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Die Ignoranz. Das Weghören. Und das Wegsehen
Tanja, 22, Studentin, Potsdam
Vor vier Monaten fing ich zum ersten Mal an, ein Kopftuch zu tragen. Nicht, weil ich mich zum Islam bekannte, sondern aus politischem Protest. Es kann doch nicht sein, dass in einem Land, in dem Religionsfreiheit und Toleranz gepredigt wird, Frauen dazu gedrängt werden, das Kopftuch abzusetzen. Ich sagte mir also: Wenn in diesem ach-so-demokratischen Land alle Frauen ihr Kopftuch absetzen müssten, dann wäre ich die Letzte, die es noch aufbehalten würde. Dass ich damit auf Unverständnis und Ablehnung stieß, ermutigte mich nur noch mehr.
Auf der Straße begegnen mir seitdem vor allem zwei Reaktionen: Entweder die Leute sehen mich total mitleidig an, als die arme unterdrückte Muslima, oder mit Angst. Angst vor der Islamisierung Deutschlands. Das Bild des idyllischen Deutschlands, dieser lächelnden Kanzlerin, die alle Einwanderer willkommen heißt und mit dem deutschen Pass winkt, wenn man sich nur genug anstrenge, diese Illusion, dass man hier seine Individualität ausleben kann – das alles tut mir weh.
Meine Familie kommt aus dem ehemaligen Jugoslawien; wir sind Kriegsflüchtlinge. Weil das Land zerfiel, hatten wir bis ich 19 war nicht mal Papiere und erhielten auch keine, weil wir – wie ich später herausfand – meistens unnötig zwischen den Behörden hin- und hergeschickt wurden, teilweise angelogen wurden und ständig unerklärliche Geldbeträge zahlen mussten. Das heißt, dass ich bis ich 19 war, Deutschland nicht verlassen durfte. Auch meine jüngeren Brüder nicht, die sogar in Deutschland geboren wurden. Wir wurden und werden wie lästige Insekten behandelt, egal wie sehr wir uns bemühten, uns zu assimilieren.
Als Kind habe ich mich sogar dafür geschämt, wenn meine Mutter mit mir serbokroatisch sprach oder in unserer Wohnung jugoslawische Musik lief. Ich erinnere mich noch genau, wie deutsche Kinder um mich herumtanzten und immer wieder verächtlich „Ausländer! Ausländer!“ riefen. Und bei jedem Gang zur Ausländerbehörde zitterten wir vor einer ungewissen Zukunft, über die einzig die Laune der meist schlecht gelaunten Sachbearbeiterin entschied.
Mit Assimilierung kam ich nicht weiter. So entscheide ich mich heute bewusst, nicht mehr zu tun, was man von mir verlangt, sondern wovon ich überzeugt bin und was mir Spaß macht. So wie die Weißen auch. Sie müssen sich auch nicht für ihre individuellen Entscheidungen stellvertretend für die deutsche Kultur rechtfertigen. Ich sage nach wie vor laut meine Meinung, trage T-Shirts mit politischen Sprüchen und engagiere mich – nur eben mit Kopftuch.
Cihan, 28, Student, Berlin
Rein äußerlich werde ich meist für einen anderen Typ europäischer Südländer gehalten. Das macht mir das Leben vermutlich leichter, weil ich mit meiner Identität spielen kann und nicht sofort in eine Türken-Schublade gesteckt werde. Dennoch bin ich offenbar nicht „weiß“ genug, um als Deutscher zu gelten. Dass ich auf Grund meiner schwarzen Locken nicht in einen Club reinkomme, ist keine Seltenheit. Und komischerweise wird mir auf der Arbeit Korrekturlesen nie zugetraut.
Wenn ich auf die Frage nach meiner Abstammung „Ich bin aus Berlin“ antworte, dann spüre ich, wie es in dem Menschen gegenüber brodelt. Und wenn er vor ignoranter Neugier fast platzend nachfragt, woher ich denn wirklich komme, präzisiere ich amüsiert, dass ich ein Kreuzberger bin, mit einer tscherkessischen Mutter, die aus dem Westen der Türkei stammt. Manchmal lasse ich die Türkei weg, dann können sie mich gar nicht mehr einordnen: Was bitteschön ist denn ein Tscherkesse?!
