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„Der in der Mitte sieht am besten aus“
Jetzt ist es Mitternacht. Arno parkt sein Auto, streift seine Winterjacke ab und hängt sich die Fototasche um sein schwarzes Poloshirt. Vor dem Club, gleich ums Eck, warten gut 15 Menschen auf Einlass, heute ist Superfreaks-Party. Die ist jeden Monat, Verkleiden ist angeraten, manche sagen, es ist Pflicht. Arno sagt, dass bei einem Klamottendiscounter in den Tagen vor der Party die Verkäufe nach oben gehen. Er klopft an die Tür und ein genervter Türsteher weist den Weg nach drinnen. Die Arbeit beginnt.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Im Suxul in Ingolstadt gibt es eine Art Barraum von der Größe von vier Wohnzimmern. Ein Beamer wirft zusammenhanglos Bilder zur Musik an die Wand. Zuckende Comicfiguren. Eine Landschaft wie aus Bud Spencer- und Terence Hill-Filmen. Hinter einer Tür führt eine enge Treppe in ein Kellergewölbe. Wenn die Tür aufgeht, klingen Schreie und Musik nach oben. Der Boden brummt. Arno öffnet seine Fototasche und zieht den Apparat heraus. Während er den Aufsteckblitz aus einer Hülle zieht, sammeln sich in seinem Rücken Menschen. Sie tragen übergroße Brillen, Bananenkostüme oder Christoph Schlingensief-artig gestylte Haare. Sie nähern sich Arno. Ganz langsam, wie Zombies. Sie scheinen sich zu organisieren. Als der Blitz steckt, dreht sich Arno um. Die Anschleicher nehmen sich wie auf einen Befehl in den Arm. Dann blitzt es. Seit vier Jahren geht Arno, 21, Erstsemester Mechatronik, in Ingolstadt auf Partys und fotografiert Menschen. Er sieht durch den Sucher, blitzt, zeigt den Fotografierten das Bild auf dem Display und deutet dann auf den Schriftzug auf der linken Brust seines Poloshirts. Dort steht bei-uns.de. Auf der Website werden die Bilder am nächsten Tag zu sehen sein. Arno wendet sich nach rechts und schaut durch den Sucher auf drei Mädchen. Eines trägt eine grüne Brille vor den Augen und eine gelbe Skibrille auf der Stirn. Eines formt einen Kussmund. Es blitzt. Arno geht an die Bar, wo zwei Jungs stehen und plaudern. Er nickt ihnen zu, die beiden sehen den Fotoapparat, rücken zusammen, lächeln, Blitz, ein Blick aufs Display, Arno deutet auf seine linke Brust, die beiden nicken und plaudern weiter. Arno schaut auf seine Kamera. 21 Bilder allein im Barraum, er ist noch nicht einmal zehn Minuten da. Er öffnet die Tür zum Keller. Grünes Licht an der Wand, er geht hinunter und der Duft einer vollen Tanzfläche steigt in seine Nase. Der Raum ist voll und bebt, Remmidemmi von Deichkind ist schuld, „Yippie Yeah“. Rechts steht der DJ auf einer Art Theke. Hände in der Höhe. Arno hält die Kamera über seinen eigenen Kopf, blitzt, geht ein paar Stufen nach unten und verschwindet auf der Tanzfläche. Natürlich ist das Internet