- • Startseite
- • jetztgedruckt
-
•
Er schmeichelt ihr, sie glaubt ihm
Als Linda und Ali sich kennenlernen, ist sie 16 und Ali zwei Jahre älter. Ali spricht sie an. Du siehst gut aus, sagt er, irgendwie besonders. Linda glaubt ihm nicht. Seine Worte klingen ihr zu unwahrscheinlich, um wahr zu sein. Sie ist nichts Besonderes. Wenn ihre Mutter nicht ihren Vater beschimpft, schreit sie Linda an. Räum' dein Zimmer auf. Warum bist du so schlecht in der Schule? Sie schlägt Linda ins Gesicht. Ihr Leben ist das einer Versagerin. Die Beschimpfungen, die Schläge, die Schule, der Streit ihrer Eltern. Ali sagt: Lass uns ans Meer fahren. Er hat ein Auto. Er ist nicht besonders schön, aber sein Gesicht ist süß und seine Worte streicheln sie, als seien sie die Medizin, die sie braucht, um gesund zu werden. Am Strand küsst er sie und sagt: Du bist einzigartig. Linda will es noch nicht glauben, da vertraut sie ihm schon, mehr als sie es je für möglich gehalten hätte. Ali ist für sie da. Wenn Linda in einer Pause Ali anruft und sagt: Bitte komm' vorbei und nimm mich kurz in den Arm, dann steht Ali zehn Minuten später vor ihr, drückt sie fest und verschwindet wieder. Wenn sie ihn anruft und sagt: Ich hasse meine Eltern, hört Ali ihr zu, auch wenn sie es zum zehnten Mal sagt. Ali ist ihr Freund, er ist ihr Rettungsanker. Sie liebt ihn, er gibt ihr, was sie braucht. Es kommt der Tag, an dem daheim alles zusammenbricht. Ihre Eltern schlagen sich und sie. Linda will weg. Linda ruft Ali an, sie fleht ihn an: Ich kann keinen Tag länger hier bleiben. Bring mich weg - da kennen sie sich gerade vier Wochen. Ali sagt: Ich habe einen Freund, er hat ein Haus, es gibt dort Zimmer. Linda sagt, dass sie ihn liebt. Dann bringt Ali sie fort.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Bärbel Kannemann kennt die Geschichte. Und auch, wenn sie sie nicht kennen würde, wüsste die 61-Jährige, wie sie weitergeht. Die kleine, resolute Frau kennt zahlreiche vergleichbare Schicksale. Sie sagt: Die Jäger erkennen ihre Beute an kleinsten Signalen, an Körperhaltung, am Gang. Sie und ihre Kollegin Anita de Wit kümmern sich um die Opfer. Sie sind Tag und Nacht für die Mädchen da, hören ihnen zu, wenn niemand mehr sonst ihnen zuhört. Sie kennen Verstecke, in denen die Opfer untertauchen können, notfalls jahrelang. Die Arbeit ihrer Ende 2007 gegründeten Stiftung (www.stoploverboys.nu) finanzieren sie aus eigener Tasche. Eine Nacht verbringt Linda mit Ali in einem Haus eines Freundes. Es ist nicht das, was er ihr versprochen hat: Nur eine kleine Kammer mit einer Matratze, aber immerhin. Am nächsten Tag bringt Ali sie zu einer Freundin. Er kauft Unterwäsche und sagt: Zieh das an. Linda zögert. Der Ton seiner Stimme ist ihr ungewohnt, es ist, als spreche jemand anderes durch ihn, sie ist verwirrt, zögert. Dann trifft eine Faust Lindas Gesicht, dann noch eine und noch eine, bis sie blutet und die Welt nicht mehr versteht. Ali sagt: Von nun an bist du eine Hure. De Walen heißt das Rotlichtviertel Amsterdams, es liegt nicht weit entfernt vom Hauptbahnhof und dem Stadtzentrum. In mehreren parallelen schmalen Gassen reihen sich rot beleuchtete Schaufenster. Wer hier arbeitet, zahlt 150 Euro Miete für eine Acht-Stunden-Schicht. Die Kunden zahlen zwischen 40 