Auf Grund meiner guten Leistungen in der Schule und Uni wurde und werde ich häufig für meine tolle Integration gelobt. Du bist Deutscher, sagen sie. Das macht mich ärgerlich. Werde ich nur als Deutscher akzeptiert, wenn ich einen bestimmten Grad an Eloquenz, Bildung und sozialen Kompetenzen mitbringe? Was ist dann mit den Millionen weißen Deutschen, die sich nicht mit Goethe und Sokrates auskennen, oder nicht einmal Hochdeutsch beherrschen? Müssten diese in der Logik dann nicht als Deutsche disqualifiziert sein?
Diese Integrationsdebatte verfolgt einen komplett falschen Ansatz. Sie setzt für Deutschsein einen Idealtypus des akademisch gebildeten Bürgers voraus. Das ist absurd, weil es für weiße Deutsche auch nicht Grundvoraussetzung ist, diesem Idealtypus zu entsprechen, um Teil der Gesellschaft zu sein. Aber weil People of Color (kurz: PoC, ist eine von Rassismus Betroffenen gewählte, politische Eigenbezeichnung. Sie soll missverständlichen Begriffe wie „Ausländer“, „Mitgranten“, etc. ersetzen, Anm. d. Red.) oft als rückständig, apolitisch, faul, integrationsunwillig, kriminell und irrational behandelt werden, müssen sie immer unverhältnismäßig viele Anstrengungen unternehmen, um dazu zu gehören. Sobald wir dann erfolgreich sind, hält man uns ständig vor, dass man es in dieser Gesellschaft problemlos zu allem schaffen könnte und es gar keine Diskriminierung gibt: Cem Özdemir hat es ja auch geschafft. Das wäre, als würde ich jedem Ostdeutschen unter die Nase reiben, dass es Angela Merkel auch geschafft hätte.
Ich wünsche mir innig, dass die Menschen begreifen, dass Probleme in unserer Gesellschaft nicht aus dem „Migrationshintergrund“ resultieren, sondern aus Armut und Chancenungleichheiten. Nicht, weil ich nicht mit Vorurteilen zurechtkomme, sondern weil Menschen aus unserer Mitte wegen Rassismus alltäglich diskriminiert oder gar eingesperrt und getötet werden. Diskriminierung aufgrund der Haut- oder Haarfarbe kann nur ein Ende haben, wenn wir People of Color als vollwertige Menschen mit gleichen Chancen und Rechten behandelt werden. Von Frauen, die unter Sexismus oder Homosexuellen, die unter Homophobie leiden, fordert man ja auch nicht, sich erst einmal ordentlich zu integrieren.
Basak, 21, Studentin, Potsdam
Theoretisch könnte ich sagen, dass mich die ganzen Diskussionen zum Islam nichts angehen, weil meine Eltern Aleviten sind und Aleviten in Deutschland immer als die aufgeklärteren und toleranteren Muslime konstruiert werden. Doch das ist total egal, weil die weißen Deutschen keine Unterschiede kennen und alle in einen Topf packen.
Das heißt, ich musste mein gesamtes Leben lang über den Islam sprechen oder Fragen beantworten, wie ob meine Eltern „richtige Türken“ wären, also mit Kopftüchern und so, oder ob ich einen Freund haben darf. Nebenbei bemerkt könnte ich auch eine Freundin haben, oder in keiner festen Beziehung leben. Das heißt, ich werde täglich mit Vorurteilen konfrontiert und in eine Schublade gepackt.
Wenn ich sage, dass gewisse ausgrenzende Fragen, Witze oder Blicke rassistisch sind, gelte ich als empfindlich oder emotional. Sobald ich über meine Erfahrungen spreche, werden sie als irrational herabgestuft, oder man entschuldigt sich mit einem „Ist ja nicht so gemeint“ oder „Ich kann gar nicht rassistisch sein, ich habe einen schwarzen Freund“. Als würde Sex vorurteilsfrei machen!
