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Die Geschichte einer Freundschaft zu einem polnischen Auschwitz-Überlebenden

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Es gibt logische Freundschaften: Sie entstehen, weil man zusammen studiert, Kinder im selben Alter hat oder einen Hund der gleichen Rasse. Aber manchmal entstehen Freundschaften, die schwer zu erklären sind. Die Freundschaft zwischen Jurek und mir war eine solche. Er war 60 Jahre älter als ich und Pole, seine Jugend hatten ihm die Deutschen geraubt. Ich bin Deutsche, und als wir uns kennen lernten, steckte ich in der geborgensten Jugend, die man sich vorstellen kann: in einem schwäbischen Dorf, inmitten einer großen Familie. Im Herbst 1998 nahm ich in der Jugendbegegnungsstätte Auschwitz an einem Seminar für Schülerzeitungs-Schreiber teil. Jurek Hronowski, ein Überlebender des Lagers, beantwortete unsere Fragen. Ein Herr Ende 70, klein, aufrecht und in jeder Bewegung entschieden und kraftvoll. Auf seinen Arm hatten die Nazis Nummern tätowiert.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Jurek Hronowski. Ich wusste viel über das Dritte Reich, hatte das „Tagebuch der Anne Frank“ gelesen und „Hitlers willige Vollstrecker“, aber als ich einem Menschen gegenüber saß, der Auschwitz überlebt hatte, verstand ich, dass ich nichts verstanden hatte. Als 17-Jähriger war er verhaftet worden. Nicht weil er den Besatzern Widerstand geleistet hatte, sondern weil er Offizierssohn war und Pfadfinderführer. Ich landete im Gefängnis, in einer Zelle, mit etwa 15 weiteren Häftlingen. Wir waren alle Gymnasiasten und keiner hatte etwas ausgefressen. Das musste ein Missverständnis sein. Ein paar Tage später wurden wir in den Hof geschafft und mussten zu je 30 Personen auf Lastwagen steigen. Bewacht wurden wir von zwei SS-Männern, die mit uns auf dem Wagen saßen. Es wäre ein Leichtes gewesen, sie zu überwältigen. Wenn wir gewusst hätten, was auf uns zukommt, hätten wir es bestimmt versucht. (Die kursiven Passagen stammen aus Jurek Hronowskis unveröffentlichten Memoiren.) Jurek erzählte über das Lager. Traurige Geschichten, aber in jeder war ein Funken Hoffnung. Sie handelten von einem Freund, den er vor dem Verhungern bewahren konnte. Und davon, wie Jurek bei einem „medizinischen Versuch“ von einem Nazi-Arzt mit Fleckfieber infiziert wurde, aber überlebte, weil ein jüdischer Pfleger ihm heimlich Medikamente zuschob. „Warum erzählen Sie nur Geschichten, die gut ausgehen?“, habe ich vorlaut gefragt. „Mein Fräulein, zwei Gründe“, sagte Jurek. „Erstens: Wenn sie nicht gut ausgegangen wären, könnte ich sie nicht erzählen. Zweitens: Ihr seid jung. Ich will euch nicht den Glauben nehmen.“ Ich sagte, dass er selbst genau so alt war, als er diese schrecklichen Dinge erlebte. Er sagte: „Eben.“


List und Wärme im Blick Das war unsere erste Diskussion, und ich glaube, meine Stichelei hat ihn amüsiert. Eine Stunde war für das Gespräch angesetzt. Wir redeten drei, und als das Putzteam kam, gingen wir zusammen abendessen. Wir sprachen nicht mehr über Auschwitz, sondern über das Leben. Über VW-Campingbusse, Jureks Reisen in die Türkei in den 70ern und darüber, wie herrlich Tomaten im Sommer schmecken. Mich beeindruckte die Kraft, die er ausstrahlte. Da war etwas sehr Junges in seinem Blick, etwas Waches, Warmes und ein bisschen Listiges. Ich erzählte, dass ich Polnisch lernen wolle. Faselte von „historischer Verantwortung“ und „nachbarschaftlicher Aussöhnung“. „Das erlaube ich nicht“, sagte Jurek. „Ich erlaube dir nicht, aus solchen Gründen Polnisch zu lernen. Lern’ es um reich zu werden. Weil du an Polens Zukunft glaubst und profitieren willst.