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„Du bist orientierungslos!“

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Als unser Autor den Sekten-Experten Tilmann Hausherr mit der Idee konfrontiert, er wolle sich für eine Reportage von Scientology anwerben lassen, reagiert Hausherr, ein ausgewiesener Kritiker von Scientology, harsch. „Tun Sie es nicht! Genauso wenig würde ich Ihnen raten, testweise Heroin zu spritzen.“ Er hat es trotzdem getan. Einzige Vorgabe: Was auch passieren würde, nach zehn Tagen würde er, zu seinem eigenen Schutz, den Versuch abbrechen. 1. Tag: Der Einstieg Vor dem Dianetik-Zentrum an der Münchner Freiheit wirbt ein Schild: „Heute kostenloser Stresstest“. In der Eingangshalle steht ein Bionade-Automat. Mir ist mulmig. Ein junger Mann mustert mich aufmerksam und kommt dann auf mich zu. Er heißt Markus*. Ich gebe mir und Scientology zehn Tage Zeit. In der Aula stehen mehrere kleine Tische mit Stühlen. Darauf das „E-Meter“, ein Apparat mit Zeigern und zwei Aluminium-Dioden an den Enden. Das „E-Meter“ reagiert auf elektrische Impulse an der Hautoberfläche. Damit können Scientologen im Unbewussten gespeicherte Erlebnisse aufspüren. Markus bittet mich, an irgendwas zu denken. Der Zeiger schlägt aus. „An was denkst Du?“, fragt er. An die Scheidung meiner Eltern. Ich setze mich auf eine zerschlissene Ledercouch und Markus legt eine DVD ein. Es folgt ein 45 Minuten langes Interview mit L. Ron Hubbard, Science-Fiction-Autor und legendärer Gründer der Sekte. Hubbard sitzt vor einem Gemälde mit Mohnblumen und erzählt: Scientology macht Menschen effizienter und glücklicher. Scientologen werden nicht mehr krank, denn alle Krankheiten haben psychische Wurzeln. Scientologen sind außerdem fleißig, hilfsbereit und stressresistent. Wären da nicht die Hollywood-Ikonen Tom Cruise und John Travolta, Scientology wäre die spießigste Sekte der Welt. Dann kommt Sonja zu mir. Sie sieht gut aus. Mit großen Augen sieht sie mich an. Alle Menschen hier haben einen sehr eindringlichen Blick. Wir vereinbaren einen Termin für ein „Auditing“. Ich soll bis dahin keinen Alkohol trinken und keine Aspirin nehmen. Das mache meinen Geistkörper unnötig schwer.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

