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Die Ray-Habilitation

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Die Rebellion des Bürgertums beginnt zwischen Vinothek und Delikatessentheke. Eine halbe Treppe hinauf, in der Galerie mit Blick auf die Angebote des Hamburger „Culinariums“ blockiert eine ältere Dame, bekleidet mit teurem Pelz, den reservierten Platz. So war das nicht vereinbart. Lady Bitch Ray zögert einen Moment. Sie zieht den Atem ein, die Augenbrauen hoch und nimmt dann doch nur am Tisch gegenüber Platz. „Die vertreiben wir schon noch“, zischt sie selbstbewusst in Richtung der renitenten Rentnerin. Darin, das wisse man ja, habe sie schließlich Übung. Dann bestellt die Rapperin Tee und Gebäck. Die Vertreibung bleibt vorerst aus. Heute ist es ausnahmsweise mal nicht sie, die die Regeln bricht. Und sei es nur die Regel eines reservierten Tisches. Provokation um jeden Preis? Ein Missverständnis.

Genau damit soll jetzt Schluss sein. Auf der Frankfurter Buchmesse stellte Lady Bitch Ray ihr Buch „Bitchsm“ vor, es soll ein Befreiungsschlag werden. Ein Manifest mit 480 Seiten im rosa Einband. Es soll das wahre Anliegen der Lady Bitch Ray verbreiten: Eine feministische Botschaft, die sich durch einen scharfen Blick auf die Geschlechterverhältnisse im 21. Jahrhundert auszeichnet. Ein bisschen ist ihr Buch auch Gebrauchsanleitung zum Bitch-Sein, eine Wegbeschreibung zur weiblichen Selbstbestimmung. Sie kennt diesen Weg, sie hat ihn selbst beschritten und man sollte ihn auch kennen, um sie besser zu verstehen.

Rückblick: Ein Abend in Bremen, Ende der 90er-Jahre. Bislang ist es ein gewöhnlich-außergewöhnlicher Auftritt für die junge Künstlerin, die sich noch Lady Ray nennt. In einem ihrer extravaganten Kostüme, deren Stoff wahlweise an den entscheidenden Stellen ausgeschnitten oder mit überdimensionalen Penissen beklebt ist, steht sie auf der Bühne und rappt über Sex. Sie tut also das, was viele ihrer männlichen Kollegen auch tun. Nur ist sie eine Frau. Und wer als Frau über Masturbation, Orgasmen und Sexualpraktiken spricht, eckt an, das weiß die Künstlerin längst. An diesem Tag aber sollte die Provokation eskalieren. Das Publikum ihrer Heimatstadt fängt an, Lady Ray als „Bitch“, als Schlampe, zu beschimpfen. Ihre Reaktion auf diesen Vorfall: Sie beschließt, den Namen für sich anzunehmen. An diesem Tag wurde aus Lady Ray Lady Bitch Ray. Seitdem lebt Reyhan Sahin, wie die von Medien gerne als Porno-Rapperin geführte Künstlerin mit bürgerlichem Namen heißt, mit zwei Identitäten.

Einmal ist da die reflektierte, intelligente Doktorandin Sahin, die in Bremen Germanistik und Linguistik studierte. Die Stipendiatin, die mittlerweile ihre Dissertation erfolgreich eingereicht und verteidigt hat. Und auf der anderen Seite ist da Lady Bitch Ray, die über „Deutsche Schwänze“ rappt und Oliver Pocher vor laufender Kamera ein Döschen mit Vaginalsekret schenkte. Irgendwann kam der Punkt, als die Lawine, die die Figur Lady Bitch Ray mit solchen Auftritten auslöste, den Mensch Reyhan Sahin zu erschlagen drohte. Sahin war als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bremen konfrontiert mit anonymen Beschwerden, Journalisten lauerten ihr vor dem Hörsaal auf. Der Druck wurde zu groß. An einem Sommertag im Jahr 2008 brach sie in der Universitätsbibliothek zusammen. Diagnose: Burn-Out. Die Doktorandin verschrieb sich danach eine knapp dreijährige Medienabstinenz.

