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Der Boss erledigt die Arbeit
Das Produzieren der derzeit innovativsten Late-Night Talkshow im deutschen Fernsehen muss eine furchtbar stressige Angelegenheit sein. Das zumindest signalisiert der Stapel Menthol-Zigaretten auf dem Regie-Pult von Christian Ulmen. Auch Moderator Benjamin von Stuckrad-Barre wirkt kurz vor Aufzeichnungsbeginn der Sendung in einem Neuköllner Hinterhof-Studio nervös. Er steht dicht am Bühnenrand und spricht mit dem Publikum. Die Zigarette in seiner linken Hand wirkt wie ein spitzer Dirigenten-Stab, mit dem er die Zuschauer ein letztes Mal zu guter Laune anstachelt. Johannes Boss steht schweigend im Regieraum hinter seinem Regie führenden Chef Christian Ulmen und hat seinen, wie er es nennt, „toten Moment“. Eine Mischung aus totaler Anspannung und totaler Ohnmacht. Er hat die Bausubstanz für die Sendung geliefert, jetzt müssen Moderator und Regisseur daraus ein großes Gebäude formen. Kurz vor Sendungsbeginn ist er der einzige aus dem Kreativ-Team der „Stuckrad Late Night“-Show, der nicht raucht. Der Boss – wie sie ihn am Set nennen – kaut Kaugummi.
Johannes Boss, muss man wissen, ist ganz gerne der einzige. Es könnte sein Leitmotiv sein. Bei der Weihnachtsfeier von Christian Ulmens Produktionsfirma „Ulmen Television“, deren Chefautor er ist, trug er als einziger eine Krawatte. Das tut er sonst nie. Aus gutem Grund, wie Benjamin von Stuckrad-Barre findet. Johannes Kopf sei einfach zu groß. Er beschreibt den erst 27-Jährigen als brillanten Denker. Als „einen frühentwickelten, extrem lustigen und freundlichen, für Alltag und normales Berufsleben völlig ungeeigneten Riesenkopf.“ Christian Ulmen ist wenig charmanter, wenn er die Qualitäten seines wichtigsten Mitarbeiters beschreibt. Er vergleicht Johannes Boss mit einem Universal-Schraubbohrer: „Seit vier Jahren verblüfft, nein, erschrickt er uns täglich mit seiner Wendigkeit und einem breiten Autoren-Repertoire.“ Das reicht von Penis-Witzen für die Ulmensche Kunstfigur Knut Hansen über das Illustrieren seelischer Abgründe im Rahmen der Produktionen mit Uwe Wöllner bis hin zu fein geschliffenen politischen Show-Idee für „Stuckrad Late-Night“.
Fragt man den mit einem schwarzen Anzug gekleideten Johannes, was man können muss, um von einem Jungen ohne Schulabschluss zum wichtigsten Mann in Christian Ulmens Produktionsfirma aufzusteigen, sagt er: „Auf Abruf Ideen produzieren, die richtige Farbe treffen und den Humor von Christian Ulmen teilen.“ Dass er letzteres Talent besitzt, entdeckte Johannes Boss recht früh. Eigentlich in dem Moment, da er als Jugendlicher das erste Mal „Unter Ulmen“ auf MTV sah. Kurz darauf gründete er mit seinem Schulfreund und Webseiten-Entwickler Marcus Herrmann ein – wie Johannes nicht ohne Ironie in der Stimme beschreibt – „kritisches Diskussionsforum, das sich mit der Rolle der Sendung in der deutschen Fernsehlandschaft beschäftigte“. Heute heißt die Homepage www.christian-ulmen.de und ist so etwas wie die offizielle Homepage der Ulmen-Freunde.
Trotzdem: Man wird dem Schraubborer und Riesenkopf Johannes Boss nicht gerecht, wenn man seinen Werdegang auf den vom Ulmen-Fan zum Ulmen-Mitarbeiter reduziert. Seine Karriere ist das glückliche Resultat des eigentlich unmöglichen Vorhabens, im Leben nur das zu tun, was auch Spaß macht. Der Erfolgsweg eines Schulabbrechers, dessen größtes Talent schon immer darin bestand, ganz genau zu wissen, woraus sein Talent besteht: aus guten Ideen, die er irgendwie in die Medien bringen muss.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
„Bei Benjamin muss etwas entstehen können, er braucht kein engmaschiges Repertoire, sondern die richtige Grundlage“, sagt Johannes, wenn er versucht die Arbeit als Chefautor zu beschrieben. Bei „Stuckrad Late Night“ geht es nicht darum, Witze zu schreiben, die dann ein anderer vorliest. Sein Job als Schraubbohrer ist es, dem Gastgeber den richtigen Werkzeugkoffer mit auf die Bühne zu geben. Das Ziel von „Stuckrad Late-Night“ besteht laut Johannes Boss darin, „spielerisch, im Vorbeigehen, auf Momente von umwerfender Ernsthaftigkeit zu treffen, wenn etwa Hans-Christian Ströbele und Gunter Gabriel gemeinsam ‚Power to the people‘ singen und immer weiter tanzen und grölen, obwohl die Aufzeichnung längst beendet ist.“ Besonders gut gelingt diese Strategie auch bei den Schnellfeuerfragen, die an diesem Tag Andrea Ypsilanti zur Begrüßung mit nur einem Satz beantworten darf. Johannes Boss hat sie auf Stuckrad-Barres Moderationskarten notiert: Ist Andrea Ypsilanti neben Elvis Presley der am leichtesten zu merkende Name der Welt? Sollte Hessen im Alleingang Libyen angreifen? Schönes Gefühl, mal wieder im Fernsehen zu sein?
Das, was Regisseur Christian Ulmen, Gastgeber Benjamin von Stuckrad-Barre und Chefautor Johannes Boss mit ihrer Late-Night-Sendung versuchen, ist, die Planbarkeit des Mediums Fernsehen zu durchbrechen. Johannes Boss sagt: „Wir wollen Überraschungsmomente schaffen.“ Bei den Zuschauern, aber auch beim Gast der jeweiligen Sendung, der immer eine Person aus dem deutschen Politikbetrieb ist. Bei Politikern ist die