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Die Stahlratte von Panama

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Tagebucheintrag 9. Juli 2013, San Blas, Panama. Wir warten auf den Regen. Weil wir schwitzen und weil das Deck gesäubert werden muss und weil die Haut salzig ist. Zuerst hören wir den Donner, dann sehen wir die Blitze. Als der Regen einsetzt, beginnen wir zu schrubben. Die Tropfen sind groß und reif und sie kommen ohne Wind, so wie es gut ist. Wenn die Luft salzig ist, schmecken die Tropfen süß auf den Lippen.        

Am 19. Mai 1954 verließ mein Großvater den Hamburger Hafen in Richtung Südamerika. Er, Hans-Otto Boie, kam in Marne, Dithmarschen, zur Welt. Dort gab es Blutsuppe, Mehlbüddel und Birn’, Boohn’ un Speck. Im Sommer spielte er Kibbel-Kabbel, im Krieg suchten er und seine Freunde im Wald nach Granatsplittern. Die besten waren die, die noch warm waren. Als Erstgeborener war er dazu bestimmt, das Gasthaus Boie in Marne zu übernehmen. Doch er hatte nie Koch werden wollen. Er ergriff die ihm einzige Chance der kleinbürgerlichen Tristesse zu entkommen: Er fuhr zur See.    

Fünf Jahre lang bekochte er die Schiffe der Hamburg-Südamerikanischen Dampfschifffahrtsgesellschaft zwischen Hamburger Michel und dem Zuckerhut von Rio. Dann kehrte er zurück an die Elbe, wurde Kernforscher, machte drei Kinder und initiierte damit langfristig auch mich.    

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Nils' Opa, der Schiffskoch

Ich studiere in Leipzig. Das Gasthaus Boie existiert heute nicht mehr. Ich besitze zwei E-Mail-Adressen, zwei Facebook-Profile, ein Handy, zwei Computer. Mir hat nie jemand vorgeschrieben, was ich später einmal zu werden habe. Von der Hamburg-Südamerikanischen Dampfschifffahrts-Gesellschaft ist heute nur noch die Kurzform geblieben: Hamburg Süd.    

Am 29. Januar 2011 starb mein Opa. Und ich kam in den Besitz seines Laptops. Ich habe lange nicht viel über meinen Großvater als Seemann gewusst, doch in seinem Computer lagerten Schätze in Form von Fotos: Mein Opa in Schürze und mit Kartoffelschälmesser in der Kombüse. Zwischen Tand und Tauwerk an Deck. Sein Schiff bei der Durchfahrt des Panama-Kanals. Seine gesamte Seefahrtszeit war abgescannt und eingespeichert. Panama! Seit Janosch verhieß dieser Name mir Sehnsucht nach der Ferne.    

Im Mai 2012, 58 Jahre nachdem mein Großvater den Hamburger Hafen verlassen hatte, beschloss ich, mein Studium für ein Jahr zu unterbrechen. Ich wollte die Welt kennenlernen, der kleinbürgerlichen Tristesse entkommen. Ich hatte von einem Schiff vor Panama gehört, auf dem man anheuern konnte. Ich machte einen Führerschein, eine Erste-Hilfe-Ausbildung, einen Hochsee-Sicherheitskurs und ließ mir vom Arzt meine Seetauglichkeit bestätigen. Die Fußstapfen meines Großvaters lagen vor mir im Sand. Auf aufs Schiff, ich wurde Matrose!

An einem Montag im Juni lande ich in Panama City. Ich weiß nicht, ob ich schwitze, oder ob es die Luftfeuchtigkeit ist, die sich in meinem Brusthaar verfängt. Wolkenkratzer und riesige Werbebildschirme belagern den Himmel. Zwischen den Gebäuden kleine Flüsse, unter deren Brücken Bauarbeiter dösen. Ein Jeep fährt mich an die Küste, dort werde ich in ein Boot verladen und in die Inseln geschickt, wo mein Schiff vor Anker liegt. Hier bin ich richtig: Perlweiße Sandstrände, Kokospalmen, Seesterne im kristallklaren Wasser. Männer in Einbäumen paddeln neben mir, in den Booten liegen Langusten und Fisch.    

Vor der Isla Carti Sugdup, wo sich die Basthütten bis an den Rand der Insel und darüber hinaus drängen, liegt mein Schiff. Weiß mit blauen Spanten, der Bug um den Anker arg verrostet. Die „Stahlratte“! Am Rumpf sind die Rückstände verschiedener Malerarbeiten zu sehen. Am Steuerhaus splittert der Lack. Die Wanten ziehen sich die Masten hinauf, überall sind Taue, die Segel schlafen im Klüvernetz.    

