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„Geh aus mein Herz und suche Freud“
Knallrote Lacklederschuhe trägt eigentlich kein Mensch. Nicht, wenn es draußen jämmerlich kalt ist. Nicht, wenn jeder Schritt Rutschgefahr bedeutet. Nicht, wenn erst in ein paar Wochen Fasching ist. An einem gewöhnlichen Mittwoch Nachmittag trägt Fritz Spengler also knallrote Lacklederschuhe. In Gedanken geht er die bevorstehende Probe durch. Die Reutter Arie sitzt noch nicht perfekt und da ist es ihm eigentlich egal, ob der Schneematsch unter der Sohle klebt, ob die Zehen längst taub sind, ob die Kleinkinder ihren Zeigefinger heben und kichern. 76 Paar Schuhe besitzt Fritz. Morgen wird er die Silbernen tragen. Wenn der kräftige Junge mit den weichen Gesichtszügen dann die Bühne des Münchner Konzerthauses Gasteig betritt und anfängt zu singen, werden einige Zuhörer auf ihren Sitzen nach vorne rutschen müssen vor Erstaunen. Da steht ein Mann, der singt wie eine Frau. Das klingt im ersten Moment ziemlich komisch. Im zweiten hört es sich dann aber auch mit offenen Augen und klassikfernen Ohren außergewöhnlich gut an. Sehr klar, sehr rund, sehr direkt. So, dass es den einen Leuten die kleinen Härchen im Trommelfell nach oben stellt, anderen Leuten die Tränen in die Augen treibt. Und wieder andere zu glucksendem Gelächter provoziert. „Alle waren sich einig: Er ist ein Phänomen“ Fritz singt in der Stimmlage eines Countertenors. Es ist gar nicht lange her, da wurden Countertenöre als Witzfiguren verspottet. Sie galten als Anbetungsobjekte exzentrischer Musikbesessener und als überflüssige Wiedergeburt der lang schon ausgestorbenen Kastraten. Als sich die ersten Countertenöre in den 1960er Jahren anschickten, per natürlicher Kopfstimme so hoch wie die Kastraten von einst zu singen, galt das als tuntig und weibisch. Erst seit wenigen Jahren kann man als Countertenor überhaupt an Hochschulen Gesang studieren. Derzeit boomen Barock-Opern, Barock-Festivals, Barock-Einspielungen und damit steigt auch das Job-Angebot für die Männer mit den Frauenstimmen. 250 Jahre lang waren sie völlig selbstverständlich festes Inventar in Opern, Oratorien oder Kammermusik-Stücken aller Art. Wenn der 19-jährige Niederbayer Fritz also gefragt wird, wie er um Gottes Willen darauf kommt, ausgerechnet Countertenor singen zu wollen, gäbe es eigentlich genug rationale Gründe für eine Antwort. Fritz aber zuckt mit den Schultern und stapft in seinen roten Schuhen schweigend durch den Schnee. Die Frage stellt sich für ihn nicht. Seit Oktober studiert Fritz am renommierten Mozarteum in Salzburg. Vergangenes Jahr bewarben sich dort 160 junge Sänger um 12 Studienplätze. Sie mussten vier Arien und ein Lied singen, auf dem Klavier vorspielen und aus Notenfolgen Akkorde herauslesen. Kjellaug Tesaker, eine elegante Dame mit grauem Strickrock, roten Haaren und strenger Lesebrille auf der Nasenspitze, saß als eine von 15 Professoren in der Auswahl-Kommission. Übers Singen gebe es so viele Meinungen wie Sänger, sagt sie, aber bei Fritz waren sich alle einig: „Er ist ein Phänomen.“ Nicht nur, dass er mehr über Händel-Opern weiß als sie selbst. Es ist diese Vitalität, dieses Hände in die Hüften stemmen, diese Einfach-drauf-Los Mentalität, die Fritz von anderen Sängern unterscheidet. „Fritz ist eine Person, die sich freut beim Singen“, sagt sie. Und: „Seine Größe kommt dann zum Ausdruck, wenn er loslegen kann.“ Fritz brennt vor Eifer. Als Zugabe bringt er immer sein längstes Stück, nach einem Auftritt kann er oft stundenlang nicht aufhören zu singen. Fritz sagt, er kenne kein Lampenfieber. „Wenn’s schief geht, geht’s schief.“ Er lacht bei der Frage, ob es denn jemals schief gegangen ist. Dann schüttelt er den Kopf.