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„Die Nation ist der Boden, aus dem ich wie eine Blume wachse“

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Seit der „orangenen Revolution“ in der Ukraine Ende 2004 ist orange zur Farbe des Aufbruchs geworden. Wir sind nach Lviv, 72 Kilometer hinter die EU-Ostgrenze gefahren, und haben drei junge Ukrainer gefragt: Was ist geblieben vom Neuanfang? 1. Die Studentin

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

„Hey, ihr seid ja total cool. Wir tragen jetzt auch orangefarbene Kleider.“ Das, erzählt Tanya Straschewska, haben ihr Bekannte aus Berlin während der Revolution geschrieben. Jeder zweite Ukrainer demonstrierte damals gegen die Wahlfälschungen von Präsidentschaftskandidat Viktor Janukowitsch. Was sich nach naiver Revolutionsromantik westlicher Wohlstandskinder mit Che-Guevara-Poster im WG-Zimmer anhört, erfüllt Tanya, 22, mit Stolz. Früher, sagt sie, habe niemand gewusst, wo die Ukraine liege. Die Revolution aber habe das Bild der Ukraine im Ausland geändert – und Tanya zu einer stolzen Ukrainerin gemacht. Sie lebt 72 Kilometer von der EU-Ostgrenze entfernt in Lviv, der Hauptstadt der Westukraine, die früher einmal Lemberg hieß und mitten in Europa lag. Das Stadtparlament von Lviv gehörte zu den ersten, die das Ergebnis der Präsidentschaftswahl zurückwiesen. Immer wieder war die Stadt Keimzelle des Widerstands – erst gegen die Habsburger, dann gegen die Sowjetunion und zuletzt gegen die antidemokratische Ukraine Leonid Kutschmas und die Anlehnung an Russland. Tanya studiert Griechisch und Germanistik und hat bereits ein Kinderbuch vom Deutschen ins Ukrainische übersetzt. Drei Wochen lang demonstrierte sie Ende 2004 auf dem Maidan, dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew. „Es war wie ein Rausch“, erzählt sie auf einem Rundgang durch die Stadt, vorbei an ihrer Universität. Während der Revolution war die Uni geschlossen, der von Studenten und Eichhörnchen bevölkerte Park davor verwaist. Heute sind Enttäuschung und Resignation groß, sagt Tanya. Nur ein Jahr nach der Revolution ist die „orangene Koalition“ der Revolutionshelden Julia Timoschenko, die Premierministerin geworden war, und Viktor Juschtschenko, dem heutigen Präsidenten, zerfallen. Die alten Gesichter sind wieder im Fernsehen aufgetaucht, erzählt Tanya, Wahlfälscher Viktor Janukowitsch ist heute Premierminister. Viele wollen von Politik nichts mehr wissen. Dass Präsident Viktor Juschtschenko das Parlament aufgelöst hat und es im September vorgezogene Parlamentswahlen geben soll, erfährt Tanya erst von einem Anrufer aus dem Ausland: Gibt es jetzt eine neue „orangene Revolution“?, wollte er wissen. „Es ist, als hätten alle einen riesigen Kater“, sagt Tanya.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Statt für Politik interessiert sich Tanya jetzt für Kultur. Vom Übersetzungsstammtisch am Vormittag, bei dem sich Übersetzer mit Germanistik-Studenten treffen, geht es in eine Fotoausstellung, zum Straßentheater und später zur französischen Kurzfilmnacht. Manchmal, erzählt Tanya auf dem Weg zu ihrem Lieblingsplatz in Lviv, denke sie Separatismus, eine autonome Westukraine, würde alles leichter machen. „Aber das wäre ungerecht den anderen Ukrainern gegenüber. Das sind ja auch meine Leute.“ Aus der Ukraine weggehen, wie es viele ihrer Landsleute tun, weil sie nicht genug verdienen, würde sie niemals. „Höchstens für ein Semester.“ Tanya bewundert Julia Timoschenko, die Frau mit dem seltsamen Haarkranz. Obwohl ihre Muttersprache russisch ist, spricht sie in der Öffentlichkeit nur ukrainisch. Immer wieder ist es die Sprache, auf die Tanya zurück kommt. In der Sowjetunion war Ukrainisch zwar nicht verboten, aber es galt als Sprache der Bauern. Noch heute erscheinen 80 Prozent der Bücher auf Russisch, die meisten Popstars singen russisch, selbst viele Abgeordnete sprechen nur russisch. „Ich will niemand verbieten, russisch zu sprechen.“ Aber, findet Tanya, alle Ukrainer sollten Ukrainisch sprechen können. So denken viele. In manchen Bars kostet das Bier weniger, wenn man es auf ukrainisch und nicht auf russisch bestellt, der Underground-Club Laika in Lviv stellte russisch singenden Bands sogar den Strom ab. „Meine Identität ist mit meiner nationalen Identität verbunden. Die Nation ist der Boden, aus dem ich wie eine Blume wachse“, sagt Tanya.

