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Geteiltes Leid

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In der Escola Municipal Nova Holanda haben sie heute wieder schulfrei. Haben sie immer, wenn in der Nähe Schüsse zu hören sind.

Die Schule steht genau auf der Grenze zwischen den Kommunen Baixa do Sapateiro und Nova Holanda. Beide gehören zum Complexo da Maré, dem größten Favela-Bezirk Rios, zu dem 15 bis 17 einzelne Viertel zählen. Auf der einen Seite regiert das Comando Vermelho, auf der anderen das Terceiro Comando, zwei verfeindete Drogengangs. An den Häuserwänden der Schule bröselt der Putz. Kugeln stecken darin. Die Grenze ist Kriegsgebiet.

Wenn es wieder zu einer Schießerei kommt, ist Thiago einer der Ersten, die davon erfahren. Er stellt die Information dann sofort online, auf Facebook. Ungefiltert. Kontrollieren kann er später. "Wenn wir eine Falschmeldung bringen, wissen wir das innerhalb von Minuten durch die Kommentare. Wichtig ist aber, dass wir erst mal informieren."

Thiago, der eigentlich anders heißt, sitzt vor einer Eckkneipe in der Maré, hinter ihm läuft ein Fernseher, irgendeine Casting-Show. Zwei schwarze Flecken stören das Bild. Einschusslöcher. Die Straße wird von einem Jungen in Deutschlandtrikot bewacht. "Podol"steht auf seinem Rücken, das "ski" ist vom Waffengurt seines Maschinengewehrs abgeschabt worden. Thiago, 28, dunkler fünf-Tage-Bart, Brillies im Ohr, Ehering an der rechten Hand, ist einer der vier Gründer von Maré Vive, einer Facebookseite, die als Informationsdienst für die Maré dient. Bewohner schicken Informationen per Nachricht an die Seite, dort werden sie anonym veröffentlicht.

Bevor sie abends nach Hause kommen, checken viele Bewohner erst mal auf Maré Vive, ob ihre Viertel sicher sind

Vor knapp zwei Jahren begannen Thiago und seine Kollegen damit, die Bewohner der Maré zu vernetzen. Anfangs ging es überwiegend um die Warnung vor bewaffneten Konflikten. Mit den Vorbereitungen für die Fußball-WM 2014 war das Polizeiaufgebot in Rios Norden gestiegen. Die Maré war einer der wenigen Favela-Komplexe, die damals nicht von der Militär-Polizei Unidade de Policia Pacificadora (UPP) befriedet wurden. Wegen des Einmarschs der UPP in die umliegenden Gebiete zogen sich viele der Drogendealer, die Traficantes, in die Maré zurück. Alle vier Drogenkommandos der Stadt sind hier vertreten. "Früher waren die Traficantes kein großes Problem", sagt Thiago. "Wir sind mit den Jungs aufgewachsen. Heute kennen wir die meisten Banditen nicht mehr."

Gegenseitig machen die Drogengangs sich ihre Gebiete streitig. Keiner traut dem anderen. Grabenkämpfe entstehen, Gassenkämpfe. Maré Vive versucht, den Überblick zu wahren und zu informieren. Bevor sie abends nach Hause kommen, checken viele Bewohner erst mal auf Maré Vive, ob ihre Viertel sicher sind. "Niemand will auf dem Heimweg in einen Kugelhagel geraten", sagt Thiago.

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Illustration: Daniela Rudolf

Maré Vive hat mehr als 40 000 Follower, bei knapp 150 000 Einwohnern der Maré. Es ist damit das einflussreichste Portal in Rios Norden. Das Coletivo Papo Reto, eine ähnliche Seite aus dem Nachbarbezirk Complexo do Alemão, erreicht nicht mal halb so viele Menschen. "Viele Politiker würden sich die Hände reiben, wenn sie so viele Menschen in der Maré erreichen könnten wie wir", sagt Thiago. "Deshalb ist es nicht genug, nur vor Schießereien zu warnen. Wir müssen dazu beitragen, sie zu verhindern!"

