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Gestatten: Murat Bosporus, Kämpfer
Es ist vorbei, als der Japaner Tamon Honda zupackt. Die fleischigen Arme, dick wie Oberschenkel, schließen sich mit der Kraft von Baggerschaufeln von hinten um Özgürs Brustkorb, kein Entrinnen. Die Menge brüllt, klatscht, stampft, gleich gibt es Schmerzen. Wrestling in der Budokan-Hall in Tokio. Der Hüne Honda reißt Özgür in die Luft. Was jetzt kommt, heißt unter Kennern „Dead End“. Der Griff schnürt Özgür die Luft ab. Dann wirft sich Tamon Honda mit Schwung nach hinten, Özgür donnert mit dem Genick auf die Matte und verliert für einen Moment das Bewusstsein. Blitzlichter von tausenden Kameras funkeln hinauf bis unter die Hallendecke. 16 200 Japaner sehen Özgür aus Wolfratshausen bei der Arbeit zu. Er lässt die Fernbedienung sinken, streicht sich mit der Hand über den kahlrasierten Kopf und lächelt freundlich. Özgür sitzt am Couchtisch in seiner Zweizimmerwohnung in Wolfratshausen, 110 Kilogramm Kampfgewicht auf 1,68 Meter Körpergröße, ein bisschen wirkt er wie Buddha. Seine Familie stammt aus der Türkei, doch Özgürs Deutsch ist perfekt, die Wortwahl geschliffen, seine Stimme klingt sanft. Auf einem Wäscheständer hängen Socken, vor dem Fenster Gardinen mit Blumenmuster. Özgür Bakar, 27, hat sich den Traum erfüllt, den er verfolgt, seit er ein Kind ist: Er ist der beste deutsche Profi-Wrestler.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Özgür alias Murat bei der Arbeit. (Fotos: oh) Vor sechs Jahren ist der Traum noch so weit weg, wie zwei deutsche Orte voneinander entfernt sein können. Wolfratshausen – Hannover, 600 Kilometer. Özgür hat sein Abitur gemacht und leistet Zivildienst bei den Maltesern: Unter der Woche bringt er alten Leuten ihr Essen in die Wohnung, am Wochenende fährt er nach Hannover und lernt, wie man einen Menschen in einer Viertelstunde so verprügelt, dass er nicht mehr aufsteht. Wrestler? Blödsinn, sagt Mutter Es ist immer das gleiche: Freitag nach der Arbeit hin, acht Stunden Zugfahrt, vier Mal umsteigen, zwei Tage Training in der Wrestling School. Sonntag nachts zurück, mit geschwollenen Handgelenken und Prellungen am Rücken. Montag Morgen um zwei Uhr kommt Özgür am Münchner Hauptbahnhof an, sechs Stunden später beginnt die Arbeit. Der Trainer an der Wrestling School ist ein Catcher aus den 80ern, alte Schule, er macht es seinen Jungs nicht leicht. Die meisten kommen mit der Erwartung, Wrestling sei lässige Show. Aber Wrestling ist ein Kampfsport, bei dem alles erlaubt ist außer Kratzen, Beißen und Schlägen ins Gesicht. An Özgürs erstem Wochenende kotzen zwei Schüler neben den Ring. Nach vier Wochen nimmt der Trainer den Wolfratshauser beiseite und bietet ihm Einzeltraining an. Und einen Wohnwagen. Damit er nicht mehr im Hotel schlafen muss. Özgür ist zäh und entschlossen. Vielleicht hat das mit diesem Tag in seiner Kindheit zu tun. Özgür ist fünf, als sein Vater ihm morgens am Bett erklärt, worauf es im Leben ankommt. „Verfolge deine Träume, sei stark und beschütze deine Familie.“ Am selben Tag im Jahr 1985 stirbt der Vater bei einem Verkehrsunfall. Er hat seinem Sohn am Morgen so etwas wie ein Vermächtnis hinterlassen.