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Gekommen, um zu bleiben
In den meisten Nächten schläft Roman Grabolle nur fünf Stunden. Zu mehr kommt er derzeit nicht. Denn neben seinem Job als Archäologe an der Universität hat er einen selbst gewählten Auftrag: Roman sucht in Leipzig nach günstigen Altbauten. Es ist ein Wettlauf gegen professionelle Immobilienfirmen.
Wenn er geeignete Häuser findet, vermittelt er sie an Gruppen junger Leute, die daraus Gemeinschaftsprojekte machen. Roman wird deshalb oft „Hausmeister von Plagwitz“ genannt – nach einem der Viertel, die in seinem Spezialgebiet im Westen der Stadt liegen. „Jetzt geht das noch, jetzt kann man manche Häuser noch ohne großes Geld kaufen. Das ist jede Anstrengung wert“, sagt er.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Roman Grabolle
Welches Ziel Roman verfolgt, lässt sich gut an einem Projekt namens „Wohnungsgesellschaft Central“ studieren. Roman ist einer der beiden Geschäftsführer. Stolz führt er über die Baustelle, die ganze drei Wohnblöcke umfasst. Die Häuser sind um einen geräumigen Innenhof angeordnet und bilden zusammen ein halbes Karree. Auf beinahe 2 000 Quadratmetern sollen hier bis nächstes Jahr Wohngemeinschaften und kleine Werkstätten entstehen. Aus den Gebäuden dringt Baulärm. Junge Männer und Frauen mit strubbeligen Haaren, Hornbrillen und staubiger Arbeitskleidung tragen Schutt ins Freie. Andere reißen drinnen Wände ein, verlegen neue Strom- und Wasserleitungen oder öffnen Fußböden, um die darunter liegenden morschen Balkenköpfe zu ersetzen.
Für nur 130 000 Euro haben die 30 Mitwirkenden der WG Central die Häuser ersteigert. Aber statt das ganze Ensemble in einzelne Eigentumswohnungen zu unterteilen, verwaltet die Gruppe das Projekt gemeinsam. Für die Sanierung der Häuser veranschlagt die Gruppe rund 400 000 Euro. Das Geld kommt aus privaten Ersparnissen, Darlehen von Verwandten oder Freunden und einem kleinen Bankkredit. Diese Investition wird später durch die Mieten wieder hereingeholt, 2,50 bis 3 Euro kalt soll der Quadratmeter kosten. Nach dieser Kalkulation wäre die WG Central in etwa zehn Jahren schuldenfrei. Die organisatorischen Fäden des Projekts laufen unter dem Dach einer GmbH zusammen, über deren Geschicke die zukünftigen Bewohner gleichberechtigt mitbestimmen. Einen Vermieter, der später mit den Mieteinnahmen Gewinn machen könnte, gibt es nicht. Auf diese Weise soll günstiger Wohnraum langfristig erhalten bleiben.
Diese Art des Zusammenlebens heißt im Fachdeutsch „kollektiver Immobilienbesitz“, und die WG Central ist nur ein Beispiel dafür. In Leipzig haben viele Gruppen Vereine, Genossenschaften oder GmbHs gegründet und günstige Gründerzeitaltbauten gekauft. Kollektiven Hausbesitz gibt es zwar überall in Deutschland, aber in Leipzig entstehen solche Projekte gerade in schwindelerregendem Tempo. Aktuell sind es mehr als 20, fast 40 Wohnblöcke gehören dazu. Der Großteil davon ist in den vergangenen vier Jahren entstanden – und ständig kommen neue dazu.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Ein Balken war durch einen Wasserschaden beschädigt, nun muss er ersetzt werden. Roman Grabolle, Monika Rohde, Tobias Bernett und Ivo Balmer von der Wohnungsgesellschaft Central in Leipzig-Lindenau.
Einer der 30 zukünftigen Bewohner der WG Central ist der 27-jährige Tobias Bernett. Vor einigen Jahren ist er aus Zürich nach Leipzig gekommen, um zu studieren. In leisem, zurückhaltenden Schweizerisch schildert er seine Begeisterung für die gemeinsame Sache: „Das ist eine einmalige Gelegenheit. Wo sonst kann man heute als junger Mensch ohne großes Geld ein ganzes Quartier gestalten?“
Wahrscheinlich nirgends. Wegen solcher Freiräume, die Platz für Projekte wie die WG Central bieten, ist Leipzig momentan ziemlich populär. So populär, dass Leipziger Blogger euphorische Medienberichte über Nachwuchskünstler und Freigeister, die aus teuren Städten ins günstige Leipzig abwandern, unter dem Stichwort „Hypezig“ sammeln. Manch einer hofft, dass die Lobeshymnen bald verstummen. Zu groß ist die Angst, die Stadt könnte eine ähnlich rasante Verteuerung von Wohn- und Arbeitsraum erleben wie Berlin in den vergangenen Jahren.
