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„Eigentlich wollte ich auswandern“
Am Donnerstag jährt sich das Ende des Zweiten Weltkrieges zum 63. Mal. Charlotte Knobloch erlebte die Befreiung in einem kleinen fränkischen Dorf. Eigentlich wollte sie damals nach Missouri auswandern. Doch sie blieb. jetzt.muenchen: Frau Knobloch, Sie sind 1932 in München geboren. Welche Erinnerungen haben Sie an ihre frühe Kindheit? Knobloch: Ich kann mich an keine unbeschwerte Kindheit erinnern. Ich wuchs in einem gutbürgerlichen Haushalt – mein Vater war Rechtsanwalt – hier in München am Bavariaring auf. Eine meiner ersten Erinnerungen war, dass das Gittertor, das mich von den anderen Kindern im Hof trennte, verschlossen war. Dann kam die Hausmeisterin und sagte: „Jüdische Kinder haben hier nichts mehr zu suchen.“ Eine andere Kindheitserinnerung sind große Männer in Lederjacken. Gleich neben unserer Wohnung war eine Ortsgruppe der NSDAP. Mein Vater bläute mir ein, den Bürgersteig zu wechseln, wenn sie kamen. Wir lebten damals bereits außerhalb der Gesellschaft. War Ihnen Ihr Jüdischsein in diesem Alter bewusst? Erst nach der Scheidung meiner Eltern. Meine Mutter war ja vor der Heirat mit meinem Vater zum Judentum konvertiert. Ende der Dreißiger ließ sie sich scheiden, weil sie enormen Repressalien durch die Nazis ausgesetzt war. Danach zog meine Großmutter zu uns. Sie war religiöser und machte mir meine Religion bewusster.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Einen Teil ihrer Kindheit haben Sie in Franken verbracht.
Mein Vater fuhr mit mir im Zug in einen Ort in Mittelfranken. Wir trugen keinen Judenstern, um nicht erkannt zu werden und hatten keine Papiere dabei, da die ja alle mit einem großen „J“ versehen waren. Mein Vater sagte zu mir: „Wenn Du verdächtige Männer am Bahnsteig siehst“ – die Gestapo war ja stets in Zivil – „steig schnell aus und warte auf mich am Bahnsteig.“ Zum Glück wurde der Zug nicht kontrolliert. Ich ging dann noch zweieinhalb Stunden zu Fuß in ein kleines Bauerndorf. Die Frau, die mich aufnahm, war die ehemalige Haushälterin meines Onkels aus Nürnberg – eine sehr fromme und streng katholische Frau. Ohne nachzufragen, nahm sie mich auf. Im Dorf kam bald das Gerücht auf, ich sei ihr uneheliches Kind. Damals war das ein unglaublicher Makel, doch sie schwieg. Bei ihr blieb ich bis 1945, bis das Dorf von den Amerikanern befreit wurde.
Sie waren zu dieser Zeit zehn Jahre alt. War es damals nicht schwer, ständig Ihre Herkunft zu verleugnen?
Eigentlich nicht. Ich wusste ja, dass es um mein Leben ging. Später erfuhr ich von den Motiven der Frau, mich aufzunehmen. Sie hatte zwei Brüder bei der Wehrmacht. Einer war in Russland, der andere in Afrika. Sie dachte, wenn sie jetzt etwas Gutes tun würde, würden ihre Brüder aus dem Krieg zurück kehren. Sie kamen auch tatsächlich wieder.
Wie war das Leben dort?
Anfangs sehr hart. Ich war den Komfort einer bürgerlichen Stadtwohnung gewohnt. Wir mussten arbeiten, damals gingen Kinder auf dem Land nur im Winter in die Schule. Ein großer Trost damals waren mir Tiere: Hunde, Katzen, Kühe, Gänse, Hühner, Enten und so weiter. Ich habe viel Zeit mit Tieren verbracht und mit ihnen gesprochen. Ich hatte sie so gerne, dass ich nach 1945 gar nicht mehr fort wollte.
Sie sind aber fortgegangen und zwar zurück nach München. Warum?
Ich hatte die Nachricht erhalten, dass mein Vater noch am Leben ist. Ich wurde als „Displaced Person“ registriert. Damals wollte ich noch schnellstens nach Amerika auswandern. Dann aber lernte ich meinen späteren Mann kennen, der alle KZs überlebt hatte, und dann wurde ich schwanger. Obwohl ich die Erlaubnis bekam, nach Missouri auszuwandern, blieben wir.
Wie fühlte es sich an, all die Menschen – und Nazis – wiederzusehen?
