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Die Stimme der Fremde

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Serans Büro befindet sich links hinter dem Empfang eines containerartigen Gebäudes im Gewerbegebiet von Duisburg. Dunkle Lamellen vor den Fenstern halten die Sonne ab. Auf dem Schreibtisch liegen Papiere herum, Kaffeeweißer steht dazwischen, eine Digitalkamera in einem Ladegerät und eine kleiner Strauß mit Kunstblumen. Ein riesiger Fernseher auf einem IKEA-Tischchen. Hinter dem Schreibtisch: Seran Sargur. Er trägt Anzug, Krawatte, schwarze, spitze Schuhe aus Leder. Einen Musketierbart. Die Haare sind nach hinten gekämmt. Der Sohn türkischer Gastarbeiter, der jüngste von fünf Geschwistern, war noch in der Oberstufe des Gymnasiums, da unterbreitete er einem Freund folgende Idee: Sie würden eine Zeitung gründen, diese auf türkisch „Die Stimme der Fremde“ nennen, sich Redaktionsausweise anfertigen und damit als Journalisten umsonst auf alle wichtigen Konzerte gehen. Kein ganz neuer Gedanke für Schüler ohne viel Geld. Wenig später passierten die beiden wirklich problemlos mit ihren grünen Ausweisen die Stadthalle Offenbach. Als sie munter Bilder vom berühmten, türkischen Sänger Mustafa Sandal machten, sprach sie ein Reporter der großen türkischen Tageszeitung Sabah sie an und bat um kollegiale Hilfe: Der Blitz an seiner Kamera sei bei einem Sturz zerstört worden, ob Seran nicht ein paar Fotos für ihn schießen könnte. Seran konnte, bestand aber darauf, die Filme nicht auszuhändigen, sondern gemeinsam mit dem Fotoreporter zu entwickeln. Der war so begeistert von den Bildern, dass er Seran anbot, neben der Schule für die Zeitung zu arbeiten. Weg vom Boulevard Seran nahm an, bekam gleich nach seinem Abitur einen festen Vertrag in der Redaktion in Frankfurt und berichtete erst nur für Sabah, später dann auch für den zum gleichen Konzern gehörenden TV-Sender ATV als Boulevardreporter über türkische Sänger, Fußballer, Schauspieler in Deutschland – Jahre voller Glamour und Partys. Bis er in einem Interview auf Ignatz Bubis traf. Der damaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden gab ihm nicht nur einen Rat, wie man in Deutschland auch als Nichtdeutscher akzeptiert werden könne: „Man muss einfach alles etwas besser machen als die Deutschen.“ Bubis machte Seran durch seinen Auftritt auch deutlich, was Worte bewegen können. Und dass er mit seinem Beruf als Journalist, wenn er ihn ernst nehmen würde, etwas für die Türken in Deutschland tun könnte. „Ignaz Bubis brachte mich weg vom Boulevard“, sagt Sargur noch heute. „Wegen ihm wollte ich seriöser werden.“