“ Er lud mich ein, einen Sprachkurs in Warschau zu machen und bei ihm zu wohnen. Das haute mich um. Es war halb drei in der Nacht und ich kannte diesen alten Herrn noch keine sieben Stunden. Ein paar Wochen später habe ich Jurek geschrieben, dass ich ihn gerne einladen würde und auch Vorträge organisieren könne – in den Schulen der Umgebung. Ich schrieb, dass ich beeindruckt von ihm sei. Er rief an und sagte: „Danke für den Liebesbrief!“ Dann machte er sich darüber lustig, dass ich einen polnischen Rentner als Schwarzarbeiter anwerben wolle, zu einem „Urlaub in Deutschland“, in dem er schuften müsse. Er genoss es, mich verlegen zu machen. Jurek war zweimal bei meiner Familie. Er küsste meiner Oma die Hand, machte ihr Komplimente und fragte sie nach ihren Erinnerungen ans Dritte Reich. Er redete geduldig mit all den Schulklassen, die ich ihm vermittelte. Ostern 1941 bekam ich Bauchtyphus. Diesmal, dachte ich, werde ich sterben. Ich hatte blutigen Durchfall. Feliks Klecha fand mich ohnmächtig auf dem Boden von Block 3. Ich war dort hingelegt worden, um als Leiche abtransportiert zu werden. Ich hatte Feliks Brot gegeben, als er am Verhungern war. Jetzt verkaufte er seine Wochenration Essen, um Opium zu bekommen und stoppte damit den Durchfall. Er hat mein Leben gerettet. Am nächsten Tag schleppte er mich in den Kälberstall, wo er arbeitete. Er grub ein Loch im Misthaufen und polsterte es mit Teerpapier und sauberem Stroh. Er legte mich in das Loch und deckte es mit Teerpapier und Mist ab. Abends schleppte er mich auf den Block und morgens holte er mich wieder ab. Wer tags auf dem Block war, wurde erschossen. Die Schüler, die von dem Erbschuld-Gerede unserer Ex-68er-Lehrer genervt waren, hörten Jurek gebannt zu, sie waren berührt, fragten nach und hinterher hatten alle etwas verstanden. Nicht nur über Auschwitz – über Menschen. Als ich Jahre später einen ehemaligen Mitschüler traf, fragte er mich gleich, wie es denn diesem „coolen alten Polen“ gehe. Nach dem Abitur bin ich wirklich nach Polen gegangen, nach Krakau, weil es dort die besten Polnischkurse gab. Ein Jahr lang lernte ich die komplizierte Grammatik und am Wochenende fuhr ich oft zu Jurek nach Warschau. Er hatte eine klitzekleine Wohnung: eine enge Küche, in der ein Gästebett stand. Ein Bad, in dem es kein Waschbecken gab, man wusch sich die Hände über der Badewanne. Ein helles Zimmer mit einem runden Holztisch, an dem Jurek immer saß und seinem Bett mit einer dünnen Wolldecke. Es gab Nächte mit Temperaturen von minus 20 Grad. Wir Häftlinge umarmten uns nachts, um uns zu wärmen. Aber es kam vor, dass man am nächsten Morgen eine Leiche im Arm hatte. Bis heute kann ich nicht unter einer warmen Decke schlafen, weil mir viel zu heiß ist. Auf dem Nachttisch stand ein Bild seiner beiden Enkelkinder, die er nur vom Foto kannte. Sie wuchsen in Amerika auf und sprachen nur Englisch. An den Wänden hingen zwei Portraits einer wunderschönen Frau, Jureks Mutter. Die Bilder hatte ein bekannter polnischer Expressionisten gemalt: Iganacy Witkacy. „Wir gingen mit leerem Magen ins Bett, aber sie musste diese Bilder machen lassen“, sagte Jurek. Vornehm sei die Mutter gewesen, über die Verhältnisse der Familie vornehm. In einem der Bilder war ein Loch. Am Tag von Jureks Verhaftung hatte ein Gestapo-Mann darauf geschossen.
