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Gesichter von Gezi

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"Meine Mutter ruft jeden Tag an. Dann muss ich lügen."

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Özer, 23, studiert Internationale Beziehungen.

"Ich dachte immer, ich sei allein. Seit den Protesten im Gezi-Park weiß ich: Wir sind eine überwältigende Masse. Manchmal schaue ich mich um und bin gerührt, wenn ich sehe, wie viele Menschen mit uns für den Park kämpfen. Selbst gebrechliche und alte Menschen sind darunter. Das macht mich sehr stolz.    

Ich hab mich schon sehr früh für Politik begeistert, mit 15. Mir wurde klar: Ich will etwas ändern. Irgendetwas stimmte doch nicht. Ich habe Bücher über Geschichte gewälzt und es gab die immer gleichen Muster, die immer gleichen Systeme. Als mir ein Freund vor zwei Wochen am Telefon von den Protesten berichtete, musste ich überhaupt nicht mehr überlegen. Ich gehörte auf den Taksim-Platz. Protest ist mittlerweile Teil meiner Person. Die Polizei ist sehr brutal gegen uns vorgegangen. Das hat mich nur bestätigt. Ich fühle, ich bin genau am richtigen Ort.    

Meiner Mutter habe ich nicht davon erzählt. Aber sie ahnt, wo ich bin. Jeden Tag ruft sie an. Am Anfang habe ich ihr noch erzählt, wie es mir geht, wo ich bin und was hier passiert. Aber dann hat sie sich ständig Sorgen gemacht. Jetzt erfinde ich oft Geschichten. Ich muss die Gespräche mit ihr sehr kurz halten und viel improvisieren. Denn im Park gibt es laufend Geräusche, die mich verraten: Trommeln, Sirenen, Sprechchöre.

Wenn ich nicht bei den Barrikaden bin, denke ich oft an meine beiden Brüder. Sie sind zehn und 15 und noch zu jung für die Proteste. Ich glaube, sie sehen in mir ein Vorbild. Wir tauschen uns viel über Bücher und natürlich den Protest aus. Ich versuche so oft es geht, mit ihnen zu sprechen.    

Ich wünsche mir, in einer friedlichen Welt zu leben. In dieser friedlichen Welt würde ich gern eine Weltreise machen. Amerika, Deutschland und vor allem Kuba stehen auf meiner Liste. Ich bin sehr vom Sozialismus überzeugt. Aber ich würde gern selber sehen, ob die Leute dort glücklich sind."  

Auf der nächsten Seite: Ezgi, 19, spricht über ihre Angst.




"Jeder fühlt die Angst. Aber die Leute bleiben hier."

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Ezgi, 19, studiert Politik.

"Als die Polizei letzten Dienstag die ganze Nacht den Park mit Tränengas beschoss, war ich auf einmal völlig allein. Um mich herum waren dicke Gaswolken, vor mir und hinter mir die Polizei. Ich bin zu einem Hotel gelaufen, aber dort ging es weiter. Ich habe Bretter von der Straße aufgehoben, um mich zu schützen. Gummigeschosse sind gegen die Bretter geflogen. Irgendwann kam ich in ein Studentenwohnheim. Dort war es ruhig und ich bin vor Erschöpfung kurz eingeschlafen.

Dann begann mein Alptraum: Ich war im Gezi-Park und es brannte überall. Polizisten gingen auf die Menschen los, ich wurde verschleppt. Furchtbar. Ich werde nach diesen Erlebnissen wahrscheinlich Hilfe brauchen, um nicht mehr vom Feuer und dem Gas zu träumen. Aber ich muss hier sein. Das ist ein ständiger Zwiespalt. Und irgendwie ist es auch eine schöne Angst, sie steht für die Stärke der Menschen. Denn obwohl natürlich jeder die Angst fühlt, bleiben die Leute hier. Sie nehmen sie in Kauf.    

Anfangs hat meine Mutter am Telefon geweint. Es gab schreckliche Bilder im Fernsehen. Mit der Zeit hat sie es aber verstanden und ist sogar selbst auf Demos gegangen. Es gibt hier einen Spruch, den viele Eltern ihren Kindern sagen: „Ja, du kannst gehen, aber geh’ nicht in der ersten Reihe.“ Der ist inzwischen an viele Wänder rund um den Park gesprüht. Meine Mutter hat das irgendwann auch so gesehen.

Der bewegendste Moment war vor ein paar Tagen, kurz nachdem die Polizei abgezogen war. Ich bin in den Park gegangen und habe die Menschen vor Glück singen und tanzen gesehen. Das war der schönste Augenblick. Vielleicht meines Lebens. Ich weiß, dass hier eine Generation Gezi-Park entsteht. Ich werde meinen Kindern davon erzählen und man wird Bücher darüber schreiben. Es macht mich stolz, hier dabei zu sein."

