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"Gazelle": Ein stolzes Magazin für stolze Migrantinnen

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Der Augenblick, der Sineb El Masrs Leben veränderte, ist ein Jahr her. Sineb arbeitete als Erzieherin an einer Grundschule für Hörgeschädigte, half bei den Hausaufgaben, unterstützte Schüler im Unterricht, gab Vertretungsstunden. Ein Großteil der Schüler stammte aus Migrantenfamilien, wie Sineb. Die Eltern der 24-Jährigen, die in Deutschland geboren und in einem Dorf in Niedersachsen aufgewachsen ist, stammen aus Marokko. Dann lief Sinebs Arbeitsvertrag aus. Sie hatte eine schwangere Lehrerin vertreten, bewarb sich jetzt um eine feste Anstellung. „Wir sind eine katholische Schule, wir stellen nur Katholiken ein“, sagte der Schuldirektor. Sineb schäumte vor Wut. „Ich war für die Stelle ausgebildet!“, sagt sie. „Und ich konnte wunderbar einbringen, dass ich eine Migrantin bin, dadurch hatte ich einen besonderen Draht zu den Schülern.“ In diesem Augenblick beschloss Sineb, einen alten Traum zu verwirklichen. Jetzt wollte sie es wissen. Noch heute packt Sineb El Masr die Wut, wenn sie sich an jenen Tag erinnert. „Sie wollen keine Ausländer, selbst, wenn sie für einen Job kompetenter sind“, sagt sie, und in ihrer Stimme klingt Zorn. Die Wut scheint gar nicht zu Sineb zu passen: Sie ist eine junge, zierliche Frau mit hübschem Gesicht, die viel lacht. Sie sitzt in ihrem Büro, hinter sich eine große, bunte Weltkarte, an der Wand gegenüber hängt ein romantisches Panoramafoto mit der Überschrift PARIS. Doch Sineb ist wütend. Weil sie von der Welt übersehen wird. Damals in der Schule, aber auch heute noch. Das will sie jetzt ändern, mit ihrer Zeitschrift Gazelle: ein Frauenmagazin über Mode, Gesundheit – und den deutschen Alltag von Migrantinnen.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Sinab, die Macherin Sineb redet wie ein Wasserfall davon, was schief läuft in Deutschland – von der Integration, die zwar jeden Tag in den Medien verhandelt wird, aber aus Sinebs Sicht immer einseitig. Egal, ob es der Integrations-Fragebogen ist oder die Papst-Rede, Sineb fühlt meist gleich: „Bei Sabine-Christiansen denke ich immer, nun sagt doch endlich mal, was wir denken! Es gibt kein ehrliches Interesse an uns. Niemand fragt: Wie fühlt ihr euch eigentlich hier?“ Wenn niemand anders für die jungen Frauen mit Migrationshintergrund spricht, dann tue ich es eben, dachte sich Sineb. Gebrodelt hat die Idee schon lange in ihr. Schon mit 16 schreibt sie einen 600-Seiten-Krimi, der in Marokko spielt, doch er wird nicht veröffentlicht. Darauf will Sineb ein Sachbuch über die Palästina-Frage schreiben, scheitert wieder, doch gibt nicht auf: Sie notiert weiter Ideen, zu Drehbüchern, Kurzgeschichten, Essays, behält dies aber alles für sich. Sie spürt, dass sie ihr Format noch nicht gefunden hat. Langsam entwickelt sich die Idee zu Gazelle. Es gibt, analysiert Sineb, keine Frauenzeitschrift, die sie anspricht. Das, denkt sie, geht vielen Migrantinnen so. In konventionellen Magazinen kommen Ausländerinnen einfach nicht vor. Nicht, dass sie in den Medien nicht präsent wären – aber stets als Problemfall oder Unterdrückungsschicksal. „Es gibt diese Problemfälle“, sagt Sineb. „Aber es werden doch nicht alle Musliminnen von Islamisten unterdrückt! Es gibt viele, die ein erfolgreiches, selbstbewusstes Leben führen!“ 2003 wird ihre Idee konkreter. Auf der täglichen Zugfahrt zur Arbeit schreibt sie erste Probetexte. Am Abend geht sie in die Bahnhofsbuchhandlung, sichtet die Zeitschriften, die dort ausliegen. Gibt es vielleicht schon ein Magazin, wie sie es erträumt? Sie stößt auf französische Frauenzeitschriften für Migrantinnen. Genau das, was Sineb machen will. Wenn es in Frankreich funktioniert, warum also nicht auch hier? Nun ist sie nicht mehr zu bremsen. Sie ruft Druckereien an: Wie viel kostet es, 10 000 Hefte zu drucken, 50 bis 60 Seiten, farbig, auf Hochglanzpapier? Als erstes muss Geld her. Sie hat selbst einige Ersparnisse, aber das allein reicht nicht. Sie fragt ihre Eltern. „Sie waren zuerst besorgt, aber sie wussten ja, dass ich schon jahrelang an meiner Zeitschriftenidee gewerkelt hatte“, erzählt Sineb. Die Eltern leihen ein paar tausend Euro. Sinebs Freunde spüren, dass sie nun wirklich ernst macht. Viele sind schockiert. Weißt du, was du da für ein Risiko eingehst?, fragen sie. „Auch ich hatte viel Zweifel, aber ich dachte: Ich will nicht wie die sein, die immer nur reden, ohne wirklich etwas zu tun.“ Einige von Sinebs Freundinnen sind aber schnell überzeugt. Sie sind bereit einzusteigen. Aber es sind nur ein, zwei, und es soll ein großes Team sein, damit es eine richtige, prall gefüllte Zeitschrift wird. Sineb durchforstet das Internet und mailt Teilnehmerinnen von Gesprächsforen an: Mir gefallen eure Beiträge – wollt ihr nicht bei Gazelle mitmachen?

