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Der stille Sportfreund

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Das Ende hatte sich schon abgezeichnet und kam dann doch ganz plötzlich. An einem kühlen Tag im Frühjahr 1997 saß Andi Erhard auf dem Bett im ausgebauten Dachboden seines Elternhauses. Vor ihm standen Peter Brugger und Florian Weber. Die beiden waren gekommen, um ihn zur Probe ihrer gemeinsamen Band abzuholen. Aber Andi wollte einfach nicht mehr. Er hatte keine Lust mehr, bis spät nachts Konzerte zu spielen, wenn er am nächsten Morgen eine Schulaufgabe schreiben musste. Er hatte keine Lust mehr, Hunderte von Kilometern zu fahren, um dann vor 20 Leuten aufzutreten. Andi war müde. Und irgendwie war dieses simple Drei-Akkorde-Geschrammel auch nicht ganz seine Musik. Peter und Florian versuchten ihn zu überreden, wenigstens das für den nächsten Tag geplante Konzert noch mitzuspielen. Aber Andi hatte sich entschieden. „Ich mache nicht mehr mit. Keinen Bock mehr“.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Tags darauf, bei ihrem Konzert im Münchner Stromlinienclub, traten Sänger und Gitarrist Peter und Schlagzeuger Florian als Duo auf. Mit ihnen auf der Bühne stand statt eines Bassisten eine Raumschiff-Enterprise-Figur aus Pappe. Ein paar Monate später hatten sie einen neuen Bassisten, Rüdiger Linhof. Und bald auch einen neuen Namen: Sportfreunde Stiller. Dann wurden sie berühmt. Bereust du? Wer im Sommer 2006 das Radio einschaltete, hörte Peter, Florian und Rüdiger, wer den Fernseher anknipste, sah sie, und wer zu einem WM-Spiel ins Stadion ging, sang mit großer Wahrscheinlichkeit eines ihrer Lieder: „54, 74, 90, 2006“. Die Jungs aus München hatten die inoffizielle WM-Hymne der deutschen Fußballfans geschrieben. Der Song wurde ihr erster Nummer-Eins-Hit. Schon seit Jahren waren die „Sportis“ die Lieblingsband der deutschen Abiturienten. Jetzt waren sie die Lieblingsband der Deutschen. Wenn Andi Erhard in diesem Sommer abends ausging, wurde ihm immer wieder dieselbe Frage gestellt, von Freunden, von Bekannten, von Fremden, die seine Geschichte irgendwo gehört hatten: Bereust du, dass du damals ausgestiegen bist? An einem Samstagabend drei Jahre später sitzt Andreas Erhard in seinem Apartment in München-Sendling und nimmt einen Schluck Rotwein. Kochnische, Espressomaschine, ein Poster der Rockband Dinosaur Jr. an der Wand. So stellt man sich einen Single-Haushalt vor. Andi trägt Vollbart, die Haare sind fransig, die obersten Knöpfe seines Hemdes geöffnet. Kleine Falten sind in dem fein geschnittenen Gesicht des 38-jährigen zu sehen. Mittlerweile hat er einen Doktortitel. Einen Job hat er nicht. Die Frage mit dem Bereuen. Jetzt soll er sie schon wieder beantworten. Aber Andi ist ein geduldiger Mensch. Den Mund leicht geöffnet, blickt er kurz ins Leere. Dann sagt er: „Ich habe noch kein einziges Mal gedacht, dass das ein Fehler gewesen sein könnte, wirklich nicht.“ Wirklich überraschend an dieser Antwort ist vor allem, dass man sie ihm glaubt. Es hatte alles als Spaßprojekt begonnen. Ende 1995 beschlossen Andi, Peter und Flo eine Band zu gründen. Sie wollten sie „Endkrass“ nennen, nur ein einziges Konzert als Trio spielen, anschließend alle Instrumente zertrümmern und die Band wieder auflösen. So weit der Plan. Anfang 1996 standen sie dann auf der Bühne des Germeringer Jugendzentrums Knast. Aus dem Namen „Endkrass“ war mittlerweile „Stiller“ geworden. Sie spielten sieben Lieder, warfen danach ihre Instrumente auf den Boden und erklärten: „Wir lösen uns auf, das war's.“ Als sie von der Bühne gingen, kam ein aufgeregter Mann auf sie zu. „Ihr spinnt ja wohl“, sagte er. „Ihr müsst unbedingt weiter machen!“ Der Name des Mannes: Marc Liebscher. Er ist bis heute Manager der Sportfreunde Stiller. Innerhalb weniger Monate wurde aus dem Spaßprojekt eine ernsthafte Band. Marc Liebscher organisierte die Auftritte und die drei Jungs spielten, wo immer man sie ließ. München, Nürnberg, bald auch in Köln oder Hamburg. „Oft waren nur 20 Leute da, aber es war eine tolle Zeit“, sagt Andi. „Wir waren eine richtige Dreiergemeinschaft. Unser Ritual nach den Konzerten war immer das gleiche: Ausziehen und einmal nackt durch die Stadt laufen. Egal wo wir sind.“


