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Die verkaufte Schwester
"Eigentlich bin ich seit 25 Jahren tot. Ich weiß davon, seit ich vor zwei Jahren heiraten wollte. Damals träumte ich davon, meinen Brautstrauß auf das Grab meiner älteren Zwillingsschwester zu legen, die angeblich bei unserer Geburt gestorben war. Ich fragte deshalb meine Mutter nach Amandas Grab. Aber sie wusste nicht, wo es liegt. Sie sagte, die Klinik in Barcelona hätte sich um alles gekümmert, auch um die Bestattung meiner Schwester. Es war sehr seltsam. „Ich habe deine Schwester nie tot gesehen“, sagte Mama. „Der Arzt wollte mir diesen Anblick nicht zumuten.“
Ich weiß noch, wie mir damals diese verrückte Geschichte aus der Zeitung einfiel: Eine Frau hatte behauptet, man hätte ihr nach der Geburt das Kind weggenommen und es dann verkauft. Es klang hysterisch. Es klang unwahrscheinlich. Wir leben doch in Spanien und nicht in einem Entwicklungsland.
Ich forschte weiter. Im Krankenhaus sagten sie mir: „Es gibt keine Unterlagen mehr, weder zu dir noch zu deiner Mutter. Was willst du überhaupt?“ Auch im Standesamt legten sie mir Steine in den Weg, in den Archiven schlugen sie mir Türen vor der Nase zu. „Geh’ nach Hause“, hieß es einmal. Die Reaktionen haben mich noch misstrauischer gemacht. Ich schaltete einen Anwalt ein, den ich mir von meinem Gehalt als Erzieherin eigentlich nicht leisten konnte.
Jetzt habe ich meine Dokumente.
Diesen Dokumenten zufolge ist Estefania, die kleinere von uns beiden Zwillingsschwestern damals gestorben. Demnach bin also ich offiziell seit 1986 begraben! Demnach sitze ich hier eigentlich als Amanda – und Estefania liegt angeblich in einem Massengrab auf irgendeinem Friedhof.
Seit ich diese Papiere gesehen habe, weiß ich nicht mehr, wer ich bin. Seitdem suche ich nicht nur nach meiner Schwester sondern auch nach meinem anderen Ich.
Doch ich suche nicht allein. Antonio Barroso aus dem Nachbarort Vilanova i la Geltrú hat im vergangenen Jahr Anadir, die spanische Vereinigung für die Betroffenen illegaler Adoptionen gegründet. Antonio hatte erfahren, dass ihn seine Eltern 1969 als Baby von einer Nonne gekauft gehabt hatten. Der Vater eines Sandkastenfreundes hat es im Sterbebett erzählt.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Estefania Anguita mit Bildern, die sie als Kind zeigen. Sie lebt in Cubelles bei Barcelona.
Antonios Adoptiveltern waren gutgläubig. Sie bekamen von den, wie sich später herausstellte, kriminellen Babyvermittlern die übliche Geschichte zu hören: Die leibliche Mutter sei Prostituierte, hieß es. In anderen Fällen wurde erzählt, die Mutter des Kindes sei bei der Geburt gestorben. Antonios Eltern bezahlten 200 000 Peseten. Dafür bekommt man heute eine kleine Wohnung.
Viele Fälle illegaler Adoption in Spanien sind nicht so klar. Auch meiner nicht. Meistens aber wurden die Adoptiveltern genauso belogen wie die Mütter, denen man die Kinder nahm. Mütter, die nicht glauben wollten, dass ihre Kinder tot sind, bekamen von manchen Ärzten tote Babies aus dem Kühlschrank gezeigt. Meist aber war das gar nicht nötig. Die Täter waren Autoritätspersonen, deren Wort zählte. Es waren Ärzte, Nonnen und Priester. Die Opfer – meine Eltern etwa – waren sehr jung oder arm oder es waren ledige Mütter. Als man ihnen erzählte, dass ihr Kind gestorben sei, brachen sie zusammen. Viele ließen es in ihrer Trauer geschehen, als man ihnen anbot, sich um die Beerdigung kümmern.