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Wer als Bester von allen Bewerbern am Mozarteum aufgenommen wird, muss sich nicht wirklich rechtfertigen für das, was er tut. Trotzdem hat Fritz vor ein paar Monaten einen Satz aufgeschrieben, der ihm wichtig ist. Er steht schnörkellos ausgedruckt auf einem weißen Blatt Papier und lautet: „Seit ich fünf Jahre alt war, wusste ich, dass ich Sänger werden wollte. Gesang – der Countertenor – bedeutet für mich Ausdruck, Liebe, Leidenschaft, Stolz, Trauer und sämtliche Empfindungen, die ein Mensch haben kann.“ 45 Countertenöre sollen in Deutschland professionell tätig sein. Fritz aus Passau will die nächste große Nummer werden. Über 60 Konzerte hat Fritz mittlerweile im In- und Ausland gesungen. Seinen Alltag verbringt er zwischen überheizten Regionalzug-Abteilen, holzvertäfelten Konzertsälen und gelbstichigen Musikschulwänden. Mit 18 gab er sein Opern-Debüt, verdiente erste größere Gagen und kaufte vor jedem Auftritt neue Schuhe. „Jugend Musiziert“-Preise sackte er wie selbstverständlich ein, vergangenes Jahr sogar den internationalen Lions-Gesangswettbewerb auf Gut Immling als bester Nachwuchskünstler. Die Urkunde hängt goldgerahmt über seinem Sofa, direkt neben dem Ölbild, das einen rundgesichtigen Jüngling mit Locken zeigt, unter dem das Wort „Music Star“ steht. In schwarzen Großbuchstaben. „Es ist schon schön, Erfolg zu haben“, sagt Fritz. Manches hat er deswegen aber auch nicht. Den Führerschein zum Beispiel zwecks fehlender Zeit. Das Abitur zum Beispiel zwecks fehlender Noten. Als „schlimme Zeit“ bezeichnet Fritz die letzten zwei Schuljahre. Mehr sagt er dazu nicht. „Man hat auch sehr wenig richtige Freunde.“ Mit „man“ meint er sich selbst. Das war schon zu Schulzeiten so. Als Fritz mit 14 bei Mozart-Stadtführungen in Passau das junge Wolferl spielte, als Fritz mit 16 auf dem Kreuzfahrtschiff „Amadeus“ singend die Donau bereiste, als Fritz seine Mutter bitten musste, ihn auf den Opernball zu begleiten. Weil seine Mitschüler womöglich lieber an einem der drei Passauer Flüsse saßen und Bier tranken. Ein Mal im Monat, sagt Fritz, höre er auch Die Ärzte. Auf voller Lautstärke. Vor kurzem sei er an der Supermarktkasse von einer Frau erkannt worden, auf dem Weg zum Bahnhof gleich nochmals. Im Passauer Schuhgeschäft bekommt er mittlerweile Prozente. Gleichaltrige sind es nicht, die ihn bewundern. 27 Fans verfolgen seine Taten auf Facebook. Vor kurzem hat er den Bruder gebeten, einen Facebook-Account für seine Eltern anzulegen. Seit er nicht mehr in Passau lebt, besucht er sie nur noch selten. „Der Fritz lebt jetzt in seiner Zauberflötenwelt“, sagt die Mutter. Sie hat ihn gehen lassen müssen. Es ist vielleicht das erste Mal in seinem Leben, dass er sich nicht gegen sein Umfeld durchsetzen muss. Wenn Fritz erzählt, dass die erste Oper vor 403 Jahren aufgeführt wurde, könnte man meinen, dass die weiße Umhängetasche das einzige Merkmal ist, das ihn als zugehörig zur Generation der 19-Jährigen ausweist. Vielleicht könnten es auch die weißen iPod-Stöpsel sein. Doch in ihren Kabeln fließt Klassik. Tag ein, Tag aus. Ein Mal im Monat, sagt Fritz, höre er auch Die Ärzte. Auf voller Lautstärke. „Schöne Schuhe“, sagt ein Mitstudent. Er hebt nur leicht die Augenbrauen, als er Fritz die schwere Eingangstüre zum Mozarteum offen hält. Kurz vor Unterrichtsbeginn dringen klirrende Sopranlaute durch die dicken Wände der anderen Übungsräume. Fritz’ männlicher Mezzo-Sopran, auch Altus genannt, klingt viel weicher und anschmiegsamer als manch kreischendes Coloratur-Inferno aus der Kehle einer Königin-der-Nacht Interpretin. „Pass auf, dass du vor Leidenschaft nicht zusammenfällst,“ mahnt Kjellaug Tesaker ihren Fritz später. Es ist tatsächlich ihr Fritz, ihre Entdeckung, ihr Rohdiamant. Ihr Schüler, der das Singen mit „absoluter Ernsthaftigkeit“ betreibt. Der aber trotzdem lacht und flucht, wenn der Vivaldi plötzlich aus der Spur läuft. Der sich beim Singen die Haare rauft, die Hemdsärmel hochkrempelt und vor Körperspannung zehn Zentimeter Bauchumfang verliert.