2. Tag: Das Auditing Katholiken haben die Beichte, Buddhisten meditieren, Atheisten gehen zur Psychoanalyse. Und Scientologen machen „Auditing“ – eine Mischung aus allen dreien. Sonja stellt mich Sigrid vor, meiner „Auditorin“. Sie führt mich in den zweiten Stock. Wir betreten eine winzige Zelle mit zwei Stühlen und einem Tisch. Sigrid verschließt die Tür von innen. Ich bin ein „Pre-Clear“. Auditing macht „clear“. Dann schließe ich die Augen. Mein Puls steigt. Sigrid fordert mich auf, an eine wichtige Situation in meinem Leben zu denken. Ich entscheide mich für meine Führerscheinprüfung. „Gehe zum Anfang des Geschehnisses zurück und hole alle Informationen, die Du kontaktieren kannst“, sagt sie. Ich erzähle von meiner Führerscheinprüfung. Nach zehn Minuten bin ich fertig. Sigrid sagt Danke und „Gehe nun zum Anfang des Geschehnisses zurück und hole alle zusätzlichen Informationen, die Du kontaktieren kannst.“ Ich erzähle die Geschichte noch einmal: Berganfahrt, Autobahn, rückwärts einparken. Nach 15 Minuten habe ich den roten Lappen in der Hand. Sigrid sagt Danke und „Gehe nun zum Anfang des Geschehnisses zurück und . . .“ Man kann eine Geschichte dreimal erzählen. Man kann eine Geschichte auch viermal erzählen. Spätestens beim sechsten Mal fühlt man sich debil. Sigrid zermürbt mich. Beim siebten Mal erzähle ich auch, wie ich von meinem Heimatdorf mit dem Bus zur Prüfung gefahren bin. Beim achten Mal, wie wir die Sitze des Schulbusses, der 1997 schon längst ausrangiert gehört hätte, angekokelt haben. Ich rieche den Gestank wieder. Sigrid ist eine Maschine: „Gehe nun zum Anfang . . .“ Zwei Stunden später darf ich meine Augen wieder öffnen – meine Führerscheinprüfung ist „gecleared“. Die Dinge im Zimmer wirken plötzlich eigenartig intensiv: Die weiße Wand ist noch weißer, Sigrids Augen noch blauer und mein Mund vom vielen Reden noch trockener. Ich fühle mich befreit. Weil ich die zwei Stunden überstanden habe? Oder weil ich dem Clear ein Stück näher gekommen bin? Zum Abschied gibt mir Sonja den „Oxford-Persönlichkeitstest“ und bittet mich, ihn bis morgen auszufüllen. 200 Fragen im Multiple-Choice-Verfahren: Haben Sie das Gefühl, dass Menschen hinter ihrem Rücken schlecht über Sie reden? Sind Sie oft gestresst? Leiden Sie unter nervösen Ticks? In letzter Zeit zucken die Muskeln meines rechten Auges so eigenartig. 3. Tag: Der Persönlichkeitstest Dass ich nicht ganz normal bin, habe ich zum ersten Mal in der siebten Klasse vermutet, als ich den achten Verweis innerhalb von drei Monaten kassierte. Jetzt habe ich es schwarz auf weiß: Meine Persönlichkeit ist im Arsch. Fast alle meine Eigenschaften sind im „nicht annehmbaren Zustand“. Sonja starrt mich an. „So kann es doch nicht weitergehen. Du bist orientierungslos, unsicher und Du verschwendest Deine Energie. Du lebst nicht effizient.“ Sonja arbeitet seit zehn Jahren bei Scientology. Sie hat Menschen Lesen und Schreiben beigebracht, Drogenabhängige kuriert und Ehen gerettet. Sie verunsichert mich. „Nun schau nicht so traurig“, sagt sie. „Wir können Dir helfen!“ Ich lächle, Sonja strahlt. Mit dem Kommunikations-Trainings-Kurs werde ich in nur acht Kursstunden besser mit meinen Mitmenschen auskommen und meine Schüchternheit überwinden. „Weißt Du, was das Beste ist?“ Ich zucke mit den Schultern. „Der Kurs kostet nur 37,90 Euro!“ Mein Training wird am Dienstag beginnen. Auf der nächsten Seite liest du, wie sich Philipp verändert


4. Tag: Der Aussteiger Wilfried Handl leitete Scientology Österreich und er war „Clear“. Wir treffen uns am Münchener Hauptbahnhof, er ist auf dem Weg nach Kempten zu einer Podiumsdiskussion über Scientology. Er sieht jünger aus als 55, der Krebs hat Handls Körper zerfressen. Die Hoden, die Bauchhöhle, die Lunge, 2004 folgt ein Gehirntumor. Er zeigt mir einen langen Schnitt auf seinem Hinterkopf. Er hat seine Frau und zwei seiner Söhne an die Sekte verloren. Der Krebs hat ihn gerettet. „Auf der Stufe, die ich erreicht hatte, hätte ich laut Scientology eigentlich keinen Krebs mehr bekommen dürfen.“ Zum ersten Mal nach 28 Jahren hatte Handl im Krankenhaus Zeit zum Nachdenken. Denn Scientologen haben keine Zeit. Sie arbeiten im Zentrum für etwa 40 Euro pro Woche. Deswegen brauchen sie Zweitjobs. 28 Jahre hat Handl 16 Stunden am Tag gearbeitet. Dann stieg er aus und wurde 2004 von Scientology zur „unterdrückerischen Person“ erklärt. Kein Mitglied darf seitdem mehr Kontakt zu ihm haben. Handl blickt mir in die Augen. „Immer Blickkontakt zu halten, lernen Scientologen relativ schnell. Sie erhalten Macht über Menschen. Es beginnt harmlos mit Kursen über Psychologie und Kommunikation. Am Ende zahlen Sie mehrere tausend Euro für den nächsten Kurs, weil Sie eine noch höhere Stufe erreichen wollen. Und dann beginnt der Druck.“