und 50 Euro für 20 Minuten. Touristen zwängen sich durch die engen Gassen, manche von ihnen verschwinden in den Schaufenstern, die anderen bestaunen die Frauen hinter den Glasscheiben, als seien sie exotische Tiere in einem Zoo. Eine von ihnen ist Linda. Das Geld, das sie verdient, nimmt Ali. Linda bleibt nicht einmal soviel, um sich etwas zu essen zu kaufen. Nach einem halben Jahr ist sie auf 32 Kilogramm abgemagert. Eine Kollegin rettet sie. Wenn ein Freier zwei Frauen will, gibt sie Linda ihren Anteil. Davon kauft sie sich einen Hamburger. Als Ali das erfährt, bricht er ihr zwei Rippen und würgt sie, so dass Linda tagelang nicht sprechen kann. Am nächsten Tag schickt er sie wieder zur Arbeit. Er droht ihr: Wenn du wegrennst, bringe ich nicht dich, sondern deine Familie um. Die Scham hindert sie, sich jemanden anzuvertrauen. Ihr Selbstvertrauen reicht nicht einmal mehr für einen Fluchtgedanken aus. Sie ist nur noch Objekt der Wünsche anderer Menschen, Männer. "Loverboys", sagt Bärbel Kännemann. Sie hat das Wort in den letzten Monaten so oft verwendet, dass es seinen kitschigen Klang verloren hat. Ein holländischer Journalist brachte es vor einigen Jahren in Umlauf in Anlehnung an den Film "Dirty Dancing", in dem sich die Protagonistin "Baby" in einen Mann verliebt, der nicht ihrer Schicht entstammt. Seitdem geistert der Begriff durch die Medien, die Politik und die Gesellschaft. Ein Report des Willem Pompe Instituts für Kriminalwissenschaften Utrecht aus dem Jahr 2004 geht davon aus, dass mindestens 100 der 400 Prostituierten im Amsterdamer Rotlichtviertel Loverboy-Opfer sind. Die christliche Hilfsorganisation Scharlaken Koord geht von 400 aus. Viele stammen aus holländischen Mittelschichtsfamilien. Die Zuhälter jedoch haben nahezu alle einen Migrationshintergrund - vor allem Marokkaner, aber auch Türken und Surinamer. Bärbel Kannemann ist sich sicher: Die Täter sind organisiert und sie folgen immer demselben Schema: Es beginnt mit romantischen Versprechungen und endet in größtmöglicher Erniedrigung. Holländische Medien sprechen von 2000 bis 5000 Opfern jährlich. Bis zu zehn Anfragen erhält Bärbel Kannenmann pro Woche - von Mädchen und vor allem von Eltern, deren Töchter vermisst gemeldet wurde. Nach zwei Jahren in der Prostitution ist Linda kokainabhängig und bis auf die Knochen abgemagert, "eine lebende Tote", wie sie sagt. Als sie hört, dass Ali sich eine Waffe besorgen will, gelingt ihr das Unwahrscheinliche: Sie flieht. Hilfsorganisationen bringen sie an einen geheimen Ort außer Landes. Sie macht einen Drogenentzug, nimmt erstmals wieder Kontakt zu ihrer Mutter auf. Langsam kehrt sie zurück in die Welt, die sie mit 16 verließ. Sie sagt vor Gericht gegen Ali aus. Er landet für zehn Monate im Gefängnis. Heute ist sie Mitte 20. Es ist das erste Mal, dass sie ihre Geschichte erzählt. Sie raucht, trinkt Cola, isst einen Eisbecher und Tapas in einem Scheveninger Strandlokal. Sie leidet an einem posttraumatischen Stresssyndrom und musste lange Psychopharmaka nehmen. Das Wort "Loverboy" fällt oft an diesem Nachmittag. Einmal dreht sie ihren Kopf ruckartig um 180 Grad, sie glaubt für einen Moment, einen südländisch aussehenden Mann als Loverboy erkannt zu haben. Loverboys scheinen immer überall anwesend zu sein.