Fritz ist keiner, der die Augen schließt, um seinen Tönen besondere Empfindungen mit auf den Weg zu geben. Er ist kein Musikschul-Streber, der über das Parkett schwebt ob seiner hochkulturellen Überlegenheit. „Hochnäsigkeit ist immer ein Zeichen fehlender Reife“, sagt Kjellaug Tesaker. Wer mit Fritz zusammen durch Salzburg läuft und seine Schuhe für einen Moment außer Acht lässt, wer sieht, wie herzlich er sich mit dem Mann am Gemüsestand, der Frau im Schnellrestaurant und dem Flaschensammler am Hauptbahnhof unterhält, bemerkt, dass Fritz vor allem eines ist: ziemlich bodenständig. Auch im Klassik-Gewerbe ist er also möglicherweise eine Ausnahme. Bei seiner Geburt lief Mozarts „Zauberflöte“ Ein „seltsames Kind“ sei der Fritz gewesen. So formuliert es seine Mutter. Eines, das mit anderen Jungs niemals Playmobil oder Fangen spielte. Eines, das schon beim Kinderfasching der schräge Vogel war, weil natürlich keines der Kleinkinder den Papageno aus Mozarts Zauberflöte kannte, als der sich Fritz verkleidet hatte. Fritz war ein Kind, das die Decke übers Bügelbrett warf, den Vorhang aufzog und los sang. Ein Kind, das nach nur sechs Monaten auf der Domsingschule, als Solist beim Sommerkonzert auftreten durfte und ein Lied sang, das dem Vater heute noch die Tränen in die Augen treibt. „Geh aus mein Herz und suche Freud“ lauteten die ersten Zeilen. Gabi Spengler, Fritz’ Mutter, ist Inhaberin eines Buchhaltungs- und Lohnsteuerhilfe-Beratungsbüros. Detlef Spengler, Fritz’ Vater, war bis zu seiner Pensionierung selbständiger Außendienstbeauftragter einer Versicherung. Andreas Spengler, Fritz’ Bruder, macht in Passau seinen Master in Medien- und Kommunikationswissenschaften und legt in seiner Freizeit gerne Hip-Hop-Platten auf. Gabi Spengler singt zwar im Chor und Detlef Spengler ist Vorsitzender der Deutsch-Italienischen Gesellschaft, aber wenn sich der Vater als „völlig unmusikalisch“ bezeichnet, die Mutter bei jedem Chorauftritt „vor Lampenfieber stirbt“ und der Bruder an Heilig Abend die „Stille Nacht“ nur vom Text her zusammenbringt. Dann kann man wirklich nicht sagen, dass dem kleinen Fritzi das Singen in die Wiege gelegt wurde. Wobei: Während seiner Geburt lief die Zauberflöte. Als Schmerzmittel gegen die Wehen. Vielleicht ist das eine Erklärung.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
„Ich habe mich dann schon gewundert, dass der Fritzi mit 16 noch Knabensopran singt“, erzählt Gabi Spengler. Dass es Countertenor überhaupt gibt, wusste sie bis vor ein paar Jahren gar nicht. Damals sang Fritz bei dem bekannten Münchner Staatsoper-Tenor und Gesangslehrer Saverio Suarez-Ribaudo vor. Heute ist er sein Lehrer, Berater und irgendwie auch Beschützer – ein väterlicher Freund, während Fritz leibliche Eltern als „größte Stütze in meinem Leben“ oft nur am Telefon für ihn da sein können. Suarez-Ribaudo erkannte als erster Fritz’ Talent als Countertenor. In einer der ersten Gesangsstunden sagte er seinem Schüler: „Wer Counter singen will, muss kämpfen können.