und mir fehlt es jetzt auch nicht.
Wie hast du deine Freundschaften geknüpft?
Die Freundschaften, die ich habe, sind spontan entstanden. Wenn mir jemand sympathisch ist, dann ist er mir sofort sympathisch und bleibt das auch. Ich habe einige Freunde in einem Hackerspace in Berlin kennengelernt. Da bin ich durch Zufall hingekommen und habe zum ersten Mal Menschen getroffen, die mir sehr ähnlich waren, mit denen es auch nicht so schwierig und anstrengend war. Wenn ich keine Lust hatte mich zu unterhalten, ließen die mich einfach in Ruhe. Ich habe nicht besonders viele Freunde, aber meine Freundschaften sind sehr innig. Wir sprechen nicht jeden Tag miteinander, aber wir wissen, wir verstehen uns und sind füreinaner da. Ich muss mich immer bewusst daran erinnern, meine Freunde zu kontaktieren, das geht nicht automatisch bei mir.
Wie ist es bei dir mit Beziehungen?
Seit ich meine Diagnose habe, ist es wesentlich leichter geworden. Ich kann viel besser einschätzen, dass ich jetzt gerade schlecht drauf bin, weil mir gerade alles zu viel ist und das nichts mit der Situation zu tun hat. Ich hatte früher oft Partner, die oft feiern gingen und die oft Freunde einluden, das war immer schwierig, weil ich nicht erklären konnte, warum ich das nicht will. Jetzt weiß ich, dass es okay ist, wenn ich das nicht möchte.
Text: kathrin-hollmer - Foto: Ben De Biel