Die Warnung vor bewaffneten Konflikten ist zwar immer noch die Hauptaufgabe der Seite. "Aber wir unterstützen auch kulturelle Events, vermitteln, wenn Bewohner Hilfe brauchen, stoßen Diskussionen an, machen auf soziale Missstände aufmerksam", sagt Thiago. "Wir wollen politisieren, ohne politisch zu sein. Wir sehen uns als Stimme der Favela."

Eine solche Stimme ist etwas, das die Favelas dringend brauchen. Denn noch immer gibt es Rassen- und Klassenfeindlichkeit in der Stadt. Viele Politiker meiden den Norden Rio de Janeiros – er gilt als schwarz, arm und gefährlich. Die wichtigen Entscheidungen werden im Süden getroffen, wo die Reichen und Weißen leben.

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Eine Stimme, eine Möglichkeit der Kommunikation – das haben Rios Favelas dringend nötig

Illustration: Daniela Rudolf

Läuft man mit Thiago durch die Straßen der Maré, kommen einem junge Männer auf Motorrädern entgegen, auf dem Rücken Maschinengewehre, deren Läufe ihre Köpfe überragen. In den Hauseingängen stehen Menschen mit Pistolen am Gürtel – für Außenstehende ist nicht erkennbar, ob sie zu einem der Drogenkommandos gehören, oder ob sie die Waffen zur Selbstverteidigung tragen. Thiago ist hier aufgewachsen, zur Schule gegangen, einer der wenigen mit einem Abschluss. Häufig grüßt er nach links und rechts. Die Gassen sind eng und belebt. Hier verkauft jemand Fisch, dort Salat, da liegen Plastiktüten voll Marihuana und anderer Drogen auf dem Tresen. Lautstark preisen die Verkäufer ihre Waren an. In einer Seitenstraße knallt es. "Bomba normal", sagt Thiago. Nur ein Feuerwerkskörper.

 

In dieser Gegend bieten die sozialen Medien etwas, was das reale Leben nicht bieten kann: Einem Jugendlichen aus dem Gebiet des Drogenkommandos Comando Vermelho ist es nicht ohne Weiteres möglich, in das Gebiet des Terceiro Comando zu gehen, um Freunde zu treffen oder eine Party zu besuchen. Ganze Familien werden mitunter getrennt, da sie unter die Regentschaft verschiedener Comandos fallen. Facebook und Whatsapp bilden eine digitale Parallelwelt, in der Kommunikation, Organisation und Austausch viel einfacher möglich sind.

 

Luiz Eduardo Soares, ehemaliger Sekretär für Sicherheit der Stadt Rio und des Landes Brasilien, sieht in den sozialen Netzwerken auch einen Lösungsansatz für ein weiteres Problem der Stadt: die Polizeigewalt. "Das Internet ist eine wundervolle Möglichkeit, um die öffentliche Wahrnehmung zu beeinflussen. Das Volk muss verstehen, wie viel Polizeigewalt noch immer im Norden herrscht! Das Smartphone ist dafür heute eines der effektivsten Mittel."

 

Die Befriedung der Favelas durch die UPP sollte eigentlich nur der erste Teil eines Revitalisierungsprogramms für den Norden sein. Im Anschluss sollten Schulen kommen, Verkehrssysteme, Strom, Wasser, eine anständige Infrastruktur. Doch so weit kam es nie. In den befriedeten Gebieten kann man das gut beobachten: Die Menschen, die die Waffen halten, sind andere als früher, sie tragen jetzt Uniform, Helm und schusssichere Weste – doch die Unsicherheit ist geblieben.

