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Die letzte Grenze

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Sie trafen sie in Altar, eine Mutter, drei Kinder, sechzig Meilen südlich der Grenze. Der Vater fehlte. Sie wagten nicht, nach ihm zu fragen. Sie fragten stattdessen, woher sie kämen. Chihuahua, sagten die Kinder sofort. Irgendwoher, sagte die Mutter. Sie logen, Brett Huneycutt wusste es, und er hörte es auch. Er kannte den Akzent. Guatemala. Vielleicht El Salvador. Niemals Chihuahua, nördlichste Provinz Mexikos. Brett Huneycutt, 25, sah den Schrecken der Mutter, fühlte die Angst der Kinder, sie hielten Brett und seine Freunde für Polizei oder Schlimmeres. Brett begann zu scherzen, er lächelte, auch hieß er seinen Freund Rudy, die Kamera sein zu lassen. Es war der Juli 2005. Sie waren nach Altar gekommen, um einen Film zu drehen, Brett, Rudy, Victoria, drei Freunde, ein Frage: Was passiert in Altar, diesem Nest sechzig Meilen südlich der Grenze, mitten im Land der Kojoten? Coyotes, so heißen die Führer. Tierra de Coyotes, so heißt ihr Reich: die Wüste von Sonora, wie die Hölle so heiß, 50 Grad oder mehr, hier verlaufen die Pfade in das gelobte Land, EE.UU., Estados Unidos de América. Jedes Jahr starten tausende und abertausende Menschen von Altar aus, um mit Hilfe der Kojoten die USA zu erreichen und, so hoffen sie, ein neues Leben. Altar, sagt man diesseits und jenseits der Grenze, ist der Angelpunkt der illegalen Einwanderung. Brett lächelte, Brett lachte, Brett tat alles, den Argwohn zu verscheuchen. Es gelang. Sie redeten, die Mutter, die Kinder, zaghaft anfangs, dann freier, erzählten von der Reise, den Strapazen, dem Traum Estados Unidos. Am Ende sagte Brett oder Rudy oder Victoria, die drei Freunde konnten sich später nicht entsinnen, wer genau es gewesen war: Wir sollten ihnen etwas schenken zum Abschied. Im Witz kam die Antwort: Vielleicht unsere Videokamera? Sofort war es still. Die drei Freunde sahen sich an. Sie wussten: Das ist die Idee. Als sie zurück in Arizona waren, legten sie los. Brett Huneycutt, Rudy Adler, Victoria Criado, die sich schon aus der Grundschule kannten, die gemeinsam groß geworden, gearbeitet, Karriere gemacht hatten, die ihren Blick so oft schon auf die Grenze gerichtet hatten und auf die Dinge, die dort geschahen, Brett, Rudy, Victoria besorgten sich ein Buch. In das Buch schrieben sie, Seite um Seite, ihre Fragen. Was trennt uns? Was eint uns? Wer überquert die Grenze? Wie viel Wasser können sie tragen? Wann ist es zu spät, um umzukehren? Und: Was bleibt ungesehen? Auf diese, die letzte Frage, wussten die drei Freunde schon eine Antwort: Die tatsächliche Einwanderung bleibt ungesehen – die Zeit des Wanderns in der Wüste, der Moment, in dem die Grenze überquert wird, die schiere Tat. Aber jetzt wussten sie auch, wie sie sichtbar zu machen ist. Brett, Rudy, Victoria, alle gleich alt, 25 Jahre, alle gleich erfolgreich in Studium und Arbeit, bei Banken, Werbeagenturen, Brokern, zählten ihr Geld. Dann kauften sie eine Einwegkamera, Kodak Outdoor, 35 mm, ISO 400 Film, Platz für 27 Bilder, Preis: 3,79 Dollar. Der Plan stand.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