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Nils' Zuhause und Arbeitsplatz für die Sommermonate: die Stahlratte

Vor 110 Jahren wurde die Stahlratte als Segel-Logger in den Niederlanden gebaut. Heute gehört sie dem Verein zur Förderung der Segelschifffahrt, der Backpacker und Motorradtouristen von Panama nach Kolumbien und zurück transportiert. Eine einträgliche Route, denn auf dem Landweg liegt das Darien-Gap. Berüchtigt durch Drogenschmuggel und Guerrilla-Kämpfer befindet sich hier die einzige Stelle des Panamerican-Highway, der großen Verbindungsstraße von Alaska bis Feuerland, die nicht ausgebaut werden konnte. Zu dicht ist der Dschungel, dazu ein Höhenzug, der von vielen kleinen Flüssen durchfurcht wird.    

Die Stahlratte ist ein schwermütiger Zweimaster. Ein rostiges Krähennest erinnert an alte Zeiten. An Bord gibt es eine Meerwasser-Entsalzungsanlage, die Toilette wird per Handpumpe betrieben. Ich darf nicht krank werden, sonst bekomme ich einen Tennisarm. Der Käpt’n begrüßt mich per Handschlag. Er trägt Uniform: Unterhose mit Schweißrändern. Sein Rücken ist pockenvernarbt, er hat langes, blondes Haar, einen dicken Bauch und goldene Ohrringe. Ein harter Hund.    

Dann geht es los: Maschinenführung, Taue klar machen, Vorbereitungen für das Verladen der Motorräder am nächsten Tag. Die Befehle sind knapp, die Crew besteht neben mir aus einem Südamerikaner und einem Spaniern, Bordsprache ist Spanisch. Ich spreche kein Spanisch. Vier Tage dauert die Tour vom Rio Carti in Panama nach Cartagena in Kolumbien. Die reine Fahrtzeit allerdings beträgt nur knapp 30 Stunden. Den Rest der Zeit verbringen wir schnorchelnd und entspannend an den äußeren Riffen von San Blas. Die Tage sind sonnig, die Nächte sternenklar, am Abend baden wir in phosphoreszierendem Plankton, dem Meeresleuchten.    

In der letzten Nacht meiner ersten Überfahrt kommen einige größere Wellen. Die Küchengeräte werden festgezurrt, alles, was offen herum liegt, wird in Kisten verpackt. Immer wieder stößt das Schiff vom Wellenkamm herunter und taucht mit dem Bug Richtung Fluten. Die Gischt spritzt über die Rehling. Ich kann nicht schlafen. Meine Koje im Heck fühlt sich an wie der lichtlose Waggon einer Achterbahn. Das Schiff rollt und stampft, der Wind singt in den Seilen. Schließlich muss ich mich übergeben. Meine Finger krallen sich in die Wanten. Man könnte meinen, es sei gefährlich, sich nachts bei Wellengang über die Rehling eines über hundert Jahre alten Schiffs zu übergeben, aber tatsächlich habe ich mich noch nie so sicher gefühlt. In den kommenden Monaten werde ich lernen, dass das Abenteuerliche nie das Gefährliche ist, sondern immer nur das vermeintlich Ungefährliche, zum Beispiel, wenn sich Unaufmerksamkeiten in die geübten Handgriffe schleichen.    

Am nächsten Morgen liegt das Wasser spiegelglatt. Mir geht es immer noch schlecht. Die Ankunft in Kolumbien, die Einwanderung, das Verabschieden der Gäste, all das läuft für mich wie hinter Milchglas ab. Danach nur noch schlafen, trinken und mich nicht übergeben.     

Tagebucheintrag 18. Juni 2013, Cartagena, Kolumbien. Ich habe eine Beule am Kopf, eine Brandwunde am Arm, Hitzeausschlag an den Hüften und verschiedene Schnitte und Risse in Händen und Füßen. Man muss sich bei Seegang erst neu zu bewegen lernen.        

Ich weiß nicht, wie es meinem Opa auf seiner ersten Überfahrt ergangen ist. Wie er mit all den Eindrücken umgegangen ist, mit der Luft, mit der Kultur. Er war damals 22 Jahre alt, zwei Jahre jünger als ich. Es ist schade, dass ich ihn nicht mehr fragen kann. Er hätte mich vielleicht vorgewarnt. In den folgenden Tagen hämmern und schleifen wir den Rost aus den Wänden, streichen und ätzen den Dreck aus dem Deck, dann duschen wir und schwitzen die Metallsplitter aus der Haut. Meine Unterarme sind übersäuert. Mein Bettlaken ist rostgefärbt. Zwei Wochen bleiben wir im Hafen, um das Schiff auf Vordermann zu bringen.     Die ersten Monate lerne ich nur. Ich muss die Namen aller Taue, Segel, Masten und Bäume auf Deutsch und Spanisch lernen, ihre Positionen an Deck, dazu die Arbeitsweisen der Maschinen, die Bilgepumpe, der Desalinator, wie man ein Segel anschlägt, all das. Nebenbei Spanisch. Eins der Sprichworte meines Opas war: „Das muss einem dummen Menschen doch gesagt werden.“ Ich weiß jetzt, wo es herkommt.        