ein Wunder. Es verbindet die Menschen auf der ganzen Welt. Auf Facebook kann man sich mit der Tochter des amerikanischen Vizepräsidenten Joe Biden anfreunden oder Fan des österreichischen Autors Thomas Glavinic werden. Ein soziales Netzwerk hilft, über die Grenzen hinauszugreifen. Das ist das eine. Manchmal hilft es aber auch, Grenzen aus der Wirklichkeit nachzuziehen. Heimat zum Beispiel. Irgendwann im Jahr 2001 kauft der Kachelofen- und Luftheizungsbauer Daniel Reisinger aus Denkendorf in Bayern eine Digitalkamera. Manchmal nimmt er den Apparat mit auf Partys und knipst dort seine Freunde. Die freuen sich und kommen sonntags zum Kaffeekranz an den Computer, Bilderschauen. Auf einer der nächsten Partys steht Daniel dann Thomas Feyrer gegenüber. Der ist Programmierer, hat auch eine Kamera in der Hand und stellt die Bilder auf seine private Homepage. Die beiden sprechen darüber, dass die Menschen sich ziemlich gerne nachträglich beim Feiern zusehen. Sie reden darüber, dass es in der Region um Denkendorf keinen ordentlichen Veranstaltungskalender gibt. Also schalten sie im Sommer 2002 partys-bei-uns.de frei, das später zu bei-uns.de wird. Die Seite verändert das Leben der beiden. Im Jahr 2010 fahren 14 freiberufliche Fotografen im Auftrag von Daniel und Thomas durch vier Landkreise rund um Denkendorf. Jeden Monat schieben sie gut 10.000 Partybilder von etwa 100 Veranstaltungen auf die Website. Im selben Zeitraum fügen die etwa 200.000 User nochmal 250.000 Bilder hinzu. Sie pflegen ihre Profile, gründen Gruppen („Mama ist die Beste!“), freuen sich auf den Urlaub („Malle wird geil!!!“) und sehen nach, wo am Wochenende etwas los ist. Wer sich auf der Seite registriert, schreibt sich in so etwas wie das Koordinatensystem seiner Region ein. Arno kehrt im Suxul an den Rand der Tanzfläche zurück und wischt sich eine Strähne seines dunklen Haares aus der Stirn. Die ersten Partybilder vor vier Jahren hat er kostenlos gemacht. Der Dank war zum Beispiel ein Helferessen, das Daniel und Thomas ausrichteten. Irgendwann akquirierten die beiden aber die ersten Kleinanzeigen und konnten Geld ausgeben. Heute bekommt Arno bis zu 40 Euro, wenn er mit Kamera und dem Poloshirt der Website auf eine Party geht. Dort sind die Fotografen mittlerweile so wichtig wie der DJ. Sie sind kleine Stars. Arno hält im Suxul die Kamera vor sein Auge und fotografiert zwei Mädchen, die sich für ein Foto küssen. Im selben Moment greift ein Junge mit einer Schirmkappe nach Arnos Schulter. Mit der anderen Hand greift er nach seinem Kumpel, der für ein Foto stehenbleiben soll. Als Arno wieder Richtung Treppe geht, schaut er auf sein Display. 94 Fotos. Er schwitzt. Er freut sich. „Ein Irrsinn“, sagt er. Der DJ zieht den Kopfhörer auf und wippt mit dem Kopf. Arno steigt die Stufen nach oben.