Den Schinken eliminieren Ich wusste, dass Jurek gerne isst und versuchte, bei jedem Besuch toll zu kochen, bis ich merkte, dass ihm Einfaches lieber war. Salzgurken, Erbsensuppe – Lebensmittel, die er aus der Kindheit kannte, nach denen er sich in Auschwitz gesehnt hatte – Rollmöpse, dunkles Brot und Schinken. Lang sprachen wir über Schinken. „Das ist sehr guter Schinken“, sagte Jurek, wenn er den ersten Bissen nahm. Und: „Deutscher Schinken ist nicht so gut wie polnischer Schinken“. Er war enttäuscht, wenn ich auf die Provokation nicht reagierte. „Einmal habe ich auch in Deutschland hervorragenden Schinken gegessen“, meinte er wieder versöhnlich. „Das war 1978, als ich in Flensburg einen Vortrag hielt. Die hatten einen Schinken da!“ Die 18-jährigen wie ich, die keinen Beruf gelernt hatten, mussten die schwerste Arbeit machen. Ich musste Zementsäcke zu je 50 Kilogramm entladen; dabei war ich selber nur 1,65 Meter groß und kaum schwerer als die Säcke. Es gab im Lager nur wenige Häftlinge, die deutsch sprachen. Um eine bessere Arbeit zu bekommen, dachte ich mir, wäre es hilfreich, Deutsch zu lernen. Das Lager befand sich noch im Bau und es wurden Leute gebraucht, welche die Schilder malten, „HALT! TODESZONE!“ oder „Es wird scharf geschossen!“. Jurek klaute aus der Toilette der SS Fetzen der Nazizeitung „Stürmer“. Er besorgte einen Stift und übte die gotischen Buchstaben. Wäre er erwischt worden, hätte ihm der Klopapier-Klau das Leben gekostet, aber er hat ihn gerettet. Jurek wurde Schreiber einer Baracke, ein Job, mit dem man eher überleben konnte.

Nach dem Krieg wollte er von Deutschen erst nichts mehr wissen, aber Anfang der 60er Jahre begann Jurek, deutsche Jugendliche in Auschwitz zu betreuen. Er baute das Begegnungszentrum mit auf, in dem ich ihn kennen lernte. Er leistete so viel für die Aussöhnung, dass er ein Bundesverdienstkreuz bekam. Das bewahrte er in seinem Nachttisch auf. Aber sein Deutsch war noch immer das Deutsch, das er im Lager gelernt hatte. Wenn nur noch eine Scheibe Schinken übrig war, dann sagte er: „Kati, willst du nicht den Schinken eliminieren?“ Mit meinem Polnisch ging es langsam voran. Ich verknotete mir die Zunge, und Jurek war sehr genau. „Sein“ heißt auf Polnisch „Byc“ – das y spricht man dabei weich und tief in der Kehle. Ich sprach es als spitzes, deutsches i. „Bic heißt schlagen, nicht sein!“, rief Jurek, nachdem er mich hundertmal verbessert hatte. „Mag sein, dass für Deutsche Schlagen und Sein dasselbe ist, aber im Polnischen ist das anders.“ Ich war sehr beleidigt. Auch er war manchmal beleidigt. Einmal besuchte ich ihn an Ostern. Ich hätte die Zeit lieber in Krakau verbracht, wo im Studentenwohnheim eine Party stattfand. Aber ich wusste, dass Jurek einsam gewesen war in diesem Winter. Ich kaufte Tulpen, weil mir Jureks Wohnung traurig vorkam. Jurek fragte nur: „Warum hast du keinen Schinken gekauft?“ Wenn die Selektion beendet war, wurden die Nummern der Häftlinge verlesen, die zum Sterben verurteilt waren. Sie wurden nackt auf einen LKW geprügelt. Unter Kolbenschlägen mussten sie auf die Ladefläche klettern. Die Häftlinge, die schon oben waren, zogen die Schwächsten hoch. Sie wussten, was auf sie zukam. In nur hundert Meter Entfernung sah man Flammen aus dem Schornstein des Krematoriums schlagen. Der Lastwagen brachte sie direkt dorthin. Die übrigen Häftlinge durften sich anziehen und wurden von den Blockschreibern wieder auf ihre Blöcke verteilt. Als ich sagte, „furchtbar“, sagte er, „nein, nicht furchtbar, sondern brutal“. Manchmal wollte ich schreien: „Jurek, gönn’ mir eine Pause, ich halte das nicht drei Tage am Stück aus.