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Fast wie Zuhause
Es ist nicht einfach, an deutschen Unis jemanden zu finden wie Vanessa. Jemanden, der nach seiner Rückkehr aus dem Auslandssemester nicht diese immer gleiche Geschichte erzählt, die augenzwinkernd mit dem bürokratischen Wahnsinn fremdländischer Prüfungsämter beginnt und mit einer alles überstrahlenden Lobpreisung von Land und Leuten endet. Nach vier Monaten in Los Angeles sagt Vanessa: „Auslandssemester werden vollkommen überbewertet.“
Im Ausland zu studieren hat sich zu einem regelrechten Fetisch im Uni-Leben entwickelt. Es steht für Weltgewandtheit, für interkulturelle Kompetenz, für ein zusammenwachsendes Europa, für Frieden, Verständnis, Toleranz, für das Gute schlechthin. Von 2000 bis 2008 hat sich die Zahl der deutschen Studierenden im Ausland auf 102 800 verdoppelt, die meisten gehen über das Erasmus-Programm der Europäischen Union. Insgesamt verbringen rund 15 Prozent der deutschen Studenten einen Teil ihres Studiums jenseits der Landesgrenzen. Das ist schon recht nah an der Zielmarke, die die europäischen Hochschulminister anpeilen: 20 Prozent bis 2020.
Ein Auslandsaufenthalt scheint ein derartiges Muss im Lebenslauf zu sein, dass Bewerbertrainer allen Daheimgebliebenen raten, im Vorstellungsgespräch kleinlaut zuzugeben, die Vorzüge der Ferne unterschätzt zu haben. Dabei wäre es mittlerweile wohl eher an der Zeit für die Gegenfrage. Überschätzen Hochschulen, Politiker, Arbeitgeber und auch Studenten nicht längst den Wert von Auslandssemestern?
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Als Vanessa im vorigen August am Flughafen stand, war da natürlich auch das Kribbeln, das Gefühl, in ein großes Abenteuer aufzubrechen. Bisher war die 23-jährige Geschichtsstudentin aus Frankfurt nie länger als zwei Wochen von zu Hause weg gewesen, und jetzt: vier Monate Studium in den USA, mit einem großen Ozean dazwischen und neun Zeitzonen. „Ich wollte was von der Welt sehen“, sagt Vanessa, „deshalb ging’s auch ganz ans andere Ende der Welt.“
Als sie 9300 Kilometer westlich von Frankfurt an der Pazifikküste gelandet war und die ersten Sightseeing-Touren hinter sich hatte, stellte Vanessa aber ziemlich bald fest: So anders ist es gar nicht. Sie teilte sich mit anderen Deutschen das Appartement. Wenn sie Ausflüge machte, dann ebenfalls immer nur mit anderen Deutschen, die sich berauschten am Gefühl, so weit, weit weg zu sein. „Mich persönlich hat es genervt, dass jeder um mich herum permanent meinte, wie toll doch alles ist“, erzählt Vanessa. „Das war Unsinn. Klar, schlecht war’s nicht. Aber es wurde ziemlich schnell normal.“ Wie zu Hause eben. Nur dass die Menschen von zu Hause 9300 Kilometer Luftlinie entfernt waren.
Vanessas Bilanz: wenig Abenteuer und viel Alltag, der aber mit umso mehr Heimweh erkauft war. Und das Heimweh wiederum durfte nicht sein, wo sich doch alle enthusiastisch in ihrer Internationalität bespiegeln. „Es wäre mir unfassbar peinlich gewesen abzubrechen“, sagt Vanessa.