 

Es gibt auch Kritik an Maré Vive – es heißt, die Seite rufe zu Gewalt auf, radikalisiere das Volk

 

Erst kürzlich konnte ein mit einem Handy gefilmtes Video einen Vorfall von Polizeigewalt im Favela-Stadtteil Providência aufklären. Ein Polizist hatte einen schwarzen Jugendlichen erschossen. Vor seinen Vorgesetzten sagte er aus, der Junge hätte eine Waffe gehabt, die Handlung sei Notwehr gewesen. Wenige Tage später tauchte das anonyme Video im Internet auf, das zeigte, wie der Polizist den Jungen erschoss, sich dann der Leiche näherte und ihr eine Waffe in die Hand legte, um schließlich mit dem Finger des Jungen am Abzug zwei Mal in die Luft zu schießen. Über Maré Vive und andere Seiten gelangte das Video in die Öffentlichkeit.

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Illustration: Daniela Rudolf

Erst dann zeigten auch Globo und andere traditionelle Medienunternehmen das Video. Der Süden empörte sich. Zum ersten Mal wurde der Machtmissbrauch der UPP sichtbar.

 

Den ehemaligen Sicherheitssekretär Soares freut diese Entwicklung. "Die Polizei weiß noch gar nicht, wie öffentlich ihr Handeln geworden ist." Und auch Thiago genießt die Aufmerksamkeit: "Man hört uns zu. Und die traditionellen Medien nutzen uns als Ansprechpartner. Das ist schon viel wert."

 

Eine, die sich sehr gut mit diesen neuen Informationsseiten auskennt, ist Debora Pio. Die 28-Jährige arbeitet in einem schicken Kolonialbau im südlichen Zentrum Rios. Sie ist eine der Leiterinnen der NGO Viva Favela, die sich um die Belange der Favelas kümmert und sie via Internet vertritt. "Wenn die traditionellen Medien über die Favelas berichten, sprechen sie nur von Drogen und Gewalt. Kultur oder Menschen spielen keine Rolle. Das wollen wir ändern", sagt Debora.

 

2001 eröffnete die Organisation erste Internet-Cafés in den Favelas. Die Bewohner sollten angeregt werden, selbstständig Nachrichten aus den Kommunen zu verfassen, um ein Gegengewicht zu den überwiegend negativen Darstellungen der traditionellen Medien zu bilden. Journalisten-Workshops wurden angeboten, Bild und Text, und immer mehr Bewohner in die Arbeit der Organisation eingebunden. Heute hat Viva Favela 47 Redakteure, die direkt aus den Kommunen berichten. "Das Internet ist viel demokratischer als die traditionellen Medien", sagt Pio. "Es ist ein digitaler Freiraum. 70 Prozent der Brasilianer haben Zugang zum Internet. Hier gibt es keine rassistischen Grenzen oder Gesetze."

 

Schaut man sich die Nachrichtensendungen der traditionellen Medien an, fällt auf: 95 Prozent der Nachrichtensprecher sind weiß. Schwarze sieht man meist nur in den Beiträgen. Auf Maré Vive haben sie vor Kurzem etwas dazu gepostet: Ein Video des Fernsehsenders Rede Globo zeigt eine Verfolgungsjagd zwischen der Polizei und zwei Traficantes. Die Traficantes verunglücken, liegen am Boden, werden von den Polizsten erschossen. Darüber der Kommentar von Maré Vive: "In Brasilien gibt es kein Mitleid für den Tod. Hier sieht man die Live-Berichterstattung einer vom Staat geförderten Hinrichtung (..). Was ist ein Leben wert? (...)"

 

Natürlich ist die Seite parteiisch – aber genauso ist es mit den traditionellen Medien

 

20 000 Klicks verzeichnet Viva Favela im Schnitt pro Monat, Maré Vive allein hat über doppelt so viele Follower. Für Pio kein Problem, sondern ein Synergie-Effekt: "Über Facebook funktionieren die Informationen direkter. Es gibt keine Dritten, über die die Nachrichten laufen müssen. Außerdem sind sie bedeutend schneller. Unsere Arbeit beginnt da, wo Themen langfristig im Mittelpunkt stehen." Und während Maré Vive als internes Netzwerk dient, vertritt Viva Favela die Favelas nach außen.