“ Aber die Bitte erschien mir lächerlich, denn ich wusste, dass seine Erinnerung ihm keine Pause gönnte. Ich konnte es ihm nicht recht machen an diesem Wochenende. Am Ostersonntag ging ich spazieren, um mich etwas zu erholen. Als ich wieder kam, sagte er, dass ich bei ihm wohne wie in einem Hotel und ihn wie Luft behandele. Mit Jurek war es selten harmonisch und auf Mitleid reagierte er allergisch. Er war stolz. Das spürte man an tausend Gesten: Wenn ich ihm in den Mantel helfen wollte, nahm er mir den Mantel weg, zog sich selbst an, um mir dann galant in meinen Mantel zu helfen. „Vielleicht bin ich über 80“, sagte er, „aber ich bin immer noch der Herr und du die Dame.“


Die „vereehrte Frau Oma“ Jurek war ein richtiger Offizierssohn. Sogar wenn er zu Hause eine ausgebeulte Jogginghose trug, hatte er mehr Haltung als die meisten Soldaten in Galauniform. Und er war, was man in Polen einen „kulturellen Menschen“ nennt. Dabei hatte er nie studiert. Die Deutschen hatten ihn „aus dem Lyceum wegarrestiert“. Aber er kannte die polnische Geschichte genau: Jahreszahlen, Schlachten, Tragödien. Solange die Augen mitmachten, verbrachte er Tage in der polnischen Nationalbibliothek und las sich durch die historische Abteilung. Wenn Jurek über die Schlacht bei Grunwald 1410 sprach, klang es so, als sei er dabei gewesen. Warum mir die Versöhnung zwischen Deutschen und Polen wichtig war? Sie gehört zu meiner Art von Patriotismus. Schon 1942, in einer Zeit schlimmer Unterdrückung, gab es im polnischen Untergrund den Befehl, alle Verbrechen den Nazis anzulasten, nicht den Deutschen. Benachbarte Völker können nicht in kollektivem Hass leben und im KZ wurde mein Leben oft von Deutschen gerettet. Ich pendelte während des Studiums zwischen Deutschland und Polen, machte ein Praktikum bei einer polnischen Zeitung und ein Auslandsemester in Warschau. Eine neue Welt öffnete sich für mich und ich hatte immer viel zu tun. Manchmal, wenn ich in Deutschland war, telefonierte ich monatelang nicht mit Jurek. Wenn ich ihn anrief, begann ich das Gespräch mit einer langen Entschuldigung. Jurek unterbrach mich, fragte mich über mein Leben aus und wie es der „verehrten Frau Oma“ gehe. Viele Jahre schrieb er an einem Buch über sein Leben. Weil er inzwischen fast blind war, ließ er sich alles immer wieder vorlesen. Jurek stritt tagelang mit den geduldigen Freiwilligen der Begegnungsstätte. Wenn er davon erzählte, sagte er „kämpfen“ statt „streiten“. Er sagte: „Dann habe ich mit diesem Jungen gekämpft, denn er wollte das Buch anders machen. Das ist mein Buch, mein Leben“. Wenn ich die Helfer in Schutz nahm, wurde er sauer. „Willst du auch kämpfen?“, fragte er. Lange glaubte ich, dass er das Buch nicht abschließen konnte. Es war das Letzte, was er im Leben erkämpfen musste. Es abzuschließen, hätte geheißen, mit dem Leben abzuschließen. Jurek war kein Mensch, der leicht mit dem Leben abgeschlossen hätte. Zweimal hatte er einen Hirnschlag. Beide Male aber rappelte er sich auf und rief selbst den Krankenwagen. Über Auschwitz erzählte Jurek immer dieselben 30 Episoden. Ich habe jede viele Male gehört. Sie waren immer gleich. Nie schmückte er mehr aus, nie ließ er etwas weg. Jurek beherrschte diese Episoden und sie halfen ihm, seine Erinnerungen zu beherrschen. Aber ich weiß, dass er Erinnerungen jenseits der Episoden hatte. Einmal fragte ich, ob man in seiner Baracke das Krematorium roch. