- • Startseite
- • jetztgedruckt
-
•
Die Drei-Tage-Regel
Nostalgie riecht so. Es ist der Geruch unseres Hauses, nach Holzbalken und Blumen. Wie meine Mutter dort im Türrahmen steht und lachend auf mich wartet. Es ist die Natur. Das Dorf. Erst wenn ich wieder hier bin, merke ich, wie sehr mir das alles fehlt. Wir begrüßen uns, sie drückt mich einmal kurz und zieht mich dann mit in die Küche. Ich bin wieder zurück – zu Besuch bei meinen Eltern.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Seit der letzten Rückkehr sind nur ein paar Wochen vergangen. Ich komme gern heim, freue mich darauf. Die Beziehung zu meinen Eltern ist, seitdem wir nicht mehr unter einem Dach wohnen, besser geworden. Die Gespräche sind auf Augenhöhe, das Verhältnis freundschaftlich. Doch weiß ich auch, dass sich das schnell wieder ändern kann, dass die Dosis einen gelungenen Besuch ausmacht. Er darf nicht zu lange dauern. Wir gewöhnen uns sonst alle zu sehr an die Tatsache, dass ich zurück in meinem alten Kinderzimmer bin. Unterbewusst nimmt jeder von uns wieder die Angewohnheiten von früher an, als ich noch hier wohnte. Zwei Tage dauert es ungefähr und dann am dritten Tag schlägt die Stimmung um. Es knallt. Ich werde wieder die von früher, stimmungsschwankend, oft ohne Grund gereizt. Man könnte meinen, ich sei wieder fünfzehn. Und sie, sie werden wieder meine Eltern, die schon allein aus Prinzip immer Recht haben. Drei Tage sind zu lang für einen Besuch bei den Eltern, ich weiß es, doch dieses Mal bleibe ich sogar vier.
Am Nachmittag des zweiten Tages stehe ich in meinem Zimmer, schaue mich um. Es ist wie immer. Jedes Möbelstück, jedes Bild ist noch am üblichen Platz. Allein das Bücherregal ist heute leerer. Doch etwas hat sich grundsätzlich verändert. Die Atmosphäre in meinem alten Kinderzimmer ist nicht mehr die, die sie war, als ich vor drei Jahren ausgezogen bin. Obwohl es erst der zweite Tag ist, fühle ich in diesem Raum die Bedrohung. Die Vergangenheit schleicht sich wieder ein und obwohl ich es nicht will, weiß ich, dass es bald wieder so sein wird. Dabei war der erste Tag so schön. Wir haben abends zusammen gegessen, meine Mutter hatte extra mein Lieblingsessen gekocht. Gut unterhalten, Tatort geschaut. Es wurde spät. Zuerst verabschiedete sich meine Mutter ins Bett, dann ich und zuletzt schlief Papa auf seinem Stuhl ein.
Jetzt, am zweiten Tag setze ich mich auf mein Bett und schaue rüber zu der Kommode, auf der mein altes Lieblingskuscheltier sitzt. Ein Löwe. Er, der früher mein ständiger Begleiter war, der jede Reise, jede Übernachtung bei Freunden mitmachen musste, starrt nun böse zurück. Ich fühle mich klein.
Klein und fremd in einem Zimmer, das doch eigentlich meins ist. Für mich gehört es noch dem dreizehnjährigen Ich, mit dem ich nichts mehr gemein habe. Glaube ich. Hoffe ich! Ich bin ausgezogen, selbstständig geworden. Ganz andere Eigenschaften als früher machen mich nun aus. Doch jetzt, da ich in seinem Zimmer bin, nehme ich seine schlechten Eigenschaften an. Ich lehne mich zurück, mache die Augen zu und warte. Warte auf den Streit.
Wie angekündigt ist es am nächsten Tag so weit. Mein mulmiges Gefühl von gestern hat sich in Genervtheit verwandelt. Den ganzen Tag über verdrehe ich schon die Augen. Nun aber ein richtiger Streit. Das Thema ist so banal wie es nur sein könnte: das Wetter. Genauer gesagt: Schnee. Ich möchte mit meinem Auto eine Freundin besuchen fahren, draußen aber sind ein paar Flocken zu sehen. Meine Eltern entscheiden deshalb: „Nein, du fährst nicht!“ Ich sollte vielleicht erwähnen, dass ich vor ein paar Jahren bei Schnee einen Unfall hatte und eine Weile im Krankenhaus lag, so dass ihre Sorge durchaus berechtigt ist. Doch die Situation an diesem Tag ist anders. Nicht einmal die Straße ist weiß, außerdem bin ich mittlerweile eine deutlich sicherere Autofahrerin. Und was soll das überhaupt, dass jemand meint, mir verbieten zu können, mit meinem Auto irgendwohin zu fahren? Während mein Vater noch abwägt, schüttelt Mama energisch den Kopf. Ihre Antwort bleibt „Nein!“ Die Situation fängt an, zu eskalieren. Grundlos. Sinnlos. Wir schreien. Türen knallen.
Ich verkrieche mich in meinem Bett, hin- und hergerissen zwischen Patzigkeit und Schuldgefühlen, bis es mir auf einmal bewusst wird. Es ist soweit, es hat sich wieder eingeschlichen, mein pubertäres Ich. Dabei bin ich doch erwachsen geworden, will so nicht mehr sein. Ich komme mir lächerlich vor. Warum nur passiert das jedes Mal? Wahrscheinlich verlässt uns unsere Pubertät nur nie ganz. Wir verbannen sie zwar, aber ab und an, wenn eine Situation zu sehr an früher erinnert, platzt es aus uns heraus. Ein paar Tage später, ich bin bereits wieder in meiner eigenen Wohnung, ruft mich meine Mutter an. Die Katze sei krank, sagt sie. Wahrscheinlich habe sie sich wieder rumgetrieben und war zu übermütig, denn nun hat sie eine Wunde am Bein. Dummes Tier. Unser Streit ist längst vergessen. Wir sind wieder Freundinnen und lachen gemeinsam, erzählen uns Neuigkeiten und hören dem anderen zu. Vielleicht ist es Eltern und ihren Kindern einfach irgendwann nicht mehr bestimmt zu lange aufeinander zu hocken. Zwei Tage sind genug für einen normalen Besuch als Gast. Ab dem dritten gehört es sich zu helfen, sich selbst einzubringen. Unsere Eltern sind nun mal unsere Eltern, die hierarchische Ordnung ist von der Natur vorgesetzt, und deshalb werden sie immer diejenigen sein, die das Sagen haben. Wenn schon nicht mehr über unser ganzes Leben, dann wenigstens zu Hause über Alltagsdinge. So wie früher. Doch wir Kinder haben uns daran gewöhnt selbstständig zu sein, fühlen uns so erwachsen, dass vorgeschriebene Regeln sich wie ein Schritt anfühlen würden. Meine Mutter und ich haben noch eine Weile telefoniert und uns zum Mittagessen verabredet. Ich freue mich schon darauf, schließlich kann wenigstens dabei nichts schiefgehen. Drei Stunden sind kein Problem, drei Tage, das ist die Grenze.
Text: lena-niethammer - Foto: tiefpics / photocase.com