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Die haben mehr zu erzählen als wir

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Ruth kommt im April im Flugzeug nach Berlin-Schönefeld und fährt mit dem Bus über die Grenze in den Westteil der Stadt. Sie trägt eine Hornbrille, deren kaputte Bügel mit Leukoplast fixiert sind. Ihre Nase klebt an der Fensterscheibe. Sie staunt. In Berlin scheint, anders als in Rumänien, alles zu glänzen. Als sie aussteigt, nehmen ihre Eltern sie in den Arm und gehen mit ihr zu McDonald’s. Einen Cheeseburger essen. Eine Cola trinken. Das neue Leben feiern. Es ist 1988 und die kleine Ruth Maria Renner ist gerade mit ihrem Bruder aus dem rumänischen Timisoara nach West-Berlin gekommen, die Eltern sind schon seit acht Monaten in der Stadt. Die beiden Wetterforscher flohen aus dem kollabierenden Ceausescu-System nach Ungarn und dann zu einer Schwester von Ruths Vater nach Berlin. Sie hatten eine sogenannte Familienzusammenführung beantragt. Ruth und ihr Bruder leben fortan bei den Großeltern. „Wir dachten, unsere Eltern wären auf einer Forschungsreise. Wir durften nicht wissen, dass sie geflohen sind. Niemand wusste etwas davon, bis auf Oma und Opa“, sagt Ruth, heute 29. Sie sitzt mit einer Cola in der Hand in einem portugiesischen Restaurant in Kreuzberg, nicht weit vom U-Bahnhof Kottbusser Tor entfernt und erzählt, wie ihre Vergangenheit zu ihrer Zukunft wurde. Der „Kotti“ ist die Hauptschlagader des Stadtteils und Kreuzberg das multikulturelle Herz Berlins. Menschen aus 186 Ländern wohnen in Deutschlands Hauptstadt. Die einst geteilte Metropole ist heute das Zuhause von Chinesen und Türken, Angolanern und Weißrussen, Argentiniern und Kroaten. Täglich treffen hier Kulturen und Religionen, Wünsche und Träume aufeinander. Viele Musiker, vor allem viele Rapper schöpfen aus diesem Alltag Themen für ihre Songs.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Miss Platnum Als sie mit acht Jahren nach Berlin kam, beherrschte sie bereits die deutsche Sprache – im rumänischen Siebenbürgen gehörte sie zur deutschen Minderheit. Als sie in Deutschland wegen ihres Akzents mit dem markant rollenden „R“ gehänselt wird, trainiert sie sich den kleinen „Fehler“ hartnäckig ab. Heute aber kramt sie den rumänischen Akzent wieder hervor und kokettiert in ihren Songs mit Balkan-Klischees, sie singt von Zwangsheirat und fettigem Essen. Ruth wächst im Gegensatz zu den meisten Migranten nicht im Großstadtghetto auf, sondern in eher gutbürgerlichen Verhältnissen. Sie lernt diszipliniert und wundert sich über die lockere Atmosphäre an deutschen Schulen. „In Rumänien wurde mit einem Stock auf die Fingerkuppen geschlagen, wenn man frech war. Hier machten die Kinder, was sie wollten. Das war neu für mich.“ Die anderen Schüler beschimpfen Ruth als Streberin und der rumänische Ehrgeiz legt sich zunächst. Ruth macht ihr Abitur mit einem Schnitt von 2,5 und studiert Romanistik. Nach zwei Vorlesungen merkt sie: Das ist es nicht. Sie will Musikerin werden und besucht ein Konzert der in Berlin lebenden Soulsängerin Jocelyn B. Smith und sieht dabei einen Aushang. Smith bietet Gesangsunterricht. Von nun an lernt sie für 100 Mark pro Stunde Singen und darf bald bei Konzerten von Smith im Background mitmachen. Das Geld für den Unterricht verdient Ruth als Putzfrau in einem Kindergarten. Ruth strebt nach mehr, nennt sich Miss Platnum und nimmt ein Album auf. Das Debüt „Rock me“ erscheint im Januar 2005 bei einem kleinen Plattenlabel. „Ich wollte nach Tweet klingen, nach Jill Scott und Erykah Badu, vergaß dabei aber, ich selbst zu sein“, erinnert sich Ruth. Noch heute stapeln sich die nicht verkauften Exemplare in ihrer Wohnung. Aber sie entdeckt ihren Ehrgeiz wieder, den sie in der Pubertät abgeschüttelt hatte und geht ihre Idee neu an. Ihr Freund, Ill Vibe von der Band Seeed, hilft ihr. „Er feiert meine Mentalität“, sagt Ruth. Er rät ihr, aus Miss Platnum eine goldschmucktragende Kunstfigur zu machen, die selbstgebrannten Schnaps trinkt, Mercedes fährt und Kohlroulade liebt. Aus den soften Soulsounds werden harte Hip-Hop-Beats, unterlegt mit Blechbläsern, Folk-Samples und deutlichen Balkan-Einflüssen. Musikmagazine und das Feuilleton loben das zweite Miss Platnum-Album, seit September gibt es das dritte, „The Sweetest Hangover“, zu kaufen und es ist eigenartig, wie ihr die überzeichneten Anleihen aus ihrer einstigen Heimat den Erfolg bringen.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Greckoe Konstantinos Tzikas, 23, ist Grieche und seine erste Single als Rapper Greckoe hieß „Typisch griechisch“. Sie landete 2008 auf Platz zwei der MTV-Chart-Show „TRL“. Er ist bei dem Label Sektenmuzik unter Vertrag – sein Chef ist dort Rap-Superstar Sido. Greckoe sitzt in einem Beachclub an der Spree und beobachtet, wie sich die Glut in den Filter seiner Zigarette frisst. Die Hose hängt tief im Schritt, das Basecap sitzt schief, schief wie die beiden Schneidezähne, die man sieht, wenn er lacht. Doch jetzt lacht er nicht. Er erzählt, wie der griechische Bürgerkrieg seine Großeltern einst nach Ungarn und dann über Leipzig und Dresden nach Berlin trieb. Der Vater wird Fabrikarbeiter, die Mutter Kindergärtnerin, die Schwester Sozialpädagogin. Für ihn gibt es nur das Rappen. Die Gegend, aus der er kommt, ist kein verwahrloster Wohnblock in einer der Trabantenstädte, von denen Rapper sonst in ihren Texten erzählen. Trotzdem leben hier viele Aussiedler, vor allem Griechen. Thematisch unterscheidet sich Greckoe auch von den Gangsterrappern. Statt von Schusswunden erzählt er vom Neuanfang seiner Großeltern in Deutschland oder vom Schulsystem. „Ich bin in der Szene einer der Wenigen, die positiven Rap machen, ohne dabei schwul zu klingen.“ Kann man im deutschen Hip Hop nur mit sogenanntem Migrationshintergrund erfolgreich sein? Greckoe überlegt. „Klar, die meisten Rapper sind Einwandererkinder oder Ausländer. Aber dass sie Erfolg haben, hat nichts mit dem Pass zu tun“, vermutet er. „Aber wir Ausländer haben wahrscheinlich mehr zu erzählen und sind deswegen die besseren Rapper.“

