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Die Rückkehr der Volksmusik
Sätze wie „Mit diesen Haaren darf man eigentlich keine Volksmusik spielen!“ hat Sebastian Meier schon häufiger gehört. Der Oberpfälzer ist sich bewusst, dass er mit seiner Frisur die Traditionalisten provoziert. „Volksmusik ist meine Musik“, sagt der 26-Jährige, unter dessen Hut ein Schwall Dreadlocks hervorquillt, „die haben schon mein Opa und mein Uropa gespielt.“
Dass Volksmusik heute sogar im Atomic Café und im Substanz gespielt wird, hat sie unter anderem der musikalischen Begeisterung einer Handvoll Niederbayern zu verdanken. Die stellten im Herbst 2003 beim „30. Herbsttreffen niederbayerischer Musikanten, Tänzer und Sänger“ fest, dass es einige von ihnen zum Arbeiten und Studieren nach München verschlagen hat. Zu später Stunde formte sich daraus ein bierseliger Gedanke: Man könnte sich doch eigentlich auch mal in „Minga“ zum Musizieren treffen. Und das tat man dann auch: Zwei Wochen später war der „Niederbayerische Musikantenstammtisch“ geboren.
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Netzwerk Stammtisch
Womit sicher keines der Gründungsmitglieder gerechnet hatte, ist, welche Entwicklung ihre meist monatlichen Treffen angestoßen haben. Denn seit sich der „Niederbayerische Musikantenstammtisch“ durch die Wirtshäuser der bayerischen Landeshauptstadt spielt, ist in München eine einzigartige Situation entstanden: Abseits von aufgesteckten Dirndlbalkonen und Gamsbartträgern hat sich unter den Anfang 20- bis Mitte 30-jährigen eine subkulturelle Volksmusikszene gebildet, in der sich alle kennen, alle mögen und nicht in Konkurrenz zueinander stehen. Der Stammtisch findet monatlich in verschiedenen Wirtshäusern statt. Er ist Netzwerktreffen und Kapelle zugleich. Hier tauscht man sich aus, empfiehlt sich gegenseitig und stellt neue Formationen zusammen. Oder - um es mit den Worten der Musiker zu sagen: Der Stammtisch ist eine Jamsession. Aber eben mit Zwiefachen, Drehern, Schottischen und Galopp.
Interessanterweise sind die wenigsten Stammtisch-Mitspieler Münchner. Die meisten stammen vom Land. Aber die Stadt ist es, die sie musikalisch zusammenbringt. Michi von Mücke kommt aus Oberammergau und leistet seinen Zivildienst in München ab. Er sagt: „Für mich als Landmensch ist es wichtig, so was wie den Stammtisch in der Stadt zu haben. Alles trifft sich, man lernt neue Leute kennen. Und irgendwo wird immer gespielt.“
Daheim spielt der 23-Jährige beim „Kofelgschroa“, das mittlerweile über die Garmischer Landkreisgrenzen hinaus bekannt dafür ist, dass es Volksmusik auf seine ganz eigene Art und Weise interpretiert und weiterentwickelt. Mit Tubaspiel im Technostil und neu inszeniertem „Purschenplattler“ schockt die Gruppe die Traditionalisten. Tritt das „Kofelgschroa“ bei den „Wirtshausmusikanten“ im Bayerischen Fernsehen auf, heißt es, wie Michis Bruder Martin erzählt, in Oberammergau danach: „Warum spielen jetzt ausgerechnet die im Fernsehen? Es gibt doch viel bessere Musikanten.