“ Was er meint, wird klar, als der nächste Sänger sein Atelier betritt. Es ist ein Mann mit tiefer Stimme und Vollbart, der Fritz auf die Schulter klopft und ihn mit großem Gestus „el grande Fritzi“ nennt. Natürlich ist das nett gemeint. Sein Lachen hallt trotzdem nach. „Wer sich beschwert, kann es eigentlich auch gleich lassen“, sagt Fritz. Er beschwert sich nicht. Seine Tage beginnen morgens um 6 Uhr und können nachts in einem Fastfood-Restaruant am Münchner Hauptbahnhof enden. Konzert-Proben werden um eine Stunde überzogen und wenn dann die Dirigentin zum fünften Mal die Frau am Begleitinstrument mahnt, den Takt aus einer Viertel- und nicht aus einer Achtelempfindung heraus zu starten, kann es sein, dass Fritz auf einem dieser staksigen Metallstühle zusammensinkt, für einen Moment die Augen schließt, und gähnt. Das Schlimmste am Beruf des Sängers sei das Alleinsein, sagt Fritz. Er erzählt das ziemlich nüchtern. Das schöne Hotelzimmer, in dem man als Sänger nach dem Konzert alleine ankommt, alleine einschläft und am nächsten Morgen wieder einsam aufwacht. In zehn Jahren möchte Fritz ganz gerne einen Stückvertrag an einer großen Oper haben. Pro Auftritt kann ein gefragter Solist fünfstellige Beträge verlangen. „Natürlich weiß man nie, ob man es schafft“, sagt Fritz. Musikalität, Willen, Kraft, Durchsetzungsvermögen, Gesundheit, psychische Stärke und seelische Empfindsamkeit – all das unterscheidet einen sehr guten Sänger von einem guten Sänger. Fritz’ Gesangslehrerin in Salzburg drückt es so aus: „Vor allem muss es einen sehr großen Hunger nach Singen geben.“ Und ja, Aussehen sei manchmal auch wichtig. Vielleicht muss die Bonbon-Schatulle auf Fritz’ Wohnzimmertisch, vielleicht müssen die Marmeladengläser von Mutter im Kühlschrank dann eines Tages weichen. Vielleicht bleibt Fritz aber auch einfach anders. Anders als der feingliedrige Countertenor und Klassikstar Philippe Jaroussky zum Beispiel, der sich auf dem Booklet zu seiner CD „Heroes“ schon sehr in den Fotostudio-Wind stemmen muss, um nicht umzukippen.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
„Ich halte nichts von bequemen Schuhe“
Selbstvertrauen, um sich gegen die Konkurrenz zu behaupten, hat Fritz genug. Als er im Schauspiel-Kurs am Mozarteum einen Liebestollen spielen soll und von dem Lehrer gefragt wird, in wen er verliebt sei, antwortet er ohne Arroganz und ohne zu überlegen: „In mich selbst.“ Wenn Fritz also am Mittwoch im Gasteig den ersten Ton seiner Reutter-Arie anstimmt, und wenn dann ein leichtes Raunen durch den kleinen Konzertsaal wehen wird, kann es sein, dass Fritz ein kurzes Lächeln über das Gesicht huscht.
Natürlich ist es einfach, sich über ihn lustig zu machen. Es ist einfach, ein „Sex and the City“-Poster an seiner Zimmertüre seltsam zu finden. Es ist einfach, sich über seine Porzellan-Sammlung zu wundern. Es ist einfach, einen Mann komisch zu finden, der Marie Antoinette faszinierend findet. Ziemlich schwierig ist es dann aber trotzdem, seinen Gesang nicht herrlich zu finden.
„Ich halte nichts von bequemen Schuhen,“ sagt Fritz als er am Abend nach der letzten Probe müde durch den Schnee wankt. Er meint das eigentlich gar nicht zweideutig. Er geht eben seinen Weg. Auch wenn er der einzige Mensch sein sollte, der dabei rote Lacklederschuhe trägt. Das Schönste am Singen, sagt Fritz, sei die Stille nach dem Schluss. Diese drei Sekunden Schwerelosigkeit zwischen dem letzen ausklingenden Ton und dem ersten einsetzenden Applaus.
Fritz Spengler singt am 3.2.2010 um 18 Uhr im Kleinen Konzertsaal des Münchner Kulturzentrums Gasteig.
Text: anna-kistner - Fotos: Maria Dorner