Erste Anzeichen einer solchen Entwicklung gibt es bereits. Im Herbst 2012 stellte die Stadtverwaltung erstmals seit der Wende eine moderate Verteuerung des Wohnraums fest, die durchschnittliche Kaltmiete ist von vier auf fünf Euro geklettert, in den angesagten Vierteln sind sechs oder sieben Euro auch keine Seltenheit mehr. Das ist im Vergleich zu Städten wie Hamburg zwar wenig. Aber weitere Mieterhöhungen sind wahrscheinlich, denn Leipzigs Einwohnerzahl wächst seit einigen Jahren schnell. Auch in Gegenden, in denen vor kurzem noch flächendeckender Leerstand herrschte, sanieren Immobilienfirmen ein Haus nach dem anderen, nicht selten auf hohem Niveau. Entsprechend teurer werden die Mieten. Schon liest man an Hauswänden aggressive Graffiti-Parolen wie „Schwaben zurück nach Berlin“. Menschen wie Tobias und Roman reagieren mit einer konstruktiveren Strategie auf diese Entwicklung: Sie versuchen, sich die günstigen Räume zu sichern und zu bewahren, solange es noch geht.
Tobias hat keine Angst, ein großes Risiko mit seinem finanziellen und tatkräftigen Engagement bei der WG Central einzugehen. Die kollektive Struktur habe einen klaren Vorteil: Sie binde niemanden an das Hauseigentum. „Muss jemand beispielsweise wegen eines Jobs die Stadt verlassen, kann einfach ein Neuer den frei gewordenen Platz übernehmen“, erklärt er. Das alles sei unbürokratisch möglich. „Außerdem erlebt die Stadt gerade einen Aufschwung, und auch unser Viertel entwickelt sich. Ich denke, wir werden auch in Zukunft problemlos Leute finden, die mit uns leben wollen.“
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Noch sieht das neue Heim der WG Central-GmbH nicht allzu einladend aus. Aber das wird sich ändern.
Die WG Central ist noch eine ziemliche Baustelle. Aber es gibt schon Beispiele für funktionierende Kollektivhäuser, etwa die „Zolle-11“. Seit drei Jahren wohnen zehn Mittdreißiger und drei Kinder in dem Altbau auf der Ecke der kleinen Zollschuppenstraße. Liebevoll haben sie das Haus saniert und sogar die Fassade nach allen Regeln des Denkmalschutzes wieder hergerichtet. Die drei Wohnetagen haben sie zu einer großen WG zusammengelegt. Das Zusammenleben sei sehr harmonisch, erzählt Stefanie Schmitz. „Am schönsten ist, dass wir unser Haus so gestalten können, wie wir es gerade brauchen“, sagt die 31-jährige Grafikern. Komme es zu Streit, etwa weil jemand mehr Platz für sich brauche, könne man die Wohnungen einfach anpassen – und kein Vermieter komme einem dabei in die Quere.
Von der Zolle-11 profitieren neben den Bewohnern auch andere Initiativen im Stadtteil. Im Erdgeschoss gibt es Räume für öffentliche Veranstaltungen, etwa von Kultur-, Hobby- oder Kochgruppen. Außerdem dient sie als Beratungsstelle für die neueren Leipziger Projekte, denn die Zolle-11 ist Teil des Mietshäusersyndikats, einem deutschlandweiten Zusammenschluss von Hauskollektiven. Und die Nachfrage nach Ratschlägen ist groß.
Ein Grund für den momentanen Boom der Kollektivhäuser ist das Ende vieler Leipziger „Wächterhäuser“. Bei diesem Modell durften Zwischennutzer gegen Zahlung der Betriebskosten in leer stehende Altbauten einziehen. Sie konnten dort wohnen und arbeiten, solange die Eigentümer mit den Häusern nichts vorhatten. Doch nun haben viele Hausbesitzer mit der Sanierung begonnen oder die Immobilien verkauft, die Zwischennutzer mussten ausziehen. Viele von ihnen orientierten sich am Vorbild der Zolle-11. Das ist nur konsequent, denn ihre Zeit in den Wächterhäusern war eine ideale Vorbereitung: Auch dort musste immer wieder etwas renoviert werden. Deswegen haben sie jetzt schon Werkzeuge, die sie sich nun gegenseitig leihen können, und wenn beim Sanieren oder bei der Konzeption eines neuen Projekts Probleme auftauchen, gibt es immer jemanden, der damit schon mal konfrontiert war und eine Lösung weiß.
Natürlich läuft nicht immer alles nach Plan. In der Zolle-11 zum Beispiel hat die Gruppe erst beim Bauen festgestellt, dass einige Schäden an dem Haus größer waren, als angenommen. Kommt es zu solchen Überraschungen, steigen die Kosten. Doch die meisten Gruppen nehmen das in Kauf. Sie finden die Aussicht verlockend, nie wieder Angst vor Vermietern oder Immobilienfirmen haben zu müssen. Zolle-11-Bewohnerin Stefanie kann heute lachen, wenn sie an ihre letzte Begegnung mit einem Makler denkt. Der hatte an der Tür geklingelt und wollte wissen, ob das Haus vielleicht zum Verkauf stünde. „Nie wieder!“, sagte sie und schickte den Anzugträger weg.
Text: clemens-haug - Fotos: oh