Damals machte ich mir darüber nicht so viele Gedanken, da ich ja eigentlich auswandern wollte. Aber bizarre Szenen gab es, als dann die Entnazifizierung begann: Zum Beispiel wollte just jene Hausmeisterin, die uns Kindern damals das Spielen verboten hatte, von meinem Vater eine Bestätigung, die ihr die Entnazifizierung erleichtern sollte.
Jüdisches Leben ist gerade heute in München durch das neue Zentrum am Jakobsplatz wieder sehr präsent. Hat sich das Verhältnis von Juden und Nichtjuden dadurch entspannt?
Seit wir in der Mitte der Stadt und nicht mehr in einem Hinterhof in der Reichenbachstraße sind, hat sich der Dialog verbessert. Allerding erreichen uns auch mehr antisemitische Briefe und Anrufe.
Ist es ein Problem, sich als deutsche Jüdin stets für die israelische Außenpolitik rechtfertigen zu müssen?
Nein, ein Problem ist das nicht. Aber viele Menschen betrachten Juden automatisch als Israelis, obwohl deutsche Juden erst einmal nichts mit der Politik des Staates Israels zu tun haben.
Ärgert Sie es eigentlich, wenn sie 14-Jährige mit Palästinenserschals sehen?
Nein, ich weiß, dass es für sie nichts als ein modisches Accessoire ist. Ich möchte sie nur gerne fragen: Ist euch bewusst, was dieser Schal bedeutet? Das ist alles.
Zwei Drittel aller Deutschen halten Umfragen zufolge den Staat Israel für die größte Bedrohung des Weltfriedens. Das ist der höchste Prozentsatz von allen europäischen Staaten. Woher kommt das Ihrer Meinung nach?
Daran ist auch die Berichterstattung der Medien schuld. Immer wieder werden Bilder von den Zuständen in Gaza und israelischen Angriffen gezeigt. Dass diese stets auf Raketenangriffe auf Sderot folgen, wird oft unterschlagen – oder nur kurz angemerkt.
Laut einer Studie des Instituts für Medienanalyse widmen sich 61 Prozent der internationalen Berichterstattung dem Nahostkonflikt. Nur fünf Prozent sind schmeichelhaft für Israel. . .
Ich will keine schmeichelhafte Berichterstattung für den Staat Israel. Ich finde Kritik an der Politik dieses Staats wichtig und notwendig. Nur sollte sie sachlich sein.
Heute nimmt Antisemitismus oft den Umweg über Amerika- und Israelkritik. An welchem Punkt gehen bei Ihnen sofort die Alarmglocken an?
Wenn Israelis mit Nazis verglichen werden.
Nicht wenige Deutsche scheinen ein psychologisches Interesse daran zu haben, Juden bzw. Israelis auch als Täter zu sehen. Als ob sie das von ihrer eigenen Verantwortung entlasten würde.
Den Eindruck habe ich. Gerade bei der extremen Linken findet man diese Verdrehung oft in Form einer Imperialismus- und Kapitalismuskritik. Auf den G8-Protesten sah man junge Demonstranten mit T-Shirts, auf denen stand „Fuck Israel“. An diesem Punkt verstehen sich extreme Rechte und extreme Linke oft ganz wunderbar.
Erst neulich forderten Sie von Youtube.com, stärker gegen antisemitische Videos vorzugehen. Im Internet treffen sich linker, rechter und esoterischer Antisemitismus. Wie reagieren Sie darauf?
Durch das Internet ist es sehr einfach geworden, menschenverachtende Inhalte zu transportieren. Eine Entwicklung, die ich mit Sorge beobachte.
Ist die Forderung nach einem Verbot aber nicht das genaue Gegenteil von einem Dialog?
Mag sein, trotzdem ist uns vor allem der Dialog mit jungen Leuten sehr wichtig, aber ich bin der Meinung, dass Antisemitismus bekämpft werden muss – überall.
In einem User-Kommentar auf der Internetseite der taz stand vor kurzem: „Was stört eigentlich den Zentralrat der Juden nicht? Ich bin 31 und habe nix gegen Juden und ich habe auch noch nie einen umgebracht. Gebt doch mal Ruhe, der 2. Weltkrieg ist Geschichte.“ Der Kommentator drückt aus, was viele junge Leute denken. Sie empfinden die ständige Mahnerrolle als nervig.
Nochmals: Unsere Aufgabe ist es, Antisemitismus zu bekämpfen. Aber das heißt nicht, dass junge Leute nicht stolz auf dieses Land sein können, aber sie sollten sich ihrer Vergangenheit bewusst sein. Die Stimmung während der WM 2006 war wunderbar. Ein gesunder Patriotismus ist sehr wichtig, den braucht dieses Land.
Text: philipp-mattheis - und dana-brueller