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Die Smartphonisierung des Wissens
Das große, noch zu verfassende Kompendium der im 21. Jahrhundert verloren gegangenen Situationen wird auch diese enthalten: Man sitzt zusammen in einer Küche, Bier wird gereicht, man spricht über die politische Lage, die herrschende Ideologie und Raumschiff Voyager - und plötzlich passiert es: Niemandem fällt mehr ein, wie diese Bösewichte im Delta-Quadranten hießen, die Captain Janeways Raumschiff immer überfallen wollten, um an die überlegene Technologie zu kommen! Dabei müsste man es wissen, es liegt einem auf der Zunge wie am nächsten Morgen die Kopfschmerztablette. Da geht es los: Alle grübeln, Dampfwölkchen steigen von den Köpfen auf. Sie tippen sich wild an die Stirn und machen Stöhngeräusche. Bis endlich einem wieder einfällt, wie die hießen, und alle rufen können: "Achjaaa, Kazon! Natürlich!"
Es ist keine Neuigkeit, dass diese Zeiten vorbei sind. Denn bevor noch der schnellste Grübler seine Gehirnfächer ganz unten durchwühlen konnte, hat's irgendeiner mit seinem Smartphone nachgeschaut. Wikipedia, Raumschiff Voyager, bekannte Spezies aus dem Delta-Quadranten, Kazon, alles klar. Was verloren geht, wird vermisst. Deswegen gehört zum neuen Phrasenrepertoire die Klage über die Smartphonisierung des Wissens. Mindestens einer aus der Runde wird also sagen: Wie einem diese Smartphones den Spaß verderben am Herumüberlegen, mit ihrem blöden immer und überall verfügbaren Wissen! Wie schön es früher war, als man noch ungehemmt nachgrübeln konnte in der geselligen Wie-hieß-nochmal-Überlege-Runde. Man hätte sich doch gut noch eine halbe oder eine Stunde damit beschäftigen können. Wie viele andere Spezies aus dem Delta-Quadranten wären einem eingefallen, die man noch hätte diskutieren können. Man hätte noch Grund gehabt, ein bisschen miteinander zu reden. Aber jetzt wissen ja alle den Namen schon, und spät ist es ja auch geworden, also geht man lieber mal nach Hause.
Aber, halt, alle Maschinen stopp!
Warum wird eigentlich getrauert? Was gibt es zu vermissen an dem gemeinsamen Nichtwissen, das sich jetzt einfach schneller beseitigen lässt? Warum ist die Technik angeblich schon wieder der Spaßverderber? Es scheint, als gäbe es eine neue Furcht im digitalen Dorf. Nach der Angst um die Sicherheit unserer Daten, der Angst ums Urheberrecht als Lebensunterhalt der Kreativen, der Angst um die Vereinsamung im sozialen Netzwerk - haben wir jetzt etwa Angst, dass wir uns nichts mehr zu erzählen haben? Es gibt diese Angst gewiss, sie stammt aus vergangenen Tagen der Pubertät, meist vergessen, aber nie ganz widerlegt: nichts zu haben, über das man miteinander reden könnte. Weil es keinen Anlass mehr gibt, etwas zu sagen, weil schon alles gesagt wurde, was man sagen kann. Seit es das Gebot ist, möglichst interessant für möglichst viele zu sein, also spätestens seit man die Grundschule verlassen hat, plagt man sich damit, der eine mehr, der andere weniger.
Was, wenn ausgerechnet unsere neuen Telefone die schlimmsten Befürchtungen wahr gemacht haben? Wenn Verfügbarkeit von Information eine negative Seite hat, die alle Kulturkonservativen bisher übersehen haben, weil sie sich an ihre Pubertät nicht erinnern können: dass wir uns nicht nur nichts mehr merken, sondern uns auch nichts mehr zu sagen haben? Technikfeindlichkeit, die an pubertäre Angst andockt - das wäre kaum aufzuhalten, das kann das nächste große Ding auf dem Angstmarkt sein.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Und auch wer das für starken Tobak hält und unempfindlich ist gegenüber solch pubertärem Horror vacui, wird eingestehen müssen: Seit wir mailen und uns herumtreiben bei Skype und Facebook, lesen wir voneinander und reden mehr, haben uns aber weniger zu sagen, weil wir uns so vieles nicht mehr sagen müssen. Wir können es uns zeigen. Noch vor fünf Jahren wäre es eine sprachpragmatische Fehlleistung ersten Ranges gewesen, auf die Erwähnung einer abwesenden Person mit der Aufforderung "Zeig mal" zu reagieren, solange es nicht um die eigenen Kinder ging, von denen man ein zerschlissenes Foto aus der Hosentasche friemeln konnte. Wenn heute Hannah ihrer Freundin Sophie bei Skype schreibt, sie habe da gestern auf der Party so jemanden kennengelernt, schreibt Sophie "Zeig mal" zurück, woraufhin ihr ein Link zu einem Facebook-Profil ausgehändigt wird. Und nicht, wie man im Datenschutzrausch annehmen könnte, dass Informationen über die Partybekanntschaft weitergegeben werden, ist in diesem Fall das Schlimme - das wären sie ja sowieso, denn Hannah hätte natürlich jedes Detail an ihm, die schönen Barthaare, die schiefe Nase, haarklein geschildert - nein, dass sie das alles nicht mehr erzählen muss, das ist das Gruselige. Denn was sollen die beiden Freundinnen sich denn jetzt noch erzählen? Und wenn wir eh schon chatten, dann müssen wir ja auch nicht mehr nacherzählen, was uns jemand anderes erzählt hat. Wir fügen es ein. Hannah ist umgezogen? Sie muss ihre Straße nicht beschreiben, ein Streetview-Link reicht. Die Regeln des Erzählens sind gemein: Erzählt wird natürlich auch um des Erzählens willen, aber es darf nicht so aussehen. Wer etwas erzählt, was eh jeder weiß oder sieht oder nach dem Klicken auf einen Link sehen kann, der ist raus aus dem Spiel: Er erzählt, obwohl er, oh große Angst, doch eigentlich gar nichts zu erzählen hat.
