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Ein Samstag bei den Toten

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Es ist heiß an diesem Samstagnachmittag, das Autolenkrad ist wie eine Herdplatte, man sollte es nicht anfassen, aber man muss, denn sonst teilt man sich den Weg zum nächstbesten See mit verschwitzten Menschen in der S-Bahn. Und dann? Dann ist alles überfüllt. Liegewiesen an den Badeseen, Cafés, der Englische Garten, alle öffentlichen Plätze Münchens quellen über vor Menschen, der Geräuschpegel ist stabil auf Discomodus und die Schattenplätze sind behandtucht seit spätestens sieben Uhr. Schön, wenn man das so haben will – ungünstig, wenn einem zu Hause die Decke auf den Kopf fällt, aber man trotzdem seine Ruhe braucht. Ich für meinen Teil will Ruhe. Öffentlich-München ist somit keine Alternative mehr für mich.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



„Geh doch auf den Alten Nordfriedhof in der Maxvorstadt“, wurde mir von Freunden geraten. Mein erster Gedanke war: Meinen die das ernst? Ich soll mich an ein Grab setzen und Erdbeeren verdrücken, während trauernde Menschen vorbeikommen, um Blumen an Gräbern abzulegen? Eine Decke auszubreiten, während unter mir ein toter Mensch liegt? „Ja, aber“ heißt es dann.

„Ja, aber da liegen doch keine toten Menschen mehr“ zum Beispiel. Faktisch gesehen stimmt das, die Menschen in den Gräbern hier sind länger tot, als ich wahrscheinlich leben werde, die Biologie hat ihr Werk vollendet. Überspringen wir die unappetitlichen Details. Wichtig ist, dass dort seit 1944 niemand mehr begraben wird. Nichtsdestotrotz bleibt es ein Friedhof. „Ja, aber da gehen so viele Menschen hin.“ Auch kein überzeugendes Argument. Erst nach dem „Ja, aber man hat dort seine Ruhe“ mache ich mich auf den Weg.

Der Friedhof liegt mitten in der Betonwüste der Maxvorstadt, von der Außenwelt abgetrennt dank einer knapp drei Meter hohen Backsteinmauer. Wenn man vorbei am „Seniorentreff e.V.“-Schild den Friedhof betritt, fühlt man sich ein wenig wie eine Figur auf dem Brettspiel Mühle. Es gibt vier Eingänge, die geradeaus bis zur Mitte laufen und dazu zwei quadratisch angelegte Kieswege. Das äußere Quadrat ist die Joggerbahn, innen wird flaniert. Vor lauter Bäumen sieht man keinen Himmel mehr. Die Parkbänke sind in der Regel besetzt, nur selten von zwei Menschen, und wenn die sich unterhalten, ist es kaum lauter als ein Schweigen. Die Menschen spielen mit ihren iPods, hören Musik, lesen in Zeitungen, oder liegen in der Wiese; Pärchen, Kleinfamilien, Eigenbrötler – jeder für sich in den zahlreichen Freiräumen zwischen den Gräbern. Der durchschnittliche Abstand zwischen ihnen beträgt einen Weltrekord im Weitsprung.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Wenn man vorbeigeht an den Besuchern, heben sie ihre Köpfe nicht, und wenn man sie anspricht, lesen sie erst noch ihren Satz zu Ende, bevor sie reagieren. „Ich komme her seit – eigentlich schon immer. Wir sind hier mitten in der Innenstadt und trotzdem ist es so schön still“, sagen sie wie aus einem Mund. Die Backsteinmauern werfen den Verkehrslärm zurück auf die Straße, drinnen hört man so gut wie nichts mehr. Die Menschen kommen, suchen sich ihren Platz, fläzen sich auf die Wiese und das war's dann mit der Außenwelt. Ab und an schrillt ein Handy, ansonsten bleibt es ruhig. In den zwei Stunden, die ich hier sitze, schreien selbst die Kleinkinder nicht, aber Zufälle sollte man nicht überbewerten, nur weil sie ins Bild passen. Auf dem Friedhof werden auch Kindergeburtstage gefeiert und man darf bezweifeln, dass es dann leise und gemütlich zugeht.