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Als er, wiederum in einem Interview, auf Ali Pasa Akbas, traf, der in Europa mit türkischer Musik handelte, reiften plötzlich noch größere Ideen. Akbas hatte Kapital und suchte ein Forum, um seine Künstler den europäischen Türken vorzustellen. Sargur hatte die journalistische Erfahrung. Gemeinsam stellten sie fest, dass es schon einige Angebote für die 3,5 Millionen Deutschtürken gab, aber noch keinen eigenen TV-Sender. Als sie merkten, dass ihre Pläne finanzierbar waren, entschieden sich als Standort für das Ruhrgebiet mit weit über einer Million türkischstämmigen Bewohnern. Am 1. Januar 2005 ging das Projekt rund um die Uhr auf Sendung – acht Monate, nachdem sie das erste Mal darüber gesprochen hatten. 25 Jahre war Seran zu diesem Zeitpunkt alt und Zweifel, ob er der richtige Mann sei, um über 30 Mitarbeiter zu führen, hatte er keine. Begeistert wurde Kanal Avrupa, den man von Island bis nach Israel, von der Türkei bis nach Südspanien empfangen kann, von der Öffentlichkeit und den Zuschauern aufgenommen. Werbeeinnahmen und die Anzahl der Werbepartner wachsen bis heute. Bald wird der Sender auch in das Kölner Kabelnetz eingespeist. Während Seran spricht, schreibt er eine Nachricht auf seinem Handy. Seine Sekretärin ruft an, heute Nachmittag wird die NRW-Schulministerin Barbara Sommer den Sender besuchen. Außerdem will ihn der Leiter der Türkeiredaktion des WDR einen Moment sprechen. Er sucht nach seiner silbernen Box mit den Visitenkarten. Rollt dabei in seinem Bürostuhl hinter seinem Schreibtisch entlang. Öffnet hier eine Schublade, hebt dort ein Blatt an. Unabhängig davon redet er konzentriert weiter. Man kann sich nur schwer vorstellen, wie Seran als Journalist ganz ruhig über einem langen Artikel brütet – und nichts anderes tut. Er wirkt wie ein Mann, der schnell denkt, schnell entscheidet und noch viel vorhat. Und deshalb waren die Weggabelungen Bubis und Sabah mit Sicherheit wichtig für Seran berufliche Entwicklung. Doch vermutlich hätte er sich sonst auf anderem Wege nach oben gekämpft. Andere Möglichkeiten gefunden, sich für die Deutsch-Türken zu engagieren. Wofür? Für einen Moment schweigt Seran. Dann sagt er: „Kanal Avrupa will zur Integration beitragen und gleichzeitig das Bedürfnis nach Heimat stillen.“ Viele Türken in Deutschland wüssten nicht, was mit ihrem Kind passiert, wenn sie es auf Klassenfahrt schicken. Sie hätten keine Ahnung, was in einem deutschen Hallenbad passiert. Und sie wüssten nicht, warum man hier Himmelfahrt feiert. „Viele Türken haben Angst, dass nicht nur sie, sondern auch ihre Kinder in der fremden Kultur verloren gehen.“ Diese Angst will Kanal Avrupa den Zuschauern nehmen. Es gibt daher die Talkshow „Avrucapa“ (Europäisch), in der junge Deutschtürken über gesellschaftspolitische Themen diskutieren. Eine andere Sendung heißt „Sivil Insiyatif“ (Zivilinitiative) – gemeinnützige europäisch-türkische Vereine und Organisationen können hier ihre Projekte vorstellen. Und es gibt „Kadinca“ (Feminin), ein Format, in dem türkischstämmige Frauen über ihre Probleme diskutieren oder sich live per Telefon beraten lassen können.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Auf türkischen Sendern laufen solche Sendungen nicht. Und deutschen Sendern trauen viele Türken nicht. Oder können sie nicht verstehen. So auch Serans Mutter, die nach rund 40 Jahren in Deutschland noch immer fast kein Deutsch spricht, weil sie es selbst in ihrem hessischen Wohnort Butzbach niemals wirklich brauchte. Deshalb sind noch immer gut 90 Prozent der Sendungen bei Kanal Avrupa auf Türkisch – weil man nur so die Zielgruppe erreicht. Trotzdem ist es das Ziel des Senders, den Anteil deutschsprachiger Formate auf 40 Prozent zu erhöhen. „Die deutsch-türkische Community ist Deutschland grundsätzlich sehr freundlich gesonnen“, sagt Seran. Auch wenn Personen wie die Schauspielerin Sibel Kekilli, die Autorin Necla Kelek und der Politiker Cem Özdemir dies nach seiner Ansicht nicht vermuten lassen. Überhaupt: Kekilli, Kelek und Özdemir! Plötzlich fängt die Stimme des General Koordinators ein wenig an zu zittern. Alle drei ruhen sich für ihn zu sehr auf ihrem Türkischsein aus. „Auch fast alle bayerischen Eltern hätten ein Problem damit, zu erfahren, dass ihre Tochter in Pornos mitspielt“, sagt er in Anspielung auf den Kekilli-Skandal. Oder: „Wie wäre es wenn Kelek mal einen Roman schreibt, der nichts mit der Türkei zu tun hat?“ Und wenn Özdemir auf die Frage woher er komme antwortet: „Aus Schwaben“ empfindet Seran das als eine Provokation. Selbst den Begriff „türkischstämmige Deutsche“ findet er viel zu verkopft. Deutschtürke gefällt ihm viel besser. „Man muss nicht seine Wurzeln verleugnen um in Deutschland Akzeptanz zu erfahren.“ Die VIVA-Moderatorin Gülcan Karahanci sei dafür ein gutes Beispiel, ebenso der Schauspieler Erol Sander. „Die sind nicht erfolgreich weil, sondern eher obwohl sie türkischstämmig sind.“ Politische Pläne Kanal Avrupa will deshalb nicht nur integrieren, sondern auch Heimat bieten. Zu finden ist sie in Sendungen über türkische Volksmusik, der Schwarzmeer-Show, dem Format „Mondschein“, bei dem es um religiös-mythische Inhalte geht oder in berühmten türkischen Serien, deren Rechte der Sender gekauft hat. Bewirkt man dadurch nicht genau das Gegenteil von Integration? „Unser Fundament ist das heimische“, sagt Seran. „Aber wir wollen kein Heimweh schaffen. Die Amerikaner mit deutschen Wurzeln veranstalten in Florida doch auch noch immer ein Oktoberfest. Die wollen eine Weißwurst essen. Die wollen eine Maß trinken. Aber deshalb wollen sie doch nicht zurück nach Bayern.“

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Irgendwann möchte Seran als Politiker ins türkische Parlament nach Ankara. Im Bundestag können seiner Meinung nach auch die deutschen Politiker für die Deutschtürken sprechen: „So unterschiedlich sind wir gar nicht.“ Aber in der Türkei gäbe es noch zu wenige Politiker, die Europa wirklich gut kennen. „Ein Gespräch zwischen mir und Frau Merkel wäre sicherlich vernehmlicher als zwischen ihr und dem türkischen Ministerpräsidenten Erdogan.“ Große Pläne, die Seran aber strategisch angeht: Der 27-Jährige hat sich für die türkische Staatsbürgerschaft entschieden, denn ohne die kann man nicht ins türkische Parlament. Er ist der einzige im Sender ohne deutschen Pass. Seran sucht jetzt wieder nach seinen Visitenkarten, rollt zu seinem Handy, schaltet es wieder ein. Gleich kommt die Ministerin. Er streicht sich durchs Haar. „Manchmal sage ich aus Scherz zu meinen Mitarbeitern: Eigentlich bin ich das einzig wirklich Türkische in diesem Kanal.“

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