 

Doch Maré Vive hat auch mit Kritik zu kämpfen. Thiago erzählt von einer Demonstration gegen Polizeigewalt auf der Avenida Brasil, zu der er und seine Kollegen im Sommer 2013 aufgerufen hatten. Einige Tausend Menschen kamen, Amnesty International marschierte mit, auf der anderen Seite hatte die Militär-Polizei Vorkehrungen getroffen. Sie alle wussten von der Aktion via Facebook. Die Demonstration eskalierte. Es kam zu Ausschreitungen, Steine flogen, die Polizei setzte scharfe Waffen ein, ein Junge verlor seinen Arm. In den darauffolgenden Razzien kamen mindestens zehn Menschen durch Polizeigewalt ums Leben. Anschließend wurde Maré Vive massiv angefeindet. "Unverantwortlich" nannte man die Seite, sie rufe zu Gewalt auf, radikalisiere das Volk. Thiago nahm das ernst, doch letztlich sah er sich nicht in der Verantwortung: "Wir sind nur die Plattform, um die Menschen zu verbinden. Für sein Handeln ist jeder selbst verantwortlich."

 

Auch Debora Pio verteidigt Maré Vive. Natürlich sei die Seite parteiisch, in ihren Kommentaren manchmal fragwürdig. Aber ebenso sei es mit den traditionellen Medien. Eine neutrale Position zu vermitteln, das sei wiederum die Aufgabe ihre Seite Viva Favela.

 

Im Complexo do Maré wird es langsam dunkel. An einer Kreuzung blitzen Lichter, man hört wummernden Bass. Was von weitem wie eine Disco wirkt, ist näher betrachtet eine Autowerkstatt, in der bei lauter Musik an einem Auspuff geschweißt wird. Ein Mann mit Zahnbürste und Schuhcreme geht vorbei, er kommt von der Arbeit im Zentrum. Thiago sitzt immer noch an seinem Tisch vor der Eckkneipe. Trinkt ein Bier, schaut auf sein Handy. Heute hat er keinen Dienst. Ein anderer kümmert sich um die Aktualisierung der Seite.

 

Die Drogenkommandos haben Thiagos Arbeit bisher keine Probleme bereitet. "Wir werden mehr als geduldet. Auch ein Traficante will seine Familie nicht im Drogenkrieg verlieren. Manchmal hören wir ein paar der Kids an den Straßenecken: ‚Geil, guck mal, die haben über unsere Schießerei berichtet!‘ Das ist natürlich völlig absurd."

 

Während die Gründer von Maré Vive anonym arbeiten, machen andere Seiten ihre Arbeit öffentlich. Das Coletivo Papo Reto zum Beispiel hat gerade gemeinsam mit Witness, einer internationalen Organisation zur Nutzung von Videomaterial gegen Polizeigewalt, den International Philantropy Award für seine Arbeit gewonnen. Warum wollen Thiago und seine Kollegen im Hintergrund bleiben?

 

Thiago lehnt sich zurück. "Wir wollen keine Anführer sein. Es muss sich ein Selbstbewusstsein unter den Bewohnern bilden. Außerdem habe ich neben der Seite noch ein anderes Leben, in dem ich ungestört meiner Arbeit nachgehen möchte. Sagen wir: Maré Vive ist meine Maske."

 

Für die Zukunft wünscht er sich mehr solcher Seiten. "Man stelle sich vor, jede Favela hätte eine solche Seite. Und alle posten gleichzeitig etwas gegen Homophobie. Was für eine Kraft das hätte!"

 

Der Zuspruch für Maré Vive ist groß. Und obwohl es immer wieder neue Gewaltwellen gibt, vor denen Thiago und seine Kollegen warnen müssen, macht sich ab und zu eine vage Hoffnung auf Besserung breit:

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Illustration: Daniela Rudolf

Text: nils-straatmann

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