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Fünf Monate später nimmt der Onkel den kleinen Özgür zu Bekannten mit, die Kabelfernsehen haben. Auf Tele 5 sieht Özgür „Hulk Hogan“ gegen den „Ultimate Warrior“ kämpfen. Kaum ist der Kampf vorbei, springt er auf und rennt zu den Erwachsenen. Er lacht. Seit langem wieder. „Ich will Wrestler werden“, schreit er. „Blödsinn“, sagt die Mutter. Kinder haben seltsame Berufswünsche. Özgür fängt an mit Ringen, dem türkischen Volkssport. Mit zwölf beginnt er mit Judo, im Ringen gewinnt er mittlerweile fast immer. Er geht aufs Gymnasium und trainiert sechs Tage die Woche, Ringen, Schwimmen, Judo, sein Berufswunsch: Wrestler. Die Klassenkameraden belächeln ihn, den kleinen Türken, Sohn einer Putzfrau. Sie haben sich längst getrennt von ihren Träumen, Feuerwehrmann oder Astronaut zu werden. Wenn Özgür seine Zeit auf dem Gymnasium beschreiben soll, hält er inne und blickt auf seine Hände. Dann zitiert er George Orwells Roman Animal Farm: „Alle Tiere sind gleich, aber manche Tiere sind gleicher – das war deren Einstellung.“ Auf der nächsten Seite erfährst du, wie Özgür Jazzy B. kennenlernte und zu einem der besten Wrestler des Landes aufstieg. Und du siehst Murat schmunzeln.
In der zehnten Klasse hat Özgür genug. Er fällt durch, zwei Fünfer in Mathe und Chemie. Er will alles schmeißen und sofort auf die Wrestling School gehen. Doch die Mutter stimmt ihn um. Sie putzt und spart, er arbeitet in einer Tankstelle, gemeinsam finanzieren sie drei Jahre auf einer Privatschule. Özgür trainiert weiter und schreibt nebenher seine Facharbeit über die Mendel'schen Regeln. Vom Judo steigt er auf Krafttraining um, Masse aufbauen. Er hält an seinem Traum fest. 2002, Hannover. Das erste Wrestlingturnier kämpft Özgür in den zerschlissenen Stiefeln seines Trainers. Zwar verliert er gegen amerikanische Profi-Wrestler wie „Cannonball Grizzly“, aber drei Promoter buchen ihn für Kämpfe. Wegen seiner Technik, wegen seines Aussehens. Bald kämpft er alle paar Wochen auf kleineren Shows in Deutschland, Frankreich oder England. Er druckt einen Sichelmond auf den schwarzen Wrestlinganzug und kämpft fortan unter dem Namen Murat Bosporus. „Mein erster Gedanke: Was für ein Scheißname“, sagt er und schüttelt langsam den Kopf. „Aber er lässt sich super vermarkten. Und darauf kommt es im Wrestling an.“ Es gibt etwa 100 Wrestler, die in Deutschland „independent“, also für verschiedene Veranstalter kämpfen. 20 davon sind Deutsche, der Rest Schweizer, Niederländer, Franzosen und Engländer. Özgür bewährt sich, sein Kampfname wirkt: bald kennt ihn jeder Fan. Westside Xtreme Wrestling, eine der größten deutschen Ligen, nimmt ihn als einen von elf Profis in den Kader. Es ist 2004. Viel mehr kann Özgür als Wrestler in Deutschland nicht erreichen.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Özgür in zivil. (Foto: Maria Dorner) „Wer vom Wrestling leben will,“ sagt Thomas Giesen, einer der bekanntesten deutschen Ringsprecher, „muss nach Japan oder in die USA.“ In Japan ist als Sport nur Baseball populärer, Sumo-Ringen folgt auf Platz drei. Und im Gegensatz zu den USA, wo Wrestling der Unterhaltung dient, steht dort der Sport im Mittelpunkt. „In Japan“, erklärt Giesen, „werden Wrestler noch für das bejubelt, was sie sind: Hochleistungsathleten.