“ In den Augen der Leute rund um den „Niederbayerischen Musikantenstammtisch“ sind sie es, die die echte „Echte Volksmusik“ spielen – nämlich authentische Gebrauchsmusik abseits der Volksmusikpflege. Bei ihnen steht der Spaß am Spielen an erster Stelle, nicht die exakt richtige Spielweise. Notenblätter brauchen sie nicht – sie spielen auswendig und nach dem „Ohrwaschl“. Bei ihnen kann jeder einsteigen, der ein Instrument mitbringt. Und wenn Stimmung aufkommt und die Leute tanzen, ist das für sie die größte Bestätigung. Anarchie in der Tradition „Keiner von uns kommt von der Alm“, sagt Evi Keglmaier. „Und wenn wir spielen, dann erfahren das die Leute nicht vom Hochzeitslader, sondern übers Internet." Die 28-Jährige, die auch bei der Gruppe „Zwirbeldirn“ mitspielt, hat Ihre Zulassungsarbeit zum Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien über den „Niederbayerischen Musikantenstammtisch“ verfasst und sich dabei eingehend mit der Wirkung der Gruppe auf die Öffentlichkeit auseinandergesetzt. In den Interviews, die sie für diese Arbeit geführt hat, wurde deutlich: Der Stammtisch trägt ganz wesentlich dazu bei, dass Volksmusik in München heute auch bei den Leuten als in gilt, die sonst eher Musik der härteren Gangart bevorzugen. Als Grund dafür wird unter anderem genannt, „dass der Niederbayerische Musikantenstammtisch ein gewisses Maß an Anarchie inne hat. Anarchie in der Tradition.“ Die Stammtischschwestern und -brüder stehen für eine Verbindung von Regionalität und Urbanismus und die trägt laut Evi Keglmaier viel dazu bei, dass man den Stammtisch auch als Clubgänger „cool“ finden kann: „Gerade in Zeiten der Globalisierung sind viele junge Menschen auf der Suche nach ihren Wurzeln“, meint sie, „und wir vermitteln ihnen, dass es durchaus Möglichkeiten gibt, sich zwischen Tradition und Techno zu bewegen.“ Einer, der durch seine Person und sein äußeres Erscheinungsbild ganz wesentlich dazu beiträgt, dass sich das Bild des Volksmusikanten weg von Karohemd, Schnauzer und Brauchtumshudelei bewegt, ist Dreadlock-Träger Sebastian Meier. Er stieß kurz nach der Gründung zum „Niederbayerischen Musikantenstammtisch“ und obwohl alle Mitspieler ganz leger in Alltagskleidung daherkommen, fällt der 26-jährige besonders auf – nicht zuletzt durch seine Dreadlocks. Geht es nach Sebastian, war die Volksmusik in den letzten Jahren einfach nicht am richtigen Platz. „Früher ist zu dieser Musik gesoffen und getanzt worden. Heute läuft alles konzertant ab.“ Die Volksmusik wurde lange Zeit kaputt gepflegt. Aber sie muss nicht in Hallen und Sälen gespielt werden, sondern im Wirtshaus. Und da es eher schwierig ist, junge Menschen ins Wirtshaus zu bringen, bringt man die Volksmusik halt dahin, wo sie sind: in die Clubs. 2007, 2008 und 2009 gab es jeweils am Unsinnigen Donnerstag einen Stammtisch im Substanz. Auf dem Heimweg vom Hofbräuhaus spielten die Stammtischschwestern und -brüder nachts um Drei auch mal ein Ständchen im Atomic Café. Entstanden ist der Kontakt zur Münchner Clubszene über „G. Rag und die Landlergschwister“, bei denen Sebastian die Tuba bläst. Der Metallblasinstrumentenbaumeister weiß, dass die Türen der Clubs für den Niederbayerischen Musikantenstammtisch sicher nicht geöffnet worden wären, hätten die ehemaligen Punkrocker von den „Landlergschwistern“ die Volksmusik nicht schon vorher auf ihre Weise dort hineingetragen. „Die Landlergschwister machen bayerische Volksmusik, nur halt anders interpretiert“, sagt Sebastian. „Und letztlich“, zitiert Sebastian seinen Landlerbruder Andreas „G. Rag“ Staebler, „ist ja eh alles Rock'n Roll“. Wann und wo sich der „Niederbayerische Musikantenstammtisch“ trifft, erfährt man auf www.wirtshausfreundliche-musikanten.de oder über den E-Mail-Verteiler, in den man sich dort eintragen kann.
Text: alexandra-graf - Fotos: Andrea Wurm, Markus Mayer