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Ich ging, um Tee zu kochen und habe nie wieder gefragt. 30 Erinnerungen an Auschwitz sind für einen Menschen schon zu viel. Die Verpflegung im Lager wurde weniger. Als wir fast nichts mehr bekamen, nahm ich den Mut zusammen und ging zu meinem Vorgesetzten, einem deutschen Ingenieur. „Herr Meister, Deutschland wird den Krieg verlieren. Man wird Leute dafür verantwortlich machen, was sie getan oder unterlassen haben. Sie haben uns anständig behandelt. Aber wenn wir verhungern, können wir niemandem die Wahrheit über Sie sagen“. Der Meister schrie mich an: Wie könne ich mir so etwas erlauben, er werde es der Politischen Abteilung melden. Ich erwiderte ihm, dass ich nichts zu verlieren hätte, weil ich in zwei bis drei Tagen sowieso vor Hunger krepieren würde. Am nächsten Morgen kam er mit seinem Auto quer durch die Fabrikhalle angerast. Er stieg aus, warf mir einen auffordernden Blick zu und ging ins Büro. Im Kofferraum fanden wir einen 80-Kilo-Sack Kartoffeln. Jurek gab sich und seinen Mithäftlingen in den Erzählungen Stolz, Würde und, wenn es ging, etwas Macht. Und er gab allen Namen. Wenn ihm der Name eines Kameraden nicht einfiel, war er sehr unruhig. Manchmal sagte er Stunden später plötzlich „Edek. Er hieß Edek Galinski.“ Jurek lebte mit diesen Menschen. Seine Frau war tot, sein Bruder lebte in Kanada, Sohn und Enkel in den USA. Am Ende sah er wochenlang nur die Damen, die seinen Haushalt machten, seit er nicht mehr klar kam. Die Damen wechselten ständig. Er warf sie hinaus. Es fiel ihm schwer, sich helfen zu lassen. Wenn er besonders einsam war, war er von einer merkwürdigen Angst besessen. Er sagte, er werde beobachtet. Es gebe Menschen, die ihm Böses wollten, darauf aus seien, ihn zu töten. Ich kam mit diesen Ängsten nicht klar. Ich glaubte, dass es Ängste aus der Vergangenheit seien und nahm sie nicht ernst, aber ich fürchtete, Jurek könnte das merken und denken, dass ich ihn nicht ernst nehme. Das hätte er mir nicht verziehen. Also lenkte ich immer auf ein anderes Thema, wenn er von Verfolgern zu sprechen begann. Was Tod und Leben angeht, gab es im Lager keine Regeln, jeder konnte jederzeit totgeschlagen werden. Und wenn es einfach die Nase war, die jemandem nicht gefiel. Kein Kapo oder SS-Mann musste sich dafür rechtfertigen. In den letzten Jahren sprach er weniger über die Vergangenheit. Er hörte lieber zu, wie ich über meine Familie erzählte und über die unbezahlten Praktika. Ich jammerte: „Die gehören heutzutage leider dazu.“ Zum letzten Mal habe ich Jurek im Herbst 2005 gesehen. Ich hatte mein Studium mit einer Diplomarbeit über Polen abgeschlossen. Wir tranken an seinem runden Tisch unter dem strengen Blick seiner Mutter Tee und aßen Kremówka, Cremeschnitte, die Jurek wegen des Zuckers nicht hätte essen dürfen. „Das ist sehr gutes Gebäck“, sagte Jurek. Er war jetzt 83 Jahre alt. Sein Buch war abgeschlossen. Jurek sprach an diesem Nachmittag zum ersten Mal vom Sterben. Er sagte, dass er nicht mehr gebraucht werde. Ich sagte: „Ich brauche dich.