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Philipps Persönlichkeitstest Als wir im Zug nach Kempten sitzen macht Handl eine Art Spiel mit mir. „Denken Sie bitte nicht nach, antworten Sie einfach auf meine Fragen.“ So muss Handl früher gewesen sein: einnehmend und hypnotisierend. „Welchen Beruf hatten Sie im Jahr 1683?“ – „Tischler“, sage ich. „Können Sie sich an ein schlimmes Erlebnis damals erinnern?“ Ein paar Sekunden und ein paar Fragen später bin ich im 13. Jahrhundert. Ich bin Söldner und kämpfe auf einem Schlachtfeld in Norditalien. Meinem Nachbarn hackt ein kaiserlicher Ritter das Bein ab. „Sehen Sie, es funktioniert ganz einfach. Sie waren gerade auf dem Weg, ihre Reinkarnationen zu identifizieren. Scientologen sind in diesem Denken gefangen. Um ihre wahre Identität zu finden, den „Thetan“, geben Sie immer mehr Geld für immer noch teurere Kurse aus.“ 7. Tag: Der Thetan Ich bin der einzige Kursteilnehmer. In der Nacht habe ich geträumt, ich sei ein Tischler im 17. Jahrhundert. Mein Kollege schnitt sich während der Arbeit den Daumen ab. Alles war voller Blut. Jetzt liegt vor mir ein Scientology-Bilderbuch, aus dem ich lerne, dass ein Mensch aus sterblichem Körper, dem Verstand und dem Thetan besteht. Der Thetan ist unsterblich und wandert nach dem Tod eines Menschen in einen anderen Körper. Ich habe schon verrücktere Sachen gelesen. Die christliche Trinitätslehre ist da wesentlich kryptischer. 8. Tag: Die Hemmungen Mein neuer Kursleiter sieht aus wie eine Eule. Er trägt ein braunes Hemd, dessen Stoff an eine Raufasertapete erinnert. Ich soll einen „Kommunikationszyklus“ üben: Aufnahmebereitschaft des Gegenübers feststellen, Frage stellen, Antwort bestätigen. Ich muss durch das Haus gehen und Scientologen ansprechen. Überall freundliche Gesichter und nette Antworten. Ich baue Hemmungen ab. Am Abend sitze ich in einer Kneipe. Als sich die Frau am Nebentisch einen Lugana bestellt, sage ich zu ihr, dass Lugana der beste Weißwein auf der Karte ist: Er ist trocken und hat wenig Säure. Sie lächelt, wir unterhalten uns eine halbe Stunde lang. Das letzte Mal habe ich eine wildfremde Frau auf dem Oktoberfest angesprochen. Nach drei Maß Bier. 10. Tag: Der Ausstieg Ich habe den Kurs nicht beendet. Am zehnten Tag kam die erste SMS: Sonja möchte mit mir meinen Stundenplan verifizieren. Ich habe nicht geantwortet. Ich habe Abmachungen mit mir selbst getroffen, an die ich mich halte. Heute hat mir mein Mitbewohner gesagt, dass ich glücklicher aussehe. Ich hätte so ein Leuchten in den Augen. Ich habe ihm tief in die Augen gesehen und dann seinen Daumen betrachtet. Wir kennen uns schon sehr lange. 1683 waren unsere Thetane beide Tischler. * Namen von der Redaktion geändert Fotos: privat

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