Ich habe mir nicht ausgedacht, was Rassismus ist, wie er funktioniert und dass er strukturell und institutionalisiert ist, sondern mich eingelesen und informiert. Aber Rassismus darf man ja in Deutschland nicht sagen, ohne dass sich das Gegenüber als Nazi angegriffen fühlt. Das ist zum Kotzen, weil Rassismus das ist, was wir People of Color täglich erleben. Was ist es sonst, wenn mir ein Prof in meiner Prüfung sagt, dass ich nicht politisch argumentieren könne, nur weil ich nicht seine weiße Meinung vertrete, oder wenn ich als „Affe“ bezeichnet werde, weil meine Körperbehaarung dunkler ist und mein Körper damit rassifiziert wird?
Diese Ignoranz, das Weghören und Wegsehen muss aufhören. Denn es gibt einen Unterschied, ob eine Lisa oder eine Leyla eine Hausarbeit abgibt, eine Wohnung sucht oder sich irgendwo bewirbt. Nicht wir People of Color sind defizitär, sondern Leute, die nach Integration schreien und so tun, als wäre es unsere Schuld, systematisch und vor allem institutionell Rassismus zu erfahren.
Kwesi, 32, promoviert in Politik
Als ich vor ein paar Jahren von der Haltestelle zu meiner damaligen FH ging, musste ich über eine Brücke gehen. Plötzlich traf mich etwas Feuchtes: Ein Skinhead hatte mich angespuckt. Das war entmenschlichend. Man hatte mich nicht mal angeredet, sondern bespuckt. Wie ein Tier. Paradoxerweise hatte ich am selben Tag ein Seminar, in der mein Prof noch laut posaunte, dass es keinen Rassismus in Deutschland gebe. Ich wurde angespuckt, bedroht, und der Typ sagte mir, es gebe keinen Rassismus! Er relativierte und entwertete meine Meinung mit Verweis darauf, dass es in anderen Ländern wie den USA viel schlimmer sei.
Ich wuchs in einem Plattenbau in Westberlin auf, gleich an der Mauer. Weil wir im achten Stock wohnten, konnte ich sogar rüber sehen. Nach dem Mauerfall kam der ganze Rechtsdruck, der von der Jugend der ehemaligen DDR ausging und auch unsere Jugendlichen erfasste. Bei uns im Nebenhaus wurden Neonazis rekrutiert und wir waren plötzlich Nachbarn von Skinheads, die auch Hunde hatten. Ich ging nach der Wende aus Angst immer um den ganzen Block herum nach Hause, und ich habe mir auch immer genau überlegt, ob ich in der Dunkelheit noch das Haus verlassen soll. Das war täglicher Terror. Meine Mutter, eine Weiße, wurde regelmäßig dafür beschimpft, Schwarze Kinder zu haben. Doch Rassismus gibt es nicht nur in der rechten Szene.
Rückblickend ist es erschreckend, mit welchen Kinder- und Schulbüchern wir aufgewachsen sind: Man denke nur an Tim im Kongo, die zehn kleinen Negerlein oder Pippi Langstrumpf. In meinem Geschichtsbuch der 5. Klasse, daran erinnere ich mich genau, ging es um Ägypter. Sie wurden als Weiße illustriert, die schwarze Nubier versklavt hatten. Sogar das N-Wort kam darin vor. Als ich dagegen protestierte, wurde meine Lehrerin wütend. Für sie waren die Abbildungen Fakten und ich ein unerwünschter Störenfried. Das ist sinnbildlich: Deutschland wehrt sich, seinen eigenen Bürgern zuzuhören und die koloniale Realität anzuerkennen. Stattdessen wird ein sehr dominantes Selbst- und Fremdbild konstruiert. Deutschland war noch nie rein weiß. Ich habe eine Bekannte, die in der vierten Generation hier ist. Ihre Schwarzen Großeltern haben die NS Zeit überlebt.
Zuletzt erlebte ich die Abwehrhaltungen bei meinen Bestrebungen 2007 bis 2009, als Mitglied der Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland (ISD) mit anderen Aktivistinnen und Aktivisten in einer Straßeninitiative das Gröbenufer umzubenennen, das nach dem Gründer der deutschen Kolonie in Ghana benannt war und der wesentlich am transatlantischen Sklavenhandel und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Ort beteiligt war. Heute ist das Ufer nach der Antirassistin und Dichterin May Ayim umbenannt.