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Illustration: Julia Schubert

Sie biegt in eine Seitenstraße des Prachtboulevards Svobody ein, auf dem sich Handyladen an Handyladen reiht und zeigt auf ein Haus, das von oben bis unten mit Schriftzügen übersät ist. „Das ist mein Lieblingsplatz.“ 2001 hatten Studenten das Haus besetzt, um für mehr Meinungsfreiheit zu demonstrieren. Die Sprüche auf der Hauswand handeln davon, dass die Wahrheit eines Tages siegen wird. „Dieses Haus symbolisiert für mich Freiheit. Es macht mir jeden Tag neuen Mut.“


2. Der Revolutionär

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Fiaker stehen neben dem Kaffeehaus Wien im Zentrum von Lviv, in dem sich Stefan Mironjuk einen Apfelstrudel bestellt und von den Tagen im Herbst 2004 erzählt, die sein Leben verändert haben. Es ist der 21. November 2004, der Tag der ukrainischen Präsidentschaftswahl. Die Zentrale Wahlkommission verschanzt sich hinter Panzern und LKWs, die Anhänger des pro-russischen Kandidaten Viktor Janukowitsch jubeln. Stefan, der für das „Ukranian Congress Comittee“ die Wahl beobachtet hat, fährt mit dem Taxi zur Wahlkommission, als der Fahrer den Satz sagt, der Stefan dazu bringt, sein Leben als Anwalt in München aufzugeben: „Ihr müsst der Welt sagen, was hier passiert!“ Stefan organisiert Erste-Hilfe-Rucksäcke beim Bayerischen Roten Kreuz und am zweiten Tag der „orangenen Revolution“ hält er selbst eine Rede auf dem Maidan: Er spricht von den Wahlfälschungen, die er gesehen hat und sagt, dass die Augen der Welt auf die Ukraine gerichtet seien. Die Frau des heutigen Präsidenten Viktor Juschtschenko gratuliert ihm danach zu seiner Rede. Die Hartnäckigkeit der Menschen, die vier Wochen trotz Minusgraden auf dem Maidan protestierten, erinnerte Stefan an die Montagsdemos in der DDR. „Als ich oben auf der Bühne stand, wusste ich: Jetzt ist es Zeit, in die Ukraine zurück zu kehren und beim Aufbau mitzuarbeiten.“

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Illustration: Julia Schubert

Stefan wurde in Serbien geboren und ist in Deutschland aufgewachsen, aber seine Eltern sind Ukrainer. Er war bei den ukrainischen Pfadfindern in Deutschland und in den Ferien besuchte er Kurse an der Freien Ukrainischen Universität in München. In die Ukraine zu ziehen und unter dem diktatorischen Kutschma-Regime zu leben, konnte sich Stefan aber nie vorstellen. Erst der Gedanke, einer Revolution beizuwohnen, entflammt ihn. Heute arbeitet der 34-Jährige bei der Industrie- und Handelskammer und versucht, Unternehmen in der Region zu fördern. Er organisiert für europäische Unternehmer Reisen nach Lviv und engagiert sich bei den ukrainischen Grünen. „Europa hat die Ukraine danach schnell fallen lassen“, sagt Stefan. Während der Revolution sprachen westliche Politiker zwar von einem Sieg europäischer Werte, die EU-Beitrittschancen verglich der ehemalige Kommissionspräsident Romano Prodi aber mit denen Neuseelands.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

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Resignation ist Stefan dennoch nicht anzuspüren. Obwohl Sonntag ist, wirkt er, als wolle er am liebsten die Ärmel hochkrempeln und arbeiten. Er hat seine Bestimmung gefunden und schwärmt von „Dynamik“ und „Potential“ der Gesellschaft: „Es gibt einen neuen Geist in der Ukraine“ Vor Stefans Haus sollten Müllcontainer aufgestellt werden, doch eine Nachbarin startete eine Unterschriftenaktion. Heute stehen immer noch keine Container vor seinem Haus. Das, so banal es klingt, ist die wahre Revolution: Zweieinhalb Jahre nach der „orangenen Revolution“ entsteht in der Ukraine bürgerschaftliches Engagement und das, was als grundlegende Voraussetzung für einen EU-Beitritt gilt: eine Zivilgesellschaft. Stefan baut sie mit auf.