Wenn mein Gesprächspartner etwas erwähnt, das ich nicht kenne - welchen Sinn hätte es, ihn zu fragen, was es bedeutet, obwohl ich es doch viel schneller ergoogelt habe? Man könnte das die STFW-Krise nennen: STFW, Search the fucking web, kriegt man in einem Chat um die Ohren gehauen, wenn man nach etwas fragt, was man auch googlen kann. Und nicht mehr lange, da wird's auch jedem Smartphone-Benutzer lautstarkt angeraten. Woran die STFW-Sager nicht denken: Wir möchten uns doch so gern was erzählen. Hannahs Partybekanntschaft möchte vielleicht auch von ihr etwas erzählt bekommen, in Hannahs ihr eigenen, so nett verworrenen Worten. Zum Beispiel, welche Spezies es im Delta-Quadranten gibt. Und vielleicht möchte sie es nicht von einer blöden Wikipedia-Seite abgelesen bekommen. "Allwissenheit ist eben gar nicht so interessant wie man denkt", hat der Schriftsteller Douglas Coupland unlängst in einem Interview erklärt. "Man sitzt zusammen und stellt eine interessante Frage, und statt zu überlegen, holt inzwischen fast immer jemand sein Telefon raus und googelt schnell die Antwort." Das sei - so Coupland - auch das Konzept der Quizshow der Zukunft: "Am Ende gewinnt der, der den schnellsten Prozessor hat und sein Telefon am besten bedienen kann."
Was aber heißt es, wenn wir unser Wissen in dieser Form auslagern? Wenn wir unser soziales Erinnern auslagern in Maschinen, dann erzählen wir uns nichts mehr, denn die Maschinen erzählen uns. Und was passiert, wenn wir uns nichts mehr erzählen, das will sich lieber keiner vorstellen - gut ist es jedenfalls nicht. Es gibt, wie eigentlich immer, zwei Möglichkeiten, mit der STFW-Krise des Erzählens umzugehen. Entweder wir lassen uns von der Pubertätsangst in jenen fiesen kleinen Kulturkonservativsmus jagen und reagieren wie der Klagende aus der Anfangsepisode: Es ist mal wieder der technische Fortschritt. Erst nimmt er uns die Zeit, um zu entspannen, dann die Übersicht, die Arbeitsplätze, die Luft zum Atmen - und jetzt auch noch die Gründe, miteinander zu reden! Schämt er sich denn nicht? Reißt ihn ab, verhängt soziale Normen gegen das Benutzen von Smartphones, baut uns ein sicheres Gehege, in dem wir uns noch etwas erzählen können, weil es kein W-LAN gibt.
Oder aber wir denken daran, dass technischer Fortschritt mindestens ein Nullsummenspiel ist und dass wir keine Krise, sondern eine außergewöhnlich interessante Veränderung erleben: Wenn wir Gründe verlieren, uns etwas zu erzählen, dann gewinnen wir auch welche. Vielleicht wandelt sich die Gesprächskultur vom Wie-war-noch-mal zum Wusstet-ihr-dass: Wir können alles nachschlagen und wir schlagen mehr nach, als wir für uns behalten können. Zufällig stolpern wir bei Wikipedia über die "Melassenkatastrophe von Boston". Und haben etwas zu erzählen, was wir früher nicht zu erzählen gehabt hätten. Und dann gibt es ja auch noch jene Wie-war-noch-mal-Momente, die sich nicht durch Google beseitigen lassen - zumindest noch nicht.
Wer einmal versucht hat, den Titel eines Films herauszufinden und nur noch ein paar vage Eindrücke des Settings und der Handlung hatte, der weiß, dass man nicht alles ergoogeln kann, auf das man in einer geselligen Runde nach starkem Grübeln und Austausch gekommen wäre. Manches soziale Erinnern kann noch gar nicht ausgelagert werden. Wenn es also eine Krise des Erzählens gibt, dann zeigt sie uns nur, für welche Erzählungen wir wirklich füreinander da sind und welche uns auch Maschinen abnehmen können. Und unsere Abendrunde wird vielleicht nicht länger, aber interessanter.
Text: lars-weisbrod - Foto: cydonna/photocase.de