Auf der nächsten Seite: Burak, 24, über die Bibliothek im Gezi-Park.



"In ruhigen Momenten versuche ich zu lesen."

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

  Burak, 24, studiert Medienwissenschaften.

"Es gibt ein Bild, das ich nicht mehr vergessen werde. Ein Mann hält die Hand einer Frau und läuft mit ihr davon. Sie tragen beide Fahnen, er eine kurdische, sie eine der türkischen Nationalisten. Politisch gesehen müssten sie Feinde sein – und trotzdem sind sie beieinander. Der Gezi-Park hat sie geeint. Das ist doch verrückt.    

Schon in meiner Familie läuft das anders. Meine Eltern sind für die Regierung. Ich bin dagegen. Wir haben aufgehört, den anderen überzeugen zu wollen. Trotzdem haben sie jetzt große Angst um mich. Ich habe im Gezipark von Anfang an Widerstand geleistet. Lange bevor die Polizei gegen uns vorgegangen ist. Ich würde mich gar nicht als grün bezeichnen. Aber in den vergangenen Jahren hat die Regierung hier nahezu alles abgeholzt. Der Gezi-Park liegt in meinem Stadtteil, Beyoğlu. Es ist der einzige Flecken Grün, der übrig geblieben ist. Hier können die Menschen picknicken oder sich auf eine Parkbank setzen. Shoppen kannst du überall, aber Bäume gibt es nur noch hier.    

Ich bin stolz, was aus den Protesten geworden ist. Die Menschen lehnen sich zum ersten Mal in diesem Maße auf. Nicht einmal während der Militärdiktatur waren so viele Menschen auf der Straße. Ich habe viel gelesen über den Kampf um Gerechtigkeit, Freiheit und Demokratie. Das hat mich stark geprägt. Ich habe eine große Achtung vor den Menschen, die aufgestanden sind und sich mit ihrem Leben für Gerechtigkeit eingesetzt haben. Genau das tue ich jetzt auch. In ruhigen Minuten versuche ich manchmal etwas zu lesen. Ich liebe die Gedichte von Nazim Hikmet. Ich lese seine Sachen eigentlich überall. Im Gezi-Park gibt es auch eine Bibliothek. Ich habe mir "Das rote Gras" von Boris Vian ausgeliehen. Über die erste Seite bin ich aber nicht hinausgekommen. Es ist einfach zu viel los."

Auf der nächsten Seite: Başak, 26, über einen Tränengas-Angriff.



"Ich habe das Tränengas unterschätzt. Es war schrecklich."

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Başak, 26, macht ihr Referendariat in Jura.

"Als die Proteste losgingen, kam ich gerade vom Essen. Ich wohne in einem ruhigen Stadtteil. Nach der Polizeigewalt gegen die Menschen im Gezi-Park hat sich mein Viertel in Sekunden verwandelt. Alle haben aus Solidarität auf Teller und Töpfe geschlagen. Von jetzt auf gleich war ganz Istanbul auf den Beinen und hat gelärmt.    

Ich komme aus Deutschland und mache in Istanbul einen Teil meines Referendariats. Ich wollte das Land besser kennenlernen, mein Türkisch verbessern. Oder einfach allein am Meer sitzen, Tee trinken. Dazu bin ich noch nicht gekommen. Es ist schwer für mich, tagsüber bei der Arbeit zu sein. Du weißt, die Leute im Gezi-Park riskieren in diesem Moment fast alles: Arbeit, Freiheit, Gesundheit. Seit den Protesten war ich jeden Abend dort und habe mir die Nächte um die Ohren geschlagen.    

Im Park haben sich über hundert Gruppierungen versammelt. Schwule, Lesben, Kurden, Armenier, Rechte und Linke. Alles wird umsonst verteilt. Simit-Händler verschenken ihre Sesamkringel, Trucks mit großen Tanks bringen Wasser. Es gibt eine eigene Krankenstation und ein Gezi-Radio. Es ist ein eigener Kosmos, es wird getanzt, es wird gelacht, es wird getrauert.    

Dafür ertrage ich auch die Gefahren. Ich habe das anfangs ziemlich unterschätzt. „Tränengas“, dachte ich, „wie schlimm kann das schon sein? Tränen dir etwas die Augen und gut ist.“ Aber es war schrecklich. Als ich es mich erwischt hat, wurde mir schwarz vor Augen. Ich bin hingefallen, war komplett auf die Hilfe der Anderen angewiesen. Die sind es, die dich mitnehmen, aufrichten, beruhigen und dir Mittel gegen das Gas geben. Am Anfang hatten wir kaum Schutz dagegen. Mittlerweile trägt jeder Bauhelm, Taucherbrille und Atemmaske. Wir sehen aus wie schwimmende Bauarbeiter."  




Text: johannes-wendt - Fotos: johannes-wendt

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