„Einwanderung“, sagt Brett Huneycutt, „ist ein extrem wichtiges Thema in den Vereinigten Staaten – und ein extrem umstrittenes.“ Im Jahr 2004 wurden 1 137 188 Menschen beim Versuch festgenommen, illegal die Grenze zwischen Mexiko und den USA zu überqueren, im Jahr 2005 wurden die Leichen von 473 Menschen gefunden, die den Versuch des Grenzübertritts nicht überlebt hatten, im Jahr 2006 werden, so schätzt man, zwischen 750 000 und 850 000 Menschen illegal in die USA einreisen, vielleicht mehr. Es sind Zahlen wie diese, die für Streit sorgen in den USA. Manche nämlich lesen die Zahlen so: Da draußen an der Grenze, da spielt sich eine Tragödie ab. Andere lesen sie so: Da draußen an der Grenze, da findet eine Invasion statt. Brett, Rudy, Victoria kannten diese Meinungen und noch viele Dutzend mehr; die drei Freunde stammen aus Arizona, in diesem Staat direkt an der Grenze ist der Streit um die Einwanderung so oft hoch gekocht, dass er inzwischen als Destillat vorliegt: Hier gibt es heimliche Helfer von Einwandern, hier gibt es radikale Gegner, die sich in Bürgerwehren organisieren, um die Grenze zu bewachen, und vor allem gibt es hier, sagt Brett, „verdammt viele Vorurteile.“ Den drei Freunden kam es vor, als vernebelten die Vorurteile, um was es eigentlich ging an der Grenze: Menschen. „Wir wollten“, sagt Brett, „dass die Leute darüber nachdenken, wir wollten helfen, zu verstehen.“ Das war der Plan. Schnell stand fest: Die Einwegkamera taugt. Darauf kauften die drei Freunde 600 weitere Kameras, besorgten wattierte Briefumschläge plus Briefmarken, fertigten, von Begeisterung befeuert, binnen drei Wochen 600 Pakete, darin: eine Einwegkamera, eine Bedienungsanleitung, ein frankierter Rückumschlag. Und die Bitte: Macht Bilder. Dann fuhren sie über die Grenze. In Altar und anderswo verteilten sie 500 Kameras, kehrten zurück nach Arizona, gaben dort 100 Kameras an die Bürgerwehr der „Minutemen“, ihr Vorhaben, sagten sie, heiße: Border Film Project. Dann warteten sie. Der Sommer ging ins Land. Dann kam der erste Umschlag. Dann ein zweiter. Als der dritte kam, wussten die drei Freunde: Es funktioniert. Sie ließen die Filme entwickeln. Als sie sich trafen, gespannt und neugierig, die ersten Fotos betrachten, das Ergebnis sehen, da rüsteten sie sich vorab gegen jede Art von Bild, das sie erwarten könnte. Es war vergebens. Brett, Rudy, Victoria, die alles erwartet, die auch mit Schrecken gerechnet hatten, sie wurden überrascht. Die Fotos waren so gleich. Die drei Freunde sahen Schlafplätze, Cola-Flaschen, weite Wüste. Sie sahen Straßen. Sie sahen Himmel. Sie sahen Menschen, immer Gruppen von Menschen, Freunde des Fotografen, zum Gruppenfoto zusammengestellt, bereit, die Grenze zu überqueren oder die Grenze zu überwachen. Sie machten eine Probe: Wer es nicht wusste, konnte bei etlichen Fotos nicht sagen, wer sie gemacht hatte: Immigrant oder Minutemen. Die drei Freunde beschlossen zweierlei: Erstens würden sie die Fotos öffentlich machen, im Internet, in Ausstellungen, auch in den Medien. Zweitens würden sie so wenig wie möglich zu den Fotos sagen. „Die Bilder“, sagt Brett, „sprechen für sich selbst.“ Welches ist sein Lieblingsbild? Keines, sagt Brett. Kein einzelnes. Aber er möge, sagt er, die Filmrollen der Migranten, jedoch in Gänze, vom Anfang bis zum Ende, vom ersten bis zum letzten Bild. Das, das letzte Bild, sei fast immer gleich. Ein Haus in irgendeinem Ort in Arizona. Der Parkplatz eines Supermarkts. Das gelobte Land. Alle Fotos entstammen dem Border Film Project. Das Projekt hat eine Auswahl seiner Fotos ins Netz gestellt.

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