Ende Januar nun hat Anadir Sammelklage beim Generalstaatsanwalt in Madrid eingereicht. Es gibt aus ganz Spanien 261 dokumentierte Fälle von Kindsraub. Seitdem berichtet das Fernsehen täglich über Mütter, die ihre Söhne suchen, über Töchter, die ihre Väter suchen und über Kinder, die ihre Geschwister suchen. Das ganze Land scheint auf der Suche nach sich selbst. Viele Fälle reichen Jahrzehnte zurück, bis in die dunklen Jahre der faschistischen Franco-Diktatur. Mit Franco begann die Vorgeschichte der illegalen Adoptionen. Die Franquisten hatten den spanischen Bürgerkrieg gewonnen und nahmen den Verlierern systematisch die Kinder weg. Die Kleinen sollten nicht das „linke Virus“ ihrer Eltern einsaugen, die Rasse musste „rein“ bleiben, es war eine faschistische Ideologie. Die Kinder kamen in kirchliche Heime, bekamen eine katholische Gehirnwäsche und neue Namen. Dann wurden sie von regimetreuen Paaren adoptiert. Ihre Eltern sahen sie nie wieder. Vor fast zehn Jahren lief im Fernsehen eine Dokumentation darüber. Damals hat in Spanien jeder über die „Verlorenen Kinder des Franquismus“ geredet. Ausgegraben hat diese Verbrechen der Geschichtsprofessor Ricard Vinyes. Zu den wohl 30 000 Fällen hat Vinyes Sätze gesagt, die sich auch mir eingeprägt haben: „Es war ein mächtiges System. Es hat Menschen, die Mentalitäten und schließlich das Bewusstsein verändert.“
Mich hat der Fall meiner Schwester verändert, auch wenn er nichts mehr mit dem Franquismus zu tun hat. Für mich ist Amanda eine Desaparecida, wie man eigentlich nur die Opfer von Diktaturen in Lateinamerika nennt. Amanda ist nicht tot und nicht lebendig, sie ist verschwunden. Es gibt keine Leiche. Und das ist vielleicht das Hinterhältigste: Die Täter haben alles so gut gefälscht, dass sie dich zweifeln lassen. Es gibt Ungereimtheiten, die auch Schlamperei sein könnten. Was, wenn alles ein großer Irrtum ist? Was, wenn ich wie diese Verrückte aus der Zeitung bin? Ich halte die Ungewissheit kaum aus. Wir Betroffenen sind wie Schiffbrüchige. Wir suchen etwas, an dem wir uns festhalten können. Ich zumindest reiße alte Wunden auf. Meine Mutter hat die Geburtsurkunde, in der Amanda als gesundes Baby auftaucht mehr weggesperrt als aufbewahrt. Jetzt hört sie nicht mehr auf zu weinen. Und ich denke – ein absurdes Schuldgefühl – ich hätte auf irgendeine Weise Amanda einst das genommen, was sie zum Überleben gebraucht hätte.
Wenn ich mit den Kleinen im Hort arbeite, sehe ich oft ein Foto vor mir, das mich als Kind zeigt – genau so, wie auch Amanda ausgesehen hätte. Wenn ich für Anadir Telefondienst mache, suche ich in Dutzenden Anfragen, die uns jeden Tag erreichen, nach Amanda. Ich hoffe, einmal eine Geschichte zu hören, die meiner ähnelt, die mich weiterbringt. Ich kann nicht mehr abschalten. Freunde nehmen mich nicht mehr mit zum Essen, weil dauernd mein Handy klingelt. Auch mit einem Partner ist es schwierig – aus meiner Hochzeit ist nichts geworden.
Jetzt ist Anadir mein Privatleben. Wenn ich gleich nach der Arbeit ins Büro gehe, sind die anderen meist schon da. Wir stützen uns gegenseitig. Anderen zu vertrauen fällt uns schwer. Viele, die wir als Respektpersonen kennengelernt haben, haben sich als Kriminelle entpuppt. Es ist eine „fundamentale Erschütterung“ für jeden Menschen, wenn ihn die Personen und Institutionen im Stich lassen, die ihn schützen sollten, sagt die Psychologin Anna Miñarro. Sie, die in Barcelona Opfer von illegalen Adoptionen behandelt, sieht bei vielen von uns eine extreme psychische Zerbrechlichkeit. Sie hat recht, und doch haben wir Kraft: Wir bestärken uns in unserer Wut. Das gibt Energie. Das treibt an. Wir haben erreicht, dass das spanische Parlament Antonio Barroso eingeladen hat. Mitte März hat er dort gesprochen, gemeinsam mit der Vorsitzenden einer Madrider Opferorganisation.
Die Abgeordneten haben uns alle mögliche Hilfe zugesagt, damit die Fälle restlos aufgeklärt werden können. Sie haben zugegeben, „dass das herrschende politische System damals den Kinderhandel erst möglich gemacht hat“. Darin liegt auch das Problem: Auch in meinen Fall sind angesehene, wichtige Personen verwickelt. Sie können viel blockieren, wenn sie wollen.
Es ist schwer, unsere Fälle aufzuklären. Du weißt nie: Wo sabotiert dich jemand mit Absicht? Wo sind Akten aus Schlamperei verschwunden? Erinnert sich jemand nicht oder will sich jemand nicht erinnern? In meinem Fall sind die Widersprüche gut dokumentiert. Bis hin zum Friedhof. Einmal steht da, meine Schwester sei in einem Sarg beerdigt. Ein andermal steht da, sie liege irgendwo in einem Massengrab. In Granada hat vor kurzem ein Totengräber zugegeben, dass er häufig Kisten mit blutigen Mullbinden bestattet hat, um die Eltern zu täuschen. Das Bild lässt mich seitdem nicht mehr los.
Ich muss wissen, ob Amanda in ihrem Grab liegt. Wenn sie dafür alles umgraben müssen und meine DNA mit zig anderen vergleichen, dann sollen sie es tun. Ich werde keine Ruhe geben, bis ich die Wahrheit weiß. Doch ich habe auch Angst davor. Die Suche nach Amanda füllt meine Tage aus. Ich fürchte die Zeit, in der das vorbei ist. Ich fürchte, dann kommt ein schwarzes Loch. Und dann werde ich wirklich verrückt."
Text: lukas-grasberger - Foto: Arnau Bach