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Dr. Jekyll Dr. Jekyll hat eine philippinische Mutter und einen ukrainischen Vater. Sie ist in Neukölln, Wedding und auf den Philippinen aufgewachsen, ihren echten Namen will Jekyll nicht verraten, auch ihr Alter behält sie für sich. „Meine Rapcrew und ich hatten schon oft Probleme mit dem Gesetz, auch deswegen wollen wir anonym bleiben.“ Die Berlinerin rappt seit drei Jahren, vorher hat sie mit Spraydosen die Hauptstadt verschönert. „Meine Kreativität musste ich immer irgendwie ausleben, ob im Malen oder durch die Musik.“ Mit vier Jahren begann sie das Klavierspiel, mit acht nahm sie Kampfsportunterricht. „In der Schule war ich das Ausländermädchen, die mit der dunklen Haut. Gegen solche Vorurteile musste ich mich früh wehren.“ Schon in der Grundschule wurde Jekyll wegen ihrer Wurzeln gemobbt, ließ sich aber nie etwas gefallen. Die Situation eskalierte, als die damalige Drittklässlerin einem Mitschüler vor Wut einen Bleistift in die Hand rammte und der Junge ins Krankenhaus gebracht werden musste. „Von da an gab’s regelmäßig Schlägereien und Ärger mit den anderen Kids.“ Nach dem Unterricht lauerten ihr Schulkameraden auf und versuchten, sie zu verprügeln. Aber der Kampfsportunterricht zahlte sich aus. „Als Ausländer wirst du auch von Leuten dumm angemacht, die du gar nicht kennst. Einfach so in der S-Bahn dumme Sprüche kassieren, weil du nicht deutsch bist – das ist normal hier in Berlin.“ In einer Graffiti-Crew findet die zierliche Musikerin Rückhalt, bevor sie auf die Berliner Rapper Dr. Faustus und Blokkmonsta vom Label Hirntot Records trifft. Hirntot ist seit der Gründung im Jahr 2005 aus der Berliner Untergrund-Rapszene nicht mehr wegzudenken. Sieben Musiker sind derzeit bei der Plattenfirma unter Vertrag. Die Hirntot-Künstler sind vor allem durch ihre harten Texte über morbide Themen und ihre musikalisch düsteren Produktionen bekannt. „Wir machen keinen gewöhnlichen Rap, sondern Psychokore“, erklärt Jekyll. In ihren Texten spielt die Berlinerin gern die Gerichtsmedizinerin, die Menschen aufschlitzen und auseinandernehmen muss: „Getrieben von Hass, bahne ich mir meinen Weg/Du kannst versuchen zu fliehen, doch jede Hilfe kommt zu spät/Mit dem Skalpell in der Hand steht die Welt für mich offen/Von Geburt an hass’ ich Menschen, jeder ist davon betroffen“. An einem Donnerstag vor zwei Jahren stürmen SEK-Beamte Wohnungen und Studio der Hirntot-Musiker. Den Künstlern wird vorgeworfen, in ihren Texten Gewalt zu verherrlichen und zum Mord an Monika Griefahn von der SPD aufzurufen. Im vergangenen Jahr wurden drei Hirntot-Rapper unter anderem wegen Aufforderung zu Straftaten, Gewaltdarstellung, Beleidigung und Volksverhetzung zu Bewährungs- und Geldstrafen verurteilt. „Wir müssen aufpassen, was wir rappen“, sagt Dr. Jekyll. Doch die Künstlerin lässt sich nicht den Mund verbieten. „Ich habe viele Fans, die Kunst und Fiktion in meiner Musik erkennen. Ich wüsste auch nicht, was ich anderes machen sollte hier in Berlin. Ich bin Rapperin mit philippinisch-russischen Wurzeln – ich habe viel zu erzählen und das wissen die Leute.“ Rumänien, Griechenland, Philippinen: Der Rap ist für viele ein Umgang mit der Herkunft – und mit der Heimat. Für Greckoe ist das Berlin. Für Ruth auch. „Meine Heimat ist Berlin, nicht Rumänien“, sagt sie. „Ich könnte mir nicht mehr vorstellen, woanders zu leben.“

Text: julia-finger - Fotos: Four Music, Sektenmuzik, Hirntot Records

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