Die Kinderfeiern sind der Stadt München ein Dorn im Auge, ebenso die Partys, die hier manchmal stattfinden. Es gibt viele Beschwerden von Menschen, die es als pietätlos empfinden, Friedhöfe als Feierzone zu missbrauchen. Negativ-Schlagzeilen à la „Münchner Friedhöfe verkommen zu Freizeitparks“ betonieren seit ein paar Wochen in den Köpfen das Bild einer immer moralbefreiteren Zivilgesellschaft. Also ist es nicht weiter verwunderlich, dass Katrin Zettler, Pressesprecherin des Münchner Referats für Gesundheit und Umwelt, schnell bei der Sache ist, um das alles zu kommentieren: „Grundsätzlich soll der Friedhof kein trostloser Ort sein, er soll lebendig bleiben, er soll zum Besuch einladen. Aber es bleibt ein Friedhof. Kindergeburtstage sind schwierig zu vermitteln; auch ein Oben-Ohne-Sonnenbad oder dass man sich am Grabstein anlehnt – das geht eigentlich nicht.“ Mit anderen Worten: Der Alte Nordfriedhof macht seinen Job zu gut. Er lädt die Menschen so sehr zum Verweilen ein, dass sie sich heimisch fühlen. Das ist nicht unbedingt ein schlechtes Zeichen für eine Stadt.

Es ist auch k ein neues Phänomen, dass sich die Menschen über die Laxheit beschweren. Geburtstage werden auf dem alten Nordfriedhof nicht erst seit zwei Wochen gefeiert; und wenn jetzt die Beschwerden zunehmen, muss man das auch im Kontext der Zeit sehen. Wenn man sich empört, bringt man das heute viel eher öffentlich zum Ausdruck. Die Stadt muss vermitteln zwischen den zahlreichen Gegnern aber auch zahlreichen Befürwortern, sie muss eine eigene Position finden. „Kein Student soll daran gehindert werden, ein Buch zu lesen. Aber man sollte wissen, dass man an einem besonderen Ort ist“, das ist die Position von Frau Zettler.

Lesen also. Ich setze mich auf eine Parkbank, schlage meine Zeitung auf, drehe Arcade Fire aufs Maximum und dann bin ich weg – sprichwörtlich. Ich weiß im Anschluss nicht mehr, was ich gelesen habe, das sollte ich fairerweise dazu sagen, aber ich schaue auch hin und wieder auf, um die Leute zu beobachten. Ein bisschen die der schlechte Detektiv, der ein Loch in seine Zeitung geschnitten hat. Mein Fehler, wenn man so will. Aber ansonsten ist da nichts, was mich ablenken könnte; ein Eichhörnchen vielleicht.

Dass der Friedhof einer der wenigen Orte ist, an denen man weniger Reize verarbeiten muss als in der werbeplakatierten Fußgängerzone, leuchtet ein. Hier ist einfach nichts außer Grabsteinen, Parkbänken und ein paar Menschen. Keine Bedienung, keine Wasserbomben, die „aus Versehen“ direkt neben meinem Kopf zerplatzen, keine Handtuchkämpfe um Schattenplätze, kein Kopfhörerzwang, weil die Menschen lauthals losbrüllen vor Lachen. Der Friedhof ist kein Ort, an dem man sieht und gesehen wird, man fühlt sich keinen fremden Blicken ausgesetzt, zupft sich nicht dauernd sein T-Shirt zurecht und guckt nach links, bevor man über den Kiesweg läuft, weil von hinten vielleicht ein Hipster auf seinem Fixie angeheizt kommen könnte. Das Chillen hier nötigt mir pathetische Sprüche auf: Hinkommen, hinsetzen, abschalten. Vom Gefühl her war dieser Nachmittag ein Kurzurlaub.

Um sicherzugehen, dass ich nicht geblendet wurde von der absoluten Abwesenheit stadttypischer Elemente wie Bauarbeiten und Feuerwehrsirenen, bin ich am Montag wieder hingegangen. Das Wetter war schlecht, der Friedhof trotzdem voll. Ein noch junger Vater, dreißig Jahre vielleicht, mit langen Haaren und langen Koteletten, spaziert mit seinem kleinen Kind an der Hand durch das feuchte Gras. Er habe früher hier gewohnt und komme nur noch selten her, gerade habe seine Frau aber einen Arzttermin in der Nähe und er passe auf den Kleinen auf. Dass er hier gelandet ist, sei zwar schön, aber Zufall. „Wie das dann so ist“, sagt er „der Kleine sieht ein Eichhörnchen, dann noch eins, er wird neugierig und am Ende landet man auf dem Nordfriedhof“. Ich wiederhole: „Zufall.“



Text: hakan-tanriverdi - Fotos: Juri Gottschall

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