“ Herbst 2006. Die größte japanische Wrestling-Liga lädt Özgür nach Japan ein. Kein Deutscher vor ihm hat das geschafft. „Klar, Murat Bosporus ist der deutsche Wrestler“, sagt Thomas Giesen. Der einzige Europäer, der regelmäßig in Japan kämpft, ist der Engländer Doug Williams. Zehn Jahre hat es gedauert, bis man ihn dorthin einlud. Özgür erhält das Angebot nach gut vier Jahren. Als „Murat Bosporus“ in Japan einsteigt, hat Giesen gemischte Gefühle. Einerseits wird Özgürs Ruhm auf die deutsche Szene abfärben, andererseits stellt sein Aufstieg das Problem des deutschen Wrestling dar: Die Talente wandern in Länder, in denen sie wie Profisportler bezahlt werden. Ein Teufelskreis, doch von der Gage für die Japan-Tour zehrt Özgür noch heute. Er möchte nicht sagen, wie hoch sie war. Aber den Plasmafernseher, der auf der Kommode im Wohnzimmer steht, hat er nach der Rückkehr gekauft. Bizeps spannen, grimmig sein Bis in die 90er kämpften die Catcher in Deutschland vor 6 000 Menschen in Bierzelten. Das war Sport. Dann wurden die US-Shows beliebt, in denen Stars wie „Hulk Hogan“ auf Motorrädern in die Halle knatterten – über Sieg oder Niederlage entschied nicht mehr der Ringrichter, sondern der Regisseur. Bald galt auch das deutsche Catchen als abgesprochene Show, die Zuschauer verloren das Interesse. Heute spricht Giesen von einem „großen Event“, wenn er mit 800 Besuchern rechnet. Özgür steht vom Sofa auf, es geht zum Fitnessstudio. Er öffnet die Wohnungstür: „Bitte, nach dir.“ Auf dem Weg erzählt er von der Tour durch Frankreich, bei der er im Bus neben einer Berliner Wrestlerin saß, Kampfname Jazzy B. „Sie ist die beste Wrestlerin, die ich je gesehen habe,“ sagt Özgür. Im Sommer werden die beiden heiraten. Neulich hat Jazzy ein Angebot von der größten amerikanischen Liga, WWE, erhalten. Das „E“ steht für „Entertainment“ und bedeutet mehr Show, weniger Sport. Es bedeutet auch: Green Card, hohes Pauschalgehalt und den Umzug in die USA. Jazzy wird unterschreiben. Özgür sitzt auf einem Stuhl in einem gelbgestrichenen Raum, der so groß ist wie ein Klassenzimmer. Hier im Fitnessstudio trainiert er jeden morgen. Kniebeugen, Stretching, Fallübungen, nachmittags stemmt er Gewichte. An den Wänden hängen gerahmte Fotos. Sie zeigen Özgür neben Profi-Wrestlern aus Nordamerika. „Was ich am amerikanischen Wrestling nicht mag“, sagt Özgür, „ist das Rumgepose bei den Kämpfen“. Die US-Kämpfer spannnen auf den Bildern demonstrativ den Bizeps und gucken grimmig. „Aber eigentlich habe ich generell was gegen die amerikanische Einstellung, von wegen: Wir sind der Nabel der Welt.“ Tage später bekommt Özgür eine Mail von der WWE. Sie laden ihn zum Testkampf am Donnerstag den 19. April nach München in die Olympiahalle. Ein großer Event, eine große Show. Er zuckt die Schultern. „Wer für die WWE kämpft, wird berühmt und verdient viel Geld.“ Er überlegt. Macht er nun auch bei der großen Show mit? „Keiner würde das Angebot ablehnen.“ Dann lächelt Özgür, als wolle er um Verständnis bitten. „Ich lebe schließlich davon.“