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Der weinende Münchner Hund

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Mein Zug von Berlin nach München war schon am Bahnhof Zoo hoffnungslos verspätet und während der Fahrt wurde es immer schlimmer. Ich reiste das erste Mal quer durch Deutschland, doch ich sah gar nichts von diesem Land – nur wütende Schneeflocken und undurchsichtigen weißen Nebel hinter der Fensterscheibe und vor mir die fahlen Gesichter der nervösen Passagiere. Mitten im sächsischen Flachland fror die E-Lok ein und ich begann daran zu zweifeln, ob ich es überhaupt noch rechtzeitig zur Lesung am Abend schaffen würde. Fünfzehn Minuten vor Beginn der Veranstaltung erreichte ich endlich das Ziel, den riesigen Münchner Hauptbahnhof. Ein älteres Ehepaar, Freiwillige, die das Münchner Literaturfestival unterstützten und jedes Jahr eine Übernachtung für einen ausländischen Gast anbieten, warteten schon auf mich.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

„Das ist supernett von ihnen, dass ich bei Ihnen schlafen kann. Vielen Dank, ich schätze das wirklich sehr.“ „Wir machen das nicht nur für uns. Unser Hund hat gerade eine Depression.“ „Was Sie nicht sagen! Er auch?“ „Über was lachen Sie?“ „Ich? Über gar nichts. Mir ist zum Heulen.“ „Wir haben keine Zeit, mit Ihnen zum Festival zu gehen, aber mit diesem kleinen Plan finden Sie danach unsere Wohnung ganz einfach. Hier ist der Schlüssel. Bitte, heitern Sie dann ein bisschen unseren Hund auf. Kann er bei ihnen schlafen?“ „Selbstverständlich“, antwortete ich und überlegte kurz, wie und wo ich mitten in der Nacht in einer mir völlig unbekannten Stadt ein preiswertes Hotel finden könnte. Der handgemalte Stadtplan, mit dessen Hilfe ich mein Zimmer in Schwabing finden sollte und in einem fragwürdigem Maßstab gezeichnet war, erinnerte mich an das Spiel, in dem Kinder im tiefsten Wald Schätze im Boden begraben, um sie später erbärmlich zu suchen. Um ein Uhr morgens fuhr ich mit dem Taxi in die vermutete Richtung, in der mein Zimmer liegen sollte, und wurde immer neugieriger. Meine Vorfreude verflog allerdings schlagartig, als ich ausstieg: Rund herum sah ich nur unendlich viele, gleich aussehende Hauseingänge. Ein brutaler Schneesturm tobte. Der Frost unter meinen Füssen war so streng, dass es nur so knackte. Die angegebenen Hausnummern stimmten nicht oder ich konnte sie wegen des Neuschnees nicht erkennen. Die ersehnte Adresse war nirgendwo zu finden. Und Schwabing war offensichtlich ein Ort, an dem man sich bei diesem Wetter leicht verlaufen konnte. Die Straßennamen verwirrten mich und hatten nichts mehr mit dem Ausschnitt auf dem Stadtplan zu tun, den ich in meinen eisigen Händen hielt. Ununterbrochen lief es mir kalt den Rücken hinunter. Durch die Hautschichten drang die Kälte immer tiefer und tiefer in meinen Körper ein. Mir wurde schwindlig.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Die Suche dauerte ewig, denn durch die frischen Schneewehen an den Haus-ecken konnte ich nur langsam hindurch waten. Nach dreißig Minuten landete ich endlich im richtigen Eingang. Als ich in dem massiven Gebäude stand, fiel mir als erstes auf, dass fast alle Namenschilder mit vergoldeten Kreuzen, Engelsfiguren oder Tannengrün bedeckt waren. Ich hoffte, niemand würde sehen, wie ich verzweifelt festzustellen versuchte, wer wo wohnte und vor allem – wo ich wohnen sollte. Wie sollte ich der Polizei erklären, warum ich um halb zwei Uhr morgens in einem fremden Haus in einem fremden Land eine Wohnungstüre nach der anderen streichelte? Als der Schlüssel endlich in ein Schloss im fünften Stock passte, war ich unglaublich erleichtert. Ich schaltete das Licht im Flur an und im selben Augen-blick sah ich, warum ich wirklich in dieser Wohnung war. Der Hund weinte. So etwas habe ich noch nie gesehen. Er trug einen schwarzen glatten Winterpelz und ihm liefen so unbeherrschbar die Tränen das Gesicht herunter, das mein Herz fast zerbrach. Ich erzählte ihm alle lustigen Geschichten, die ich, seit ich in Deutschland war, erlebt hatte. Ziemlich lange kraulte ich ihn hinter den Ohren und unter seinem Bart. Ich erlaubte ihm sogar, am Fußende meines Betts zu schlafen. Ich leistete das Maximum. Am Morgen musste ich schon sehr früh wieder weg, deswegen traf ich meine Gastgeber nicht mehr. Nur der Hund verabschiedete sich von mir. Mir schien, dass er ein bisschen lachte. Michal Hvorecky, 30, lebt in Bratislava. Er gehört zu den erfolgreichsten jungen Autoren der Slowakei. Zu dieser Geschichte wurde er bei seinem letzten Besuch in München angeregt. Hier kannst du ein Interview mit Michal lesen über seinen Roman "City. Der unglaublichste aller Orte." Illustration: dirk-schmidt; Foto: Mirka Cibulkov

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