“ Später haben wir noch ein paar Mal telefoniert. Ich rief ihn an, als ich mich von meinem Freund trennte, mit dem ich lange zusammen gewesen war. Ich rief ihn an, als ich eine Stelle an der Uni angeboten bekam, die ich ohne Polnischkenntnisse wahrscheinlich nicht gekriegt hätte. Er sagte: „Siehste!“ Ich stürzte mich in ein neues Leben. Zwei Monate rief ich ihn nicht an. Dann bekam ich die Nachricht, dass Jurek tot sei. Aufgefunden im Badezimmer seiner Wohnung, in einer Blutlache. Die Polizei ermittelte wegen Mordes. Ich flog sofort nach Warschau. Es war eine kleine Beerdigung. Sein Sohn und die Nachttisch-Enkel kamen aus den USA. Sie waren keine Kinder mehr, sondern gestandene Amerikaner. In dem Tulpenstrauß, den ich aufs Grab legte, hatte ich ein kleines Stück polnischen Schinken versteckt. Der Pfarrer sprach von einem brutalen Tod. Am Tag nach der Beerdigung zeigte ich Jureks Enkeln Warschau, ich zeigte ihnen seine Lieblingsplätze, erzählte ihnen über ihren Großvater und auch über ihre schöne, strenge Urgroßmutter, die nicht mehr von der Wand blickte. Die Bilder waren verschwunden. Es war unheimlich.
Die Enkel vom Nachttisch Monatelang war ich verzweifelt und wütend. Es ging so weit, dass ich zu hoffen begann, dass Jurek im Streit starb. Ich hoffte es, weil dann sein letztes Gefühl Wut gewesen wäre. Wütend zu sein, dachte ich mir, ist für einen Menschen wie Jurek nicht so schlimm, wie hilflos ausgeliefert zu sein. Oft rief ich Jureks Sohn in den USA an. Er sagte, er wisse nichts Neues über den Tod seines Vaters. Ich versuchte mich an Details aus Jureks Verschwörungsgeschichten zu erinnern, die ich nie hatte hören wollen. Wer hat ein Motiv, einen Rentner zu töten? Gerne hätte ich mit Jurek über all das gesprochen. Warum tun Menschen so was? Wie lebt man mit Ungerechtigkeit, gegen die man nichts machen kann? Ich versuchte bei den Warschauer Behörden etwas herauszufinden, aber es gelang mir nicht, mit meinem unsäglichen deutschen Akzent meine Verbundenheit mit diesem polnischen Rentner glaubhaft zu machen. Keine Angehörige, kein Auskunftsrecht. Oft musste ich an einen Satz aus Jureks Buch denken: „Jeder konnte jederzeit erschlagen werden.“

Ein polnischer Bekannter half mir schließlich. Er machte die ermittelnde Staatsanwältin ausfindig. Die schaute in der Akte nach und sagte, dort sei ein „natürlicher Tod“ vermerkt. Das hätte die Obduktion zweifelsfrei ergeben. Plötzlicher Kreislaufzusammenbruch. Das Blut stamme von dem Sturz, bei dem er sich den Kopf anschlug. Wahrscheinlich sei er sofort bewusstlos gewesen und dann gestorben. Zwei Wochen nach der Beerdigung war die Akte geschlossen worden. Über die Bilder steht in ihr nichts. Ich werde nie verstehen, warum Jureks Sohn mir von dem Ermittlungsergebnis nichts erzählt hat. Ich vermisse Jurek weiterhin, aber es ist eine andere Art des Vermissens. Ich würde mit ihm gerne über das Seminar reden, das ich nächstes Semester an der Uni halte. Thema ist „Protestkultur in Polen“. Bestimmt wäre ihm meine moderne Sozialwissenschaft nicht heroisch genug. Es würde ihm Spaß machen, darüber „zu kämpfen“, und am Ende hätte ich etwas gelernt. Ich denke an Jurek, wenn ich Schinken esse, und ich hätte ihm gerne meinen Freund vorgestellt. Aber ich weiß , dass er Angst hatte, bettlägerig zu werden und dass der schnelle Tod für Jurek an sich ein guter war. Er fehlt mir, aber ich bin froh, dass seine Geschichte irgendwie gut ausging. Denn Jurek wollte, dass ich den Glauben nicht verliere.

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