Mittlerweile habe ich eine kleine Tochter. Meine Frau und ich achten sehr darauf, dass es in unserem Haushalt keine rassistische Literatur gibt und sie sich trotz struktureller Nachteile entfalten und eine gute Bildung genießen kann. Noch versteht sie nicht was Rassismus ist, denn es fällt auf uns zurück. Zum Beispiel bekommen wir auch von Unbekannten auf der Straße "Komplimente" dafür, dass das Mädchen Glück hat, trotz zweier Schwarzer Eltern helle Augen zu haben, als wäre das ein evolutionärer Fortschritt.
Als Vater tut es mir besonders weh, mit der Zeit ansehen zu müssen, wie Vorurteile an sie herantreten. Schwarze gelten im Kindesalter nämlich noch als besonders niedlich, später aber werden sie übertrieben sexualisiert oder gelten als gefährlich und potenziell kriminell. Ich werde zum Beispiel ständig auf der Straße nach meinen Papieren kontrolliert, und nach dem Anschlag auf das World Tade Center durften alle People of Color „aus Sicherheitsgründen“ keine Öffentlichen Gebäude mehr betreten. Das macht überhaupt keinen Sinn und ist demütigend. Ich sage ja immer: Rassismus hat System, aber keine Logik.
Dennoch sind die Erfahrungen zu schade, um sich nur selbst zu bemitleiden und in sich hineinzufressen. Viele leisten täglich Widerstand, und das auch auf ziemlich kreative Weise. Ich habe erst kürzlich eine Webseite crowdsourcing resistance gegründet, wo ernste, lustige, aber immer sehr befreiende Erfahrungen mit dem alltäglichen Widerstand geteilt werden können.
Trang, 20, studiert Anthropologie in Berlin
Auf Partys ist eine der ersten Fragen nach meinem Namen immer die nach meiner Herkunft. Ich verstehe ja, dass Menschen neugierig sind und unter Studierenden gibt es immer Leute, die nur für ein oder zwei Semester in Deutschland sind. Doch mich nervt es als Hiergeborene, ständig auf den Geburtsort meiner Eltern reduziert zu werden.
Und das nicht nur auf Partys: Auch in der Schule musste ich ankreuzen, dass ich einen Migrationshintergrund habe, oder bei der Studienstiftung, für die ich mich beworben hatte. Das Anderssein und Nicht-Dazu-Gehören wird damit zum wichtigsten Merkmal nach dem Namen. Anderssein ist an sich nicht schlimm, aber es ist die Basis für rassistische Diskriminierung.
Da hilft es auch nicht, Rassismen in Witze zu verpacken. Ich kann nicht darüber lachen, wenn ich herablassend gefragt werde, ob ich zu Mittag wieder Hund hatte, dass ich durch meine schmalen Augen ja nichts sehe, oder wenn die wildesten Spekulationen über die asiatische „Parallelgesellschaft“ gemacht werden. Auch Komplimente, die darauf hinauslaufen, dass ich in etwas gut bin, nur weil Asiatinnen so fleißig und brav sein sollen, sind für mich keine Komplimente. Oder dass ich – wenn wieder verächtlich über Ausländer gesprochen wird – eine Ausnahme bin. Quasi gar nicht so schlimm wie die Anderen.
Dabei bin ich wenn dann eine Ausnahme, weil ich es trotz der Hürden geschafft habe, einen guten Abschluss zu machen und nicht weil ich mich so toll assimiliert habe. Und mein Erfolg ist auch sicher nicht der Verdienst der weißdeutschen Gesellschaft, die tut, als würde sie die Türen für all jene aufhalten, die sich nur ein bisschen anstrengen, sondern der Verdienst meiner Eltern, die für meine Bildung immer sehr viel zurückgesteckt haben. Und vielleicht einer großen Portion Glück. Aber er ist nicht der Verdienst der herrschenden Strukturen.
Text: vanessa-vu - Foto: krockenmitte / photocase.com