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Der Marienplatz in der Klenzestraße
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Seit mehr als 20 Jahren verkauft Pierre Schmoock allerlei Raritäten, die er in der ganzen Welt erstanden hat. In seinem Trödelladen Sams & Son in der Fraunhoferstraße sind tausende Dinge über die Theke gewandert, von alten Koffern aus den Dreißigerjahren über Gemälde, Vasen oder Sekretäre. Jemand, durch dessen Hände so viele Waren gegangen sind, hat sicher irgendwann aufgehört, sich an die Gegenstände zu erinnern, für die er neue Besitzer gefunden hat – könnte man denken. Aber das Foto, das er vor mehr als sechs Jahren verkauft hat, hat Pierre Schmoock bis heute nicht vergessen.
Das Bild hängt heute im Café Maria, in der Klenzestraße. Es zeigt den Marienplatz, irgendwann an einem warmen Tag, vermutlich Anfang der Achtzigerjahre. Die Frauen tragen Kleider und die Männer kurzärmelige Hemden. Die Mariensäule ist von Stühlen umstellt, auf denen die Menschen sitzen und sich unterhalten. Ein Mann ist, den Kopf auf den Arm gestützt, in der Sonne eingeschlafen, ein anderer scheint sich Notizen zu machen oder zu zeichnen. Paare schlendern Hand in Hand über den Platz, am linken unteren Rand sitzt eine Gruppe an einem Blumenbeet. Zahlreiche Menschen schlendern in alle Richtungen, doch der Platz ist nicht überfüllt.
Man muss nicht einmal genauer hinsehen, um zu bemerken, dass das Foto alt ist. Es ist leicht vergilbt und an einigen Stellen sieht man, wie die Spanplatte durchschimmert. Man kann das Café Maria nicht betreten, ohne dieses Bild zu bemerken – mit einer Länge von 2,20 Metern und einer Höhe von 1,23 Metern sind seine Maße beeindruckend.
„Ich bin damals durch die Fraunhoferstraße geradelt und dann stand es in diesem Trödelladen im Schaufenster“, erzählt Stephen Maria Alof, Besitzer des Café Maria. „Und weil es einfach sehr gut zur Stimmung des Cafés passt – und natürlich auch wegen des Namens – habe ich mich nach einer Woche dazu entschieden, es zu kaufen.“
Wer das Foto gemacht hat, ist nicht bekannt. „Vermutlich ein Stadtfotograf“, meint Alof, der im Keller des Cafés weitere Münchenfotografien im ähnlichen Stil stehen hat. Und bedeutend kleinere. Bei der Frage, ob er oft auf das Foto angesprochen werde, muss er lachen: „Ständig, ständig, ständig.“ Manchmal lassen sich sogar Touristen vor dem Foto fotografieren.
Muss ein so großes Bild nicht irgendwann eine bestimmte Funktion gehabt haben? Alof vermutet, dass es zuerst in der Touristeninformation am Marienplatz hing. Doch dort erinnert man sich nicht daran. Bis zum Kunstpark Ost lässt sich das Bild immerhin zurückverfolgen. Dort verliert sich die Spur in einem Café, in dem der Trödelhändler Pierre Schmoock es gekauft hat. „Leider erinnere ich mich nicht mehr an den Namen“, sagt er, während er in seinem Laden steht. Aber an das Gefühl, das er mit dem Foto verbindet, erinnert er sich gut: „Wir saßen damals regelmäßig unter diesem Bild, es hing dort über Jahre und es war eigentlich immer schön. Ich mag solche Fotos, sie erzählen oft tolle Geschichten.“
Der Kunstpark Ost beherbergte damals einen sehr großen Flohmarkt. Aber das Foto war keine Ware, sondern Dekoration. „Irgendwie ist nie jemand auf die Idee gekommen, dass man es auch kaufen könnte. Erst als die Hallen geschlossen werden sollten, habe ich mich gefragt, was wohl mit dem Bild passieren wird und habe es letztendlich dem Wirt abgekauft“, erzählt Schmoock. Das war vor zehn Jahren. Vier Jahre also war es in seinem Besitz, bevor Stephen Maria Alof es für sein Café kaufte.
Das Jahr, in dem das Foto gemacht wurde, lässt sich nicht genauer bestimmen. Der Zeitraum bleibt vage: „Irgendwann nach 1974 und spätestens 1982“, meint der Fotograf Heinz Gebhard, der sich auf Münchenbilder spezialisiert hat. Nach 1974, weil in dem Jahr der alte Rathausturm im Hintergrund fertig gestellt wurde. Vor 1982, weil in diesem Jahr die Blumenbeete am Marienplatz entfernt wurden, an denen links die Gruppe älterer Menschen sitzt.
Sieht man von der Größe ab, ist es schwer zu erklären, was das Foto so beeindruckend macht. Nichts darauf steht wirklich im Vordergrund. Es ist das Vertraute und gleichzeitig das Anonyme, das dieses Bild so interessant macht. Das Gefühl, einen irgendwie bekannten, aber doch auch fremden Ort zu betrachten, ergibt sich aus dem, was heute am Marienplatz anders ist. Je länger man das Foto ansieht, desto mehr entdeckt man.
Doch das Foto hat nicht nur eigene Geschichten, es erzählt auch welche. „Vor etwa zwei Jahren kam ein Mädchen hier rein“, erzählt Alof in seinem Café. „Als sie das Bild sah, stieß sie einen Schrei aus und rief: ‚Meine Eltern!'“ Alof steht auf und zeigt auf das Paar, unten in der Mitte. Beide tragen Sonnenbrillen, der Vater im karierten Hemd hat den Arm um die Schultern seiner Frau gelegt. „Am Tag darauf kam das Mädchen mit seinen Eltern, und die ließen sich gemeinsam vor dem Bild fotografieren.“
Text: pierre-jarawan - Foto: Juri Gottschall