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Der unbekannte Untergrund

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Der schwarze Staub ist überall. Er haftet an jeder Oberfläche, klebt an Wänden, Boden und Geländern. Er dringt in die Ritzen der Kleidung und die Nasenlöcher. Er lässt die Lippen nach Metall schmecken und die Hände schwarz werden. „Kohlefaserstaub“, sagt der Mann mit dem Schlüsselbund. „Der entsteht durch die Reibung, wenn die Züge bremsen.“ Wortfetzen und Lichtstrahlen dringen durch die Ritzen des Metallverdecks. Die Lichtwellen brechen sich an der Decke zu einem gewaltigen Interferenzmuster. Die Stimmen vermengen sich mit dem Zischen der Züge zu einem sanft geschäftigen Hintergrundrauschen. Der Mann mit dem Schlüsselbund arbeitet im Untergrund. Er ist Angestellter der Stadtwerke seit mehreren Jahren und er pflegt eine Obsession. Sie treibt ihn dazu, Türen aufzusperren, hinter denen tote Räume liegen. Architektonischer Abfall, der nie entsorgt wurde. Ein toter Raum, ein Blinddarm im Verkehrsgedärm der Stadt. Wir sind am Ostbahnhof, genau über dem Bahnsteig, an dem die U4/U5 Richtung Lehel oder Neuperlach fahren, und genau unter dem Orleansplatz. Vielleicht war kein Geld mehr da, den Hohlraum mit Beton zu füllen, vielleicht wusste man nicht wozu. Der Mann mit dem Schlüsselbund sagt, er würde gerne einmal eine Party hier drinnen feiern. „Aber irgendjemand würde auf die Lamellen steigen und runterfallen.“ Sein Schlüsselbund ist mit über 50 000 Euro versichert. Ungefähr so viel würde es kosten, sämtliche Schlösser im Münchner Untergrund auszuwechseln.

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Durch die Schlitze können wir die Passanten sehen, wie sie hetzen und warten, einsteigen und aussteigen. Wir sehen sie, sie sehen uns nicht. So muss es sich anfühlen, Gott zu sein, bloß ohne Allmacht. Am Ende des Raumes geht es hinab in den Bahntunnel und kurz dahinter windet sich ein Schacht von der Größe einer Parkhausauffahrt hinauf ans Tageslicht. Er dient als eine Art Luftabtriebraum. „Wenn ein Zug einfährt, schiebt er Luft vor sich her. Die Leute würden ohne einen solchen Schacht glatt umfliegen“, sagt der Türöffner. Dann steigen wir in eine U-Bahn. Ich kenne zwei Geschichten, in denen Leute durch einen U-Bahnschacht gelaufen sind. Sophie, eine Freundin von mir wurde mit ein paar Kumpels in der U-Bahn beim Schwarzfahren erwischt. Gerade als die Kontrolleure ihre Personalien festhalten wollten, hielt die Bahn am Bahnhof. Sie schubsten den Kontrolleur zur Seite, sprangen aus der U-Bahn und flüchteten in den Schacht. Die andere Geschichte ist die vom betrunkenen Steffen. Es war vier Uhr morgens, kurz bevor die Gitter geschlossen werden, und Steffen ging einfach zu der verspiegelten Tür neben den Gleisen am Odeonsplatz, öffnete sie und verschwand im Dunkeln. Am Sendlinger Tor tauchte er wieder auf, öffnete die verspiegelte Tür und legte sich auf den vergitterten Sitzen schlafen. „Er hat uns gesehen“, sagt der Mann mit dem Schlüsselbund. „In elf Minuten wird die Bahnpolizei hier auftauchen.“Gerade ist der Zug an uns vorbeigerauscht und hat eine kalte Wand aus Luft in unsere Richtung geschoben. Wir wissen nicht, was der Mann vorhat, aber er ist ruhig. Ich muss an Sophie und ihre Freunde denken. Kurz bevor die U-Bahn in den Schacht einfährt, verengt sich die Röhre. Auf einer Länge von zwei Metern fehlt der Gittersteg. „Wenn man dort steht und ein Zug kommt. . . “, sage ich. „Keine Chance“, sagt der Mann mit dem Schlüsselbund. In diesem Moment rauscht der nächste Zug durch den Tunnel. Er winkt und wedelt mit den Armen. Dann sagt er: „Jetzt hat er uns gesehen.“ „Und dann?“ „Er meint, wir arbeiten hier. Er wird Bescheid geben, dass alles ok ist.“ Am Wettersteinplatz gibt es im Zwischengeschoss eine Tür, hinter der ein 120 Meter langes Nichts liegt. Fällt sie ins Schloss, fliegt der Schall ans gegenüberliegende Ende, um dort mit einem Knall an die Wand zu prallen. Fünf, sechs Mal wiederholt sich das, wie ein Gummiball pendelt das Geräusch zwischen den Wänden, um erst nach 60 Sekunden zu verstummen. Dann hallen nur noch die Wassertropfen, die von der Decke herabplätschern. Ein paar Reste von einer Kunstinstallation aus dem Jahr 1999 liegen herum. An den Seiten ragen dicke Metallstreben wie abgemähtes Getreide aus dem Boden. Eigentlich sollte der Raum als Parkhaus genutzt werden. Aber daraus wurde nichts. „Ein Bürgerbegehren hat das verhindert“, sagt der Mann mit dem Schlüsselbund. „Die Einfahrt wurde nie gebaut, man hat einfach alles so gelassen, wie es ist.“ Die Rolltreppe ist kaputt und so stauen sich periodisch die Menschen am Ausgang. Ihren Gesichtern ist der Ärger anzusehen, den kleine Planabweichungen nach einem Arbeitstag hervorrufen können. Sie sehen uns nicht. Wir sind über ihnen auf einer Balustrade, die sich um den Bahnhof windet. Der Mann mit dem Schlüsselbund, will nicht, dass wir den Namen der Haltestelle nennen. Manchmal steht dort die U-Bahnwache und beobachtet Menschen. Das ist effektiver als jede Überwachungskamera. Von einem bestimmten Winkel könnte man uns sehen, doch die schwarzeblaue Wand verschluckt uns fast. Niemand blickt nach oben, wenn er ein Ziel hat. Nur zwei Kinder winken uns.

Text: philipp-mattheis - Fotos: Juri Gottschall

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