Auch Julia, 23, die gerade an der Universität Uppsala Schwedisch studiert, wirkt eher ernüchtert von ihrem Auslandssemester. „Egal wo man hinkommt, man ist erst einmal Tourist“, sagt sie. Die Kontakte mit den einheimischen Studenten bleiben oberflächlich – kein Wunder, wenn sie erfahren, dass man sowieso nur bis Weihnachten im Land ist. „Und in den Kursen trifft man die meiste Zeit nur andere Erasmus-Studenten und da finden sich dann schnell die Landsleute zusammen“, erzählt Julia. „Ich spreche hier mehr Deutsch als Schwedisch.“ Ihr Fazit: In der kurzen Zeit gewinnt man vielleicht ein paar Facebook-Freunde mit schwedischen, französischen oder englischen Namen, die dem eigenen Profil ganz gut stehen. „Aber besonders viel über Land und Leute lernt man eigentlich nicht. Es ist wie Zuhause, aber ohne die Freunde und Gewohnheiten von zuhause.“ Julia will ihren Aufenthalt deswegen verkürzen und bald wieder zurückkehren an die Uni Greifswald.
Sieht man sich die Statistiken der Bildungsforscher an, ahnt man schnell, was hinter diesem Gefühl steht: Junge Leute wechseln heute zwar schnell das Land. Aber kaum ihr Milieu.
Eine gemeinsame Studie, die das Bundesministerium für Bildung und Forschung, das Deutsche Studentenwerk und das Hannoveraner Forschungsinstitut Hochschul-Informations-System (HIS) am Anfang des Jahres vorstellten, zeigt, wie deutlich die Entscheidung für ein Auslandsstudium vom Elternhaus abhängt: Studierende der höchsten sozialen Herkunftsschicht gehen doppelt so häufig ins Ausland wie Studierende aus der niedrigsten sozialen Herkunftsschicht. Und dabei hängt der Hochschulzugang in Deutschland ja selbst schon extrem stark davon ab, welchen Bildungsabschluss Mutter und Vater haben.
In dieses Bild passt auch das Schattendasein des Leonardo-Programms, das Erasmus-Äquivalent für Auszubildende und Berufsschüler, das noch nicht einmal einen eigenen Wikipedia-Eintrag hat. Gerade einmal drei Prozent der jungen Menschen in einer Berufsausbildung, das hat das Bundesinstitut für Berufsbildung kürzlich ermittelt, gehen ins Ausland. Das sind mehr als erwartet, aber immer noch lächerlich wenige gegenüber den unzähligen Erasmus-Studenten. Wer ins Ausland geht, muss doppelte Grenzposten passieren. Es gehen vor allem die Privilegierten unter den Privilegierten.
Und das passiert in ähnlicher Form nahezu überall in Europa. „Interessanterweise wird die Entscheidung für ein Auslandsstudium selbst in den Ländern stark von der sozialen Herkunft beeinflusst, wo der Hochschulzugang nicht so sehr herkunftsabhängig ist, wie zum Beispiel in Finnland, Irland oder den Niederlanden“, sagt Nicolai Netz, der beim HIS forscht und über Auslandsmobilität promoviert. Dafür gibt es viele Gründe. Das Geld zum Beispiel. Drei Viertel der deutschen Studenten im Ausland werden laut HIS-Zahlen während des Aufenthalts finanziell von ihren Eltern unterstützt. Wer dagegen jobben muss, um sein Studium zu finanzieren, überlegt sich zweimal, ob er die Stelle wirklich für ein paar Vorlesungen in Rom, Barcelona oder Birmingham kündigen soll. Aber, so vermutet Netz, auch viele weiche Faktoren, Lebensgefühle und Erfahrungen spielen eine Rolle: Wer Fernreisen mit seinen Eltern gewohnt ist, der dürfte auch eher für sein Studium mal die Koffer packen.
In den Wohnheimen von Stockholm bis Valencia begegnen sich also junge Menschen, die zwar unterschiedlich kochen, aber doch sehr ähnlich denken, deren Eltern ähnliche Berufe haben und die sich gerne einig sind, Filme lieber im Original statt synchronisiert zu sehen. Das als besonders kosmopolitisch hochzustilisieren, ist ein Selbstbetrug. Im Ausland treffen die Kinder der gehobenen europäischen Mittelschicht aufeinander, keine Kulturen.
Text: bernd-kramer - Collage: Katharina Bitzl