2005 erschien eine wissenschaftliche Arbeit mit dem Titel "Loverboys: The Media Construction of a New Crime". Die Autoren weisen nach, wie der Begriff seit Ende der Neunziger eine steile Karriere in den holländischen Medien nimmt: Meldungen überbieten sich gegenseitig mit Opferzahlen, die sich aber stets nur auf Aussagen von Hilfsorganisationen und Betroffenen stützen. Verlässliche Statistiken seien nicht vorhanden. Die Autoren sprechen deswegen von einer "Moral Panic." Auch das Phänomen, dass manche Zuhälter Mädchen mittels "romantischer Manipulation" in die Prostitution locken, sei Jahrhunderte alt. Das medial verbreitete Stereotyp, junger ausländische Männer, die noch jüngere holländische Mädchen in die Prostitution treiben, ist Wasser auf die Mühlen derer, die von gescheiterter Integrationspolitik und "Überfremdung" sprechen. Bärbel Kannemann hat mit Politik nichts zu tun, sie will nur den Opfern helfen. Sie sagt: "Loverboys arbeiten grenzüberschreitend, deshalb ist auch in Deutschland Aufklärung nötig." Vor einigen Wochen erschien ein Artikel in der Bravo Girl, darin erzählt ein Loverboy-Opfer ihre Geschichte, die der Lindas frappierend ähnelt: Ein junger, gutaussehender Mann chattet sie an, schreibt Dinge, die sie hören will, spricht von Liebe. Sie treffen, küssen und verlieben sich. Es folgt eine jahrelange Odyssee durch die Tiefen der Prostitution. Daraufhin sagt Bärbel Kannemann, haben sich auch mehrere deutsche Mädchen gemeldet, zwischen 13 und 15 Jahren. Tagelang mailen sie hin und her. Eines der Mädchen erzählt von ihrem südamerikanischen Freund, der ihr von der großen Liebe vorschwärmt. Bärbel Kannemann findet heraus, dass der vermeintliche Südamerikaner holländische Wörter benutzt. Das Mädchen, sagt sie, ist jetzt auf einem guten Weg. Sie hat sich von ihm getrennt. Dem deutschen Bundeskriminalamt (BKA) sind Loverboys ein Begriff, nur gibt es keine Zahlen: "Das Phänomen fällt unter die Kategorie Zwangsprostitution - ob und in welchem Umfang auch mit ,romantischen Methoden' gearbeitet wird, darüber geben die Zahlen keine Auskunft", sagt Anke Spriesterbach, eine Pressesprecherin des BKA. Durch die Presse ging 2005 der Fall der Hamburger "Marek-Gruppe", einer Vereinigung von Zuhältern, die Frauen unter 21 ansprachen und ihnen die große Liebe versprachen. Irgendwann stellten sie die Mädchen vor die Wahl: Entweder du gehst anschaffen oder ich trenne mich von dir. 140 Mädchen sollen so in die Prostitution gebracht worden sein. Die meisten der 85 Täter wurden frei gesprochen, das Gericht attestierte, dass beim Anwerben der Frauen "kein Zwang, Druck oder Schläge angewandt worden seien." Vor kurzem suchte ein Loverboy-Opfer Unterschlupf in Bärbel Kannemanns Wohnung. Ihr Name war Angelique, ihre Geschichte ist in der Bravo Girl nachzulesen. Nach zwei Tagen sagte sie, sie wolle Schoko-Eis kaufen gehen; sie kam nie wieder. In der Nacht zuvor hatte Bärbel Kannemann junge Männer vor ihrer Wohnung in einem Auto sitzen gesehen. "Loverboys", sagt sie und dass sie in ihrem Leben noch nie so viel Angst hatte wie in dieser Nacht. Bärbel Kannemann war vor ihrer Pensionierung Polizistin. Sie jagte Betrüger und Wirtschaftsverbrecher. Sie sagt, sie erkenne Loverboys auf der Straße. Woran? An ihrem Aussehen, ihrem Gang, an ihrer Freundlichkeit - sie zögert - an ihrer übertriebenen Freundlichkeit. Dann zeigt sie auf Fotos auf ihrem Laptop und sagt, als sprächen die Bilder für sich: "So sehen Loverboys aus." Es sind Bilder junger Männer mit einem südländischen Teint, mit einem mal verträumten, mal herausfordernden Blick. Bilder, wie es sie zu Tausenden auf Kontaktplattformen im Internet gibt.