Die Bilder auf seinem Chip sind in mehrfacher Hinsicht wertvoll. Für die Fotografierten sind sie Beweismittel. Arno glaubt sogar einen Wettkampf zu erkennen, bei dem es darum geht, den Freunden zu sagen: ,Schau! Da war ich gestern. Und wo warst du?‘ Die Bilder fungieren wie ein Referenzsystem für’s Erwachsenwerden. Sie helfen beim Beantworten wichtiger Fragen: Wer sind die anderen? Wie sind die anderen? Mit wem sind die anderen unterwegs? Die Bilder machen natürlich auch das Verlieben leichter. Früher gingen Flirts manchmal in der Menge verloren. Bilder aber gehen nicht verloren. Immer kennt jemand Jemanden, der auf einem Foto ist. Vielleicht sind die Partyfotografen aber auch kleine Diebe. Sie luchsen den Fotografierten mit ihren Bildern kleine Stücke ihrer Persönlichkeit ab und wer diese Stücke wiedersehen will, der muss auf die Website kommen. Daniel und Thomas haben im Gewerbegebiet von Denkendorf Büros bezogen, weil die Dinge größer wurden. Die Fahrschulen aus der Region annoncieren zum Beispiel gerne auf der Website, weil da ihre künftigen Kunden sind. Oder das Tanzhaus Treffer in Aschbuch. Dort spielen Coverbands die Hits von Bon Jovi oder Nickelback nach. Früher inserierte das Tanzhaus in drei Lokalzeitungen für die Partyabende. Das ist heute anders. Heute erscheinen die Anzeigen zum Beispiel auf bei-uns.de. Dort gibt fast jeder Nutzer in seinem Profil seinen Wohnort an. Die Tanzhaus-Menschen können ihre Anzeige deshalb so buchen, dass nur die Menschen sie sehen, die im Umkreis von vielleicht 20 Kilometern um Aschbuch wohnen. Die Anzeige in der Zeitung ergibt für die Wirte aus Aschbuch deshalb kaum noch Sinn, weil sie vor allem Menschen lesen, die sowieso nicht kommen. Im vergangenen Jahrzehnt sind in Deutschland viele Partyfoto-Portale entstanden. In Nürnberg gibt es 10nach8.de mit angeblich 50.000 Mitgliedern. In Pfaffenhofen gibt es pafnet.de mit, nach eigenen Angaben, mehr als 200.000 Mitgliedern. Nahe Aschaffenburg wird die Seite partyfans.com administriert, deren Macher auf mehr als 150.000 Mitglieder verweisen. Nun gibt es zwar keine Übersicht über solche Websites in Deutschland, aber es ist sehr wahrscheinlich, dass es zu fast jeder Region auch eine passende Bilderseite gibt. Und es werden mehr. Kurz bevor Arno die Treppe aus dem Suxul-Gewölbe in den Barraum steigt, kommt ein Fotograf herunter. In der rechten Hand hält er einen Fotoapparat. Mit der linken Hand verteilt er Visitenkarten, auf denen thepicture.de steht. Noch eine Bilderseite für Ingolstadt. bei-uns.de hat sich in den vergangenen Jahren verändert. Auf der Startseite stehen zum Beispiel Polizeiberichte. Vereine schicken Meldungen, die veröffentlicht werden. Ein bißchen erinnert die Seite an eine Lokalzeitung und das ist Absicht. Daniel und Thomas wünschen sich, dass sich auch jene registrieren, die für die Superfreaks-Party zu alt sind. Sie sollen Neuigkeiten lesen und Bekannte treffen. Foto muss ja nicht. Die Älteren, sagt Arno, muss man sowieso immer erst mühsam überzeugen, sich fotografieren zu lassen. Die Älteren – Arno meint Menschen ab 25 – sind manchmal noch von dem Gedanken beseelt, ein öffentliches Bild sei ein gefährliches Bild. Aber Arno glaubt, dass sich das mit der Zeit ändert. Vor dem Eingang zum Suxul macht er ein letztes Foto. Ein Junge zerrt seinen Kumpel und eine Freundin in seine Arme. Als Arno ihm das Foto auf dem Display zeigt, freut er sich und sagt: „Der in der Mitte sieht am besten aus.“ Ist es eigentlich denkbar, dass die Leute der allwöchentlichen Selbstdarstellung auch wieder überdrüssig werden? Daniel überlegt und zieht dann ein ungläubiges Gesicht, das „Nein“ bedeutet. Thomas schüttelt den Kopf. Daniel geht zum Beispiel davon aus, dass das iPad seine Website auf eine andere Stufe hebt. Er malt sich eine Zukunft aus, in der Menschen zu Hause auf dem Sofa fläzen, den magazingroßen neuen Computer von Apple in die Hand nehmen, mit dem Finger durch die Bildergalerien blättern, Mails schreiben und dann vielleicht, erschöpft vom Schauen und vom Tippen, mit dem iPad in der Hand einschlafen. Mit ihren Freunden. Zu Hause. Im Internet.
Text: peter-wagner - Fotos: bei-uns.de