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Die Dachmenschen von Minsk
Was passiert eigentlich, wenn die Polizei ihn erwischt? Anton weiß es nicht und das soll auch so bleiben. Der 21-Jährige ist durch ein Loch zwischen Gestrüpp und Bauzaun geschlüpft und 240 Stufen nach oben gestiegen. Jetzt steht der schlacksige Journalistikstudent mit den hellblonden Haaren und der dickumrandeten Brille auf dem Dach eines Parkhaus-Rohbaus, etwa 30 Meter über Minsk und lässt seinen Blick über die Häuser der weißrussischen Hauptstadt schweifen. Wenn das Gebäude fertig ist, sollen hier Krankentransporter parken, bisher steht aber nur das graue Betonskelett. Glasscherben und Mathehausaufgaben liegen verstreut auf dem Boden, Graffitis sind an die Wände im Treppenhaus gesprüht: Das Dach ist beliebt bei den Jugendlichen. „Man kann hier fast jeden Tag Leute treffen“, sagt Anton. Auch jetzt ist er nicht alleine hier oben, etwa zwei Dutzend weitere Jugendliche stehen auf der Plattform, einige stürzen sich an einem Seil vom zehnten Stock in den Abgrund. Mit kurzen Pausen dringen immer wieder die schrillen Schreie der Rope Jumper hinüber zu Anton, der auf der anderen Seite steht und in Richtung Zentrum blickt. Offiziell ist es verboten, auf Dächer zu steigen. Anton weiß von Freunden, die von der Polizei erwischt wurden, doch es sei bislang immer bei einer Ermahnung geblieben. Ob der Kontakt mit den strengen Gesetzeshütern immer so milde ist, kann er nicht sagen. Anton selbst ist noch nie erwischt worden. Deshalb soll sein voller Name besser nicht in der Zeitung stehen. Auch wenn der zurückhaltende Student vorgibt, das alles interessiere ihn nicht weiter. Anton sucht vor allem Ruhe und Entspannung auf dem Dach. Andere kommen hierhin um Bier zu trinken, sie verfolgen den Sonnenuntergang und quatschen. Kunststudenten suchen hier nach Inspiration und pinseln auf ihre Leinwände, wie die Sonne hinter den Plattenbauten versinkt. Anton hat hier schon für anstehende Uni-Klausuren gelernt. Und er hat Freunde, die an diesem romantischen Ort schon Liebeserklärungen ausgesprochen haben oder andere, die Silvester auf einem Dach gefeiert haben – zusammen mit fast 70 anderen. In Minsk ist das Besteigen von Dächern mehr als ein Hobby, es ist eine kleine Jugendbewegung geworden. Irgendwann hat jemand damit angefangen. Irgendwo in den Wohnvierteln russischer Städte soll es begonnen haben und größer geworden sein. In Sankt Petersburg gibt es seit Jahren sogar Touristenführungen über die Städte, und in Berlin sind Flachdächer für manche der zurzeit beliebteste Partyort. In Minsk sind die Dächer seit den neunziger Jahren ein besonderer Spielplatz für junge Erwachsene.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Anton vom Dach.
Die Dach-Fans haben sich auch einen Namen gegeben: Roofer, abgeleitet vom englischen Wort für Dach. Roofer verabreden sich im Internet, um gemeinsam auf Dächer zu klettern. Auf der Seite vkontakte, dem russischsprachigen Facebook-Klon, organisieren sich Roofer in zahlreichen Städten. Im Minsker Nachtleben werden CDs verteilt, denen ein Stadtplan beigelegt ist: Darauf sind frei zugängliche Hausdächer eingezeichnet. Vieles läuft aber einfach über Mundpropaganda; wer einen offenen Zugang entdeckt, lässt es seine Freunde wissen. Wird ein Dach geschlossen, finden die Roofer irgendwo ein neues Haus.
Anton fallen spontan zehn Dächer ein, auf denen er schon stand, aber es gebe sicher noch einige mehr. „Dach der Welt“ nennen die Jugendlichen das Parkhausdach. Eine Freundin hat ihm von dem Ort erzählt, dabei wohnt er gar nicht weit von hier. Es sei eines der bekanntesten und schönsten Dächer der Stadt, wegen seiner runden Form. Es ist ein beliebter Treffpunkt für junge Erwachsene, aber dennoch längst nicht so überfüllt, wie die Parks der Stadt, in denen sich die Leute sonst treffen. „Hier hat man seine Ruhe“, sagt Anton. „Man trifft viele interessante Menschen und alle haben ein gemeinsames Interesse.“ Und irgendwie, gesteht Anton, spiele ja auch der Reiz des Verbotenen eine Rolle. Dabei würde er sich selbst nie als sonderlich mutig bezeichnen.
Vor allem im Sommer kommen die Leute, auch wenn es manchmal etwas zu heiß wird, weil es oben keinen Schatten gibt. Anton steigt meistens nach seinen Vorlesungen auf’s Dach und verbringt manchmal mehrere Stunden dort. Er sei dann „in der Mitte zwischen Himmel und Erde“, philosophiert er. „Andere trinken und rauchen, um einen Rausch zu bekommen, ich bekomme einen Adrenalinstoß, je höher ich steige.“ Nur Höhenangst dürfe man keine haben. Für Anton aber kein Problem. Mit einem Freund ist er einmal auf einen Baukran gestiegen. Anton deutet auf ein Haus, wo früher der Kran stand, 35 Meter sei er hoch gewesen. „Das waren mit die besten Gefühle, die ich durch das Klettern bekommen habe.“
Auf den Dächern kann es auch gefährlich sein. Im vergangenen Jahr ist ein Mädchen vom „Dach der Welt“ in den Tod gestürzt – ein Grund, warum die Polizei die Roofer vertreibt. Doch auch Absperrungen hindern die Jugendlichen nicht. Schnell kennen sie die Löcher in den Gitterzäunen. Meist warten die Ordnungshüter am Eingang eines Gebäudes, die Treppen kommen sie selten hinauf. Die Jugendlichen flüchten dann einfach über einen anderen Ausgang. Nur auf dem „Dach der Welt“ ist es diesmal anders: Die Jugendlichen sehen, wie ein Miliz-Lada vor dem Rohbau stoppt. Zwei Polizisten steigen aus und kommen die zehn Stockwerke hoch. Irgendjemand ruft „Polizei!“, dann fliehen Anton und die Anderen. Erst hasten sie drei Stockwerke nach unten, dann prüfen sie, welchen Weg die Milizionäre nach oben nehmen und entscheiden sich für einen anderen Ausweg. Am Ende sind sie schneller als die Ordnungshüter und erreichen die Straße. Anton springt in die nächste Tram – und ist verschwunden. Vielleicht steht er aber auch schon am Fuße einer anderen Treppe.
Text: oliver-bilger - Foto: ob