3. Der Autor

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Ljubko Deresch läuft auf eine rote Eingangstür zu, auf der auf weißem Grund ein rotes „K“ strahlt und den Besucher an die k. u. k-Zeiten der Stadt erinnert. „Kult – Club der anständigen Lemberger“ steht in kyrillischen Buchstaben auf der Tür. Überall an den Wänden, selbst auf der Speisekarte, leuchten die Konterfeis berühmter Bürger der 750 Jahre alten Stadt: Schriftsteller, Wissenschaftler und Künstler aus Geschichte und Gegenwart. Diese Bar ist das Symbol der neuen Ukraine, von der Stefan gesprochen hat, und Ausdruck des Identitätsfindungsprozess, den Tanya beschrieben hat. Auch Ljubkos Bild hängt an der Wand. Mit 16 hat der heute 23-Jährige seinen ersten Roman veröffentlicht. Seither wird er als Wunderkind der ukrainischen Literatur gefeiert. Vielleicht ist es doch kein Zufall, dass das Buch, das Ljubko berühmt machte, genauso heißt wie die Bar, in der er gerade grünen Tee trinkt: „Kult“. Denn auch Ljubko ist Symbol einer neuen Ukraine.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Seine Bücher sind in ganz Europa erschienen. Seit der „orangenen Revolution“ und der EU-Osterweiterung ist das Interesse an ihm und der neuen ukrainischen Literatur riesig. Während Tanya letztes Jahr ohne Begründung ein Visum für das Nachbarland Polen verweigert wurde und sie den Besuch bei ihren Verwandten absagen musste, spürt Ljubko wenig von solchen Einschränkungen. Ihm helfen die Veranstalter seiner Lesungen mit Visa. Für Ljubko würde ein EU-Beitritt wenig ändern. Er befürchtet sogar mehr Nachteile als Vorteile. „Der Westen ist zu satt. Es geht immer nur um Karriere und um Konsum, selbst wenn die Leute ins Yoga gehen.“ Deshalb versteht er sich mit russischen und anderen osteuropäischen Autoren besser als mit westlichen. „Mir ist dieses Statusdenken fremd. Bei uns sind die meisten mit sich und dem Überleben beschäftigt.“

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Noch ist in Lviv von Konsumterror wenig zu spüren, schon gar nicht in den kleinen Seitenstraßen fern der Kaffeehäuser in der Innenstadt. Die meisten Menschen verdienen nicht genug, um ihre Miete bezahlen zu können und sind auf Verwandte auf dem Land angewiesen, die sie mit Obst, Gemüse, Fleisch versorgen. Ljubko ist einer der wenigen ukrainisch schreibenden Autoren, der vom Schreiben leben kann. Die paar Buchhandlungen, die es überhaupt gibt, nehmen nur ungern ukrainische Bücher in ihr Sortiment – aus Angst, sie nicht loszuwerden. Deshalb hat Ljubko in Lviv auch Wirtschaftswissenschaften studiert. „Etwas Sicheres, denn hier zählt nur die Wirtschaft. Ein Philosoph ist hier ohnehin jeder, sonst erträgt man die politische Situation nicht.“ Politik ist für Ljubko zum Nebensatz geworden. Dabei demonstrierte auch er im Herbst 2004. Für eine neue Ukraine, mehr Demokratie. „Das ist die pathetischste Frage, die man stellen kann“, antwortet Ljubko, wenn man ihn fragt, was von der „orangenen Revolution“ übriggeblieben sei. Er kann nicht mal sagen, ob sich das Land politisch vor- oder rückwärts bewegt. Aber das stört ihn auch nicht. „In Tibet soll es einen Stein geben, auf dem dieser Satz eingraviert ist: ’Lerne Schwierigkeiten zu lieben.’ Das inspiriert mich. Denn wenn du Schwierigkeiten lieben lernst, wird alles im Leben eine Freude sein.“

Text: caroline-vonlowtzow - Fotos: Caroline v. Lowtzow

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