Schließlich hat Sineb ein Team zusammen, das über die ganze Welt verteilt ist, in Jordanien, Gambia, Köln, Tübingen, Kiel, Dortmund – keine zwei am gleichen Ort. Ist auch nicht so wichtig, meint Sineb. Wir haben endlich eine Stimme, das zählt. Räumliche Distanzen sind da das geringste Problem. Man tauscht sich per Telefon aus, die Redaktionssitzungen laufen über Chat, es ist nicht ideal, aber es geht. Was fehlt, ist eine Grafikerin. Kurzerhand lernt sich Sineb in eine Layoutsoftware ein und setzt die Texte selbst. Dann ist die Gazelle endlich da. Das Magazin ist ein freudiger Befreiungsschrei – endlich eine eigene Bühne! Das Heft handelt von emanzipierten Migrantinnen: In einem Interview erzählt eine 18-Jährige, wie sie allein von ihrer Mutter groß gezogen wurde. Geschiedene, allein lebende Frauen sind unter Migranten ein Tabuthema. Offensiv titelt eine andere Headline: „Ich bin Mischling, das ist gut so!“ Eine weitere Autorin schreibt über das vermeintliche Kompliment „Sie sprechen aber wirklich gut Deutsch“: „Liebe kleinkarierte Spießer! Ob ich gut deutsch spreche? Unter uns, mein Englisch und Arabisch sind auch sehr gut. Zugegeben, mein Türkisch, Persisch und Tashelhit könnten besser sein, von meinem Französisch ganz zu schweigen, aber Gott weiß, ich arbeite daran. Ich war ich, bin ich und bleibe ich.“ Gazelle gibt den Gedanken junger Migrantinnen Raum, die zwischen zwei Welten leben. So wie Sineb: „Ich bin keine Ausländerin, aber ich fühle mich trotzdem nicht willkommen. Aber Marokko ist für mich noch fremder, da habe ich nie gelebt. Mein Zuhause ist hier.“ Das Telefon in Sinebs Büro klingelt. Einer der Zeitschriftengroßhändler, mit denen sie verhandelt. Es gibt Probleme. Die Erstausgabe ist nicht richtig ausgeliefert worden. Sineb schreit in den Hörer: „Nein, wir können nicht abwarten, bis es sich von allein einrenkt. Wir sind auf den Verkauf angewiesen!“ Laut Gesetz müssen Großhändler alle Zeitschriften, die ihnen angeboten werden, auch in den Läden auslegen. Die Realität läuft anders. Gazelle gibt es erst nur in Bahnhofsbuchhandlungen. Und auch da nur in seltsamen Ecken: nicht neben Emma und den gängigen Frauenmagazinen, sondern mal zwischen Diätzeitschriften, ein Mal sogar in der Pornoabteilung. Die Händler sind überfordert. Was soll das sein, Gazelle? Ein „Migrantinnenmagazin“? Es gibt bislang in Deutschland keine Schublade, in die man selbstbewusste, liberale Migrantinnen stecken könnte. Die Leserinnen aber schreiben begeistert an Sineb: Endlich ein Magazin, das uns versteht! Doch Gazelle ist erstmal ausgebremst: Wegen des zähen Vertriebs fehlt Geld für die zweite Ausgabe. Wenn Sineb darüber spricht, packt sie wieder die Wut. Sie braucht das Geld. Denn es gibt noch viel zu sagen. Warum die Jobsuche für Migrantinnen so schwierig ist. Über Zwangsprostitution in Russland. Über einen neuen Umgang mit dem Islam. Es gibt noch so unendlich viel zu sagen.

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