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Die Kunst, nichts zu tun
Ich bin dann doch nicht verrückt geworden, dafür war ich auch viel zu kurz da. Trotzdem hatte ich ein bisschen Angst, nachdem ich diese Geschichte in einem Buch gelesen hatte. Im Haus der Kunst wechselt man als Museumswächter jede Stunde den Raum. In der Geschichte war das nicht so. Ein Anwalt hat sie geschrieben, angeblich ist sie wahr. Sein Mandant, ein Museumswächter, wurde von der Verwaltung vergessen und durfte Jahrzehnte in demselben Raum auf und ab gehen. In dem Raum stand eine antike Plastik von einem Knaben, der sich einen Dorn aus dem Fuß zieht. Irgendwann begann der Museumswächter, Reißzwecken dort auszulegen, wo die Leute laufen und sie dann zu fotografieren, wenn sie in einer ähnlichen Pose wie der Museumsknabe ihre Füße untersuchten. Die Karriere des Mannes als Wächter endete, als er eines Tages die Statue zertrümmerte.
Meine Karriere als Wächter endet planmäßig nach acht Stunden, besondere Vorkommnisse: keine. Um mit der Ruhe umgehen zu können, habe ich mir am Abend zuvor mit einem Freund ein paar Biere in den Rachen geschüttet. Und siehe da: Diese Stille, wie angenehm legt sie sich um mich, als ich meine erste Station betrete.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
"Tronies" heißt die Ausstellung hier. Tronien, das sind Porträts von Leuten, die es eigentlich nicht gibt. Also im Gegensatz zur klassischen Porträtmalerei, bei der Auftraggeber oder historische Personen auf die Leinwand gepinselt werden. Meinem Wächterstuhl gegenüber hängt das Bild eines Mannes mit rotem Gesicht, er hat einen Waschlappen auf der Stirn. Das hätte ich jetzt auch gerne. Es ist still, sehr still sogar. Ich ruhe kurz meine Augen aus, dann schrecke ich hoch. Hat dieses komische Ding mit der Papierrolle, das mir gegenübersteht und vielleicht die Luftfeuchtigkeit, Erdbewegungen oder einfach gar nichts aufzeichnet, einen Ausschlag gehabt? Nein, Gäste. Zwei Frauen. Sehen aus wie Menschen, die donnerstags um halb zwei Zeit haben, ins Museum zu gehen. Was gut passt, weil es Donnerstag, halb zwei ist. Die große der beiden Frauen geht voran. Schwarzes Rollkragentop, schwarze Leggins, schwarzer Alice-Schwarzer-Haarschnitt. Dazu ein roter Lederrock, rote Lederhandtasche und rote Lederstiefel. Die andere Frau dackelt hinterher, die Beine kurz, der Bauch nah am Boden. Um den Hals eine Kette, an der so ziemlich alles hängt, was man recyceln kann, das bunt ist und nicht zu sehr stinkt. "Mein liebes Lehel", denke ich.
Nach eineinhalb Stunden rührt sich mein Funkgerät mit der Nummer 12: Ablöse. Die nächste Station gefällt mir. Raum 11 und 12 unten im Hauptaustellungsbereich, hier ist gerade eine moderne Interpretation der Ausstellung "Meisterwerke muhammedanischer Kunst" zu sehen, die es vor 100 Jahren in München gab. Ich habe ja mal Arabisch gelernt und jetzt alle Zeit der Welt, um die arabischen Wörter an der Wand zu übersetzen. Nach 45 Minuten bin ich bei Wort sieben. Manche Besucher kommen den Kunstwerken bedenklich nahe. Doch immer, wenn ich Kraft meiner Autorität einschreiten will, ziehen sie ihre Nasen ein Stück zurück. Es scheint auch telepathisch zu funktionieren.
Wieder Raumwechsel. Hier darf man alles anfassen, das mache ich auch. Es gibt sogar eine Wand, die man bemalen darf, so ist ein riesiges, buntes Gemälde entstanden. Ein Kollege hat sich in einem anarchistischen Anfall vorgenommen, das gesamte Bild mit schwarzem Filzstift zu übermalen. Er hat noch einiges vor sich. Zehn Zentimeter neben dem Ufer seines schwarzen Meeres steht in krakeliger Kinderschrift: "Kunst wird langweilig, wenn man länger hinschaut."
Korrekte Job-Bezeichnung:
Aufsicht im Haus der Kunst
Verdienst:
Am Anfang neun Euro die Stunde bei freier Zeiteinteilung
Wie bewirbt man sich?
Wenn man Stehvermögen und Kunstinteresse mitbringt: In der Personalabteilung im Haus der Kunst.
München-Faktor:
Der Ort ist geschichtsträchtig, und auch die Bewohner des Lehels als die Hauptbesuchergruppe gehören zu München: 65 Prozent.