Peter und Florian studierten zu der Zeit Sport an der Münchner Universität. Andi, damals Mitte 20, versuchte, sein Abitur nachzumachen. Die drei lernten im Tourbus, traten abends auf und fuhren nachts zurück nach Hause. Für Schlaf blieb oft keine Zeit. Während die Band immer häufiger Konzerte spielte und die Reisen immer länger wurden, hatte Andi eine Prüfung nach der anderen. Das Abitur stand vor der Tür, Attestpflicht hatte er auch schon, weil er zu oft gefehlt hatte. Irgendwann ging es nicht mehr. Was folgte, war der Morgen auf dem Dachboden. Andi stieg aus. „Es fällt mir normalerweise schwer, mich zu entscheiden“, sagt Andi heute, „aber das war eine meiner leichtesten Entscheidungen. Es war auch für Peter und Flo erleichternd, weil sie jemanden suchen konnten, der mitzieht. Sie wollten ja viel mehr Gas geben. Aber ich konnte da nicht mit.“ Er wollte immer Bücher Florian und Peter gaben Gas, und wie. Ende der 90er Jahre spielten sie im Schnitt 200 Konzerte pro Jahr. Im Jahr 2000 unterschrieben sie ihren ersten Plattenvertrag. Seitdem haben sie sieben Alben veröffentlicht. Die letzten zwei davon landeten jeweils auf Platz eins der deutschen Albumcharts. Florian Weber sitzt in einem Café in München-Schwabing und bestellt eine Grapefruitschorle. Der Schlagzeuger der Sportfreunde Stiller ist heute berühmt. Das merkt man auch daran, dass der Barchef des Lokals kurz an den Tisch kommt, sich vorstellt und Florians Hand schüttelt. Kurz darauf läuft in dem Café ein Song der Sportfreunde. Florian blickt kurz irritiert auf. „Hier ist es nicht so schlimm, wenn sie ein Lied von dir spielen“, sagt er. „Aber wenn du in einem Club mit vielen Leuten stehst, und dann alle ihre Köpfe zu dir drehen, um zu sehen, wie du dich verhältst, das ist schon saublöd.“ Florian und Andi sind auch heute noch gut befreundet. Sie spielen zusammen in einer Hobby-Fußballmannschaft. Über die Trennung von damals sprechen sie nicht mehr. „Ich habe von Andi nie gehört, dass er seinen Ausstieg bereut“, sagt Florian. „Das nehme ich ihm auch voll ab. Es wäre einfach nicht sein Leben gewesen.“ Natürlich war Florian damals enttäuscht, als Andi von einem Tag auf den anderen die Band verließ. Überraschend kam es jedoch nicht. „Er hat schon früh gesagt, dass das nichts für ihn ist, er wollte nicht ewig auf Reisen gehen“, sagt Florian. „Ich glaube auch, dass er die Musik nicht so toll fand. Das war ihm zu einfach, zu trivial. Wir haben einfach drei, vier Akkorde durchgerotzt. Aber Andi stand eher auf Musik, die ein bisschen arty ist.“ Dann erzählt Florian von dem gemeinsamen Urlaub der Band im Sommer 1996. Mit einem Golf fuhren sie nach Italien, machten Straßenmusik in Florenz, feierten, tranken. „Irgendwann hat Andi dann einen Ausbruch gehabt, weil wir immer unsere Witzchen gerissen und niveauarme Gespräche geführt haben. Bei euch geht’s sowieso immer nur ums Saufen, hat er gesagt. Und dann hat er sich ins Zelt gelegt mit seinen Büchern.“ Andi und die Bücher. Sie liegen überall in seiner Wohnung. Auf der grauen Eckcouch, auf dem kleinen Wohnzimmertisch, vor dem überquellenden Bücherregal. James Joyces Ulysses, vier Bände Nietzsches Werke, das Fußball Unser. Während Peter und Flo nach Andis Ausstieg von Auftritt zu Auftritt jagten und vor immer mehr schreienden Zuschauern spielten, suchte Andi genau das Gegenteil davon: Zurückgezogenheit und Stille. „Ich war nie ein Typ, der gerne im Mittelpunkt steht“, sagt Andi. „Bei Konzerten hätte ich mich am liebsten mit dem Rücken zum Publikum gestellt.“ Andi machte das Abitur, begann Germanistik zu studieren. Sein Schwerpunkt: deutsche Literatur des Mittelalters. Als die Sportfreunde Stiller im Sommer 2006 durch Deutschlands Fußballstadien und Fernsehstudios zogen, verbrachte Andi seine Tage im Handschriftenlesesaal der Bayerischen Staatsbibliothek und arbeitete an seiner Doktorarbeit. Zugezogene Vorhänge, alte Holztische, absolute Stille. Andi war glücklich. „Jahrelang bin ich da jeden Tag hingegangen und habe einfach mein Zeug gemacht. Das war so gemütlich da. Schade, dass das jetzt vorbei ist.“ Ein Freitagmorgen im Juli 2009: Andi Erhard sitzt auf einem Holzstuhl im Sozialbürgerhaus München-Sendling. Um neun Uhr hat er einen Termin in Zimmer 210, Abteilung Arbeitslosengeld II. Andi ist gekommen, um seinen Antrag auf Hartz IV abzugeben. Peter und Florian, die gerade unterwegs sind um ihr neues Sportfreunde Stiller-Album zu vermarkten, wird er in einer Woche wieder sehen. Dann haben die drei ein Fußballspiel mit ihrer Hobbymannschaft. Vorher macht sich Andi schon mal auf Jobsuche. Stellen im wissenschaftlichen Bereich sind selten. Das weiß er. Bibliotheksassistent könnte er sich vorstellen, notfalls auch Postbote. Und jetzt? Bereut er es? „Das Studium, die Doktorarbeit, all das, was ich statt der Band getan habe, hat für mich total Sinn gemacht“, sagt er. „Und wenn man zufrieden ist, dann ist es auch nicht schwer zurückzublicken und zu sagen: Da konnte ich einfach nicht mit, das war nicht mein Weg.“ Den Text entnehmen wir mit freundlicher Genehmingung KLARTEXT, dem Abschlussmagazin der Deutschen Journalistenschule München.

Text: alexander-neumann - Foto: Erol Gurian

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