Tagebucheintrag 30. August 2013, vier Uhr morgens, 9°47' Nord 77°1' West. Ein Knall, gefolgt von klatschendem Lärm. Ich werfe mich in meine Badehose und folge dem Kapitän an Deck. Ein Segel flattert lose im Wind. Schotbruch am Flieger. Drei Mann, um das Segel einzuholen, eine Reihe, hau ruck. Dann ins Klüvernetz, Segel einfangen und fixieren.      

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Nils als Seemann auf den Spuren seines Großvaters   

Ein Segel gegen den Wind einzufangen fühlt sich an wie ein wildes Pferd zu zähmen. Man klammert sich an den Schiffsvorbau, kämpft gegen Wind und Wellen und versucht in wildem Ritt irgendwie ein Tau um den bockenden Stoff zu schlingen. Nach zehn Minuten ist es geschafft. Ich nehme mir ein Bier, pinkle in die Sterne, die sich im Wasser unter mir spiegeln, und wanke zurück ins Bett. Um sechs Uhr werde ich geweckt, Kursänderung, die restlichen Segel einholen.    

Nach etwa eineinhalb Monaten schlafe ich durch. Die Hitze macht mir nicht mehr zu sehr zu schaffen und meine Geschwindigkeit Kartoffeln zu schneiden nimmt zu. Nur mein Spanisch holpert noch sehr. „Die Zeit zerrinnt so schnell“, schreibt meine Großmutter. „Ehe man sich versieht, wird Deine Reisedauer vergangen sein. Ich wäre glücklich, wenn ich nur die Hälfte von dem zu sehen bekommen würde, was Du schon schauen konntest.“ Sie schrieb das an meinen Großvater, vor 55 Jahren.    

Ich sehe heute Haie und Rochen, Palmen und Mangroven, Delfine, die nachts im Meeresleuchten vor unserem Bug toben. Aber ich sehne mir einen Menschen herbei, mit dem ich das alles teilen kann. Denn das Anziehende am Meer ist die Sehnsucht. Es ist die Unerreichbarkeit des Horizonts, die einem manchmal das Herz zerspringen lässt, weil man weiß, dass man all das, was man dort sieht, niemals fassen kann.     Ich muss mir immer wieder von Neuem klar machen, dass das, was ich erlebe, etwas Unwiederbringliches ist. Die rostigen Wellblechdächer vor dem Rio Carti habe ich nun schon oft gesehen und genauso die Stürme und die unzähligen Seile, die ich nun alle benennen kann, die Fockschot, die Großdirk und die Niederholer. Ich verstehe Spanisch und die Art unser Schiff zu navigieren, die Pelikane fliegen immer noch gegen den Wind und wahrscheinlich werde ich sie in Deutschland vermissen. Vielleicht werde ich dann sogar die Brandblasen vermissen. Aber gleichzeitig plagt mich hier das Heimweh. Ich verfluche die Gegenwart und wünsche mir dabei nichts sehnlicher, als diese Gegenwart bis in die Ewigkeit zu dehnen.    

Mein Opa, der Schiffskoch, hat Argentinien gesehen, Brasilien, Spanien, Costa Rica, Mexiko, die vereinigten Staaten, Kolumbien. Dabei war für ihn eigentlich nur das Gebiet zwischen dem niedersächsischen Jadebusen und dem Elbe-Lübeck-Kanal vorgesehen. Und ich liege nachts inmitten karibischer Inseln auf dem Oberdeck, höre den Wind in den Segeln und kann auf eine angenehme Weise nicht schlafen. Hier, knapp 9 000 Kilometer von zu Hause entfernt, bin ich einem Teil meines Großvaters wahrscheinlich näher als je zuvor.    

Mitte Oktober stehe ich wieder in Leipzig. Ich habe nicht viel gekauft und doch habe ich viel mitgebracht. Teint und Hornhaut und alles. Draußen riecht es nach Erde und fallenden Blättern. Ich muss einen dicken Pullover tragen. Nach 113 Tagen auf See bin ich zurück in der kleinbürgerlichen Tristesse. Und dieser Ort kommt mir jetzt so schön vor wie kein Platz auf der Welt. Auf meinem Laptop sind abertausende Bilder zu sehen. Vielleicht wird sie irgendwann mein Enkel finden. Das wird dann zu Zeiten sein, in denen Leipzig aufgrund der Polschmelze am Meer liegt. Vielleicht wird er auch mein Tagebuch finden. Darin wird zu lesen sein:    

23. Juli 2013, auf der Fahrt von San Blas nach Cartagena. Wir kommen von den Inseln, wo die Kartoffeln melonengroß auf den Bäumen wachsen. Wir haben einen Stahlzweimaster unter den Füßen und über uns leuchtet die Milchstraße. Morgen erreichen wir Kolumbien. An den Händen habe ich Wunden, die abheilen werden.

Text: nils-straatmann - Fotos: privat

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