„Es war alles ein großes Missverständnis“, sagt Sahin heute rückblickend, während der Tee auf ihren Schokoladenflorentiner tropft. „Meine Botschaft stand und steht noch immer im Vordergrund.“ Lady Bitch Ray ist immer noch so etwas wie das Sprachrohr von Reyhan Sahin. Nur ist das oft so laut, so überpegelt, dass die Botschaft verzerrt wird oder gar nicht erst ankommt. Reyhan Sahin weiß, dass sie laut sein muss, um gehört zu werden. Je mehr Reyhan Sahin in der Vergangenheit zu sagen hatte, desto mehr drehte Lady Bitch Ray damals den Verstärker auf. Heute tut Sahin viel, um richtig verstanden zu werden, was bedeutet, dass Lady Bitch Ray viele Dinge bleiben lässt, die sie früher noch getan hätte.
Ihre Botschaft bringt sie selbst auf die Formel namens „vaginale Selbstbestimmung“. Das meint: Frauen sollen sich nehmen, was sie brauchen, sollen selbstbestimmt leben. Auch sexuell. Wer an der Notwendigkeit einer solchen Emanzipation zweifelt, den verweist Sahin auf die von ihr sogenannten „medialen Schwanzstrukturen“. Frauenbilder, sagt sie, werden gemacht. Von Männern. „Ein gutes Beispiel ist Sonya Kraus. Alle sagen: Mensch, die ist doch gar nicht so blöd. Die tut nur so. Doch ich finde es viel schlimmer die Dumme zu spielen, als die Dumme zu sein.“ Man müsse sich nur einmal durch das Fernsehprogramm zappen. Und dann solle noch mal jemand sagen, Emanzipation wäre nicht notwendig. Lady Bitch Ray sieht sich deswegen immer noch als Gegenentwurf. Den Weg dorthin zeichnet sie in ihrem Buch „Bitchsm“ nach, einem bunt bebilderten Manifest, irgendwo zwischen Hochglanz und Trashpornokitsch. Um eine breite Öffentlichkeit zu erreichen, muss man sich sprachlich anpassen, sagt die Linguistin Reyhan Sahin dazu – eine wissenschaftliche Abhandlung würde ja kaum jemand lesen. Neben einer Gebrauchsanleitung wie man(n) Frauen richtig anfasst, finden sich also Texte, die zwischen Penistypografien und Rasiertipps ihre Botschaft der neuen Selbstbestimmung verbreiten. Das klingt dann so: „Habe Selbstbewusstsein: Stecke Deinen Finger in Deinen Slip, finde Deinen G-Punkt. Es sind Deine Gefühle, Dein Körper, Deine Titten, Dein Arsch.“ Feminismus eben, aber im Lady Bitch Ray-Stil.

Für ihre Theorie des Bitchsm hat sie sich aus allen Strömungen der feministischen Bewegungen die passende Philosophie zusammengebastelt. Besonders geprägt hat sie aber die Ästhetik des amerikanischen HipHop um Missy Elliot und Lil Kim: „Da haben sich zum ersten Mal Frauen hingestellt und gesagt: Ich bin eine Bitch, und diesen eigentlich sehr negativen Begriff positiv umgedeutet.“ Bitch als etwas Selbstbestimmtes. So will sie verstanden werden, es ist auch der Versuch, das Bild der Kampf-Emanzen der 70er-Jahre mit einer neuen Ästhetik zu versehen. Mit „Bitchsm“ will sie das alles deutlich machen und nebenbei gewissermaßen eine Ray-Habilitation feiern. Ihr Ziel, sagt Reyhan Sahin, sei es, eines Tages all das zu rappen, zu sagen und zu schreiben, was sie heute schon rappt, sagt und schreibt – ohne dass sich jemand darüber aufregen würde. Im „Culinarium“ in Hamburg hat sie an diesem Nachmittag ein Ziel bereits erreicht: Das benachbarte Bürgertum hat sich unbemerkt und lautlos verabschiedet. Vertrieben werden musste es dafür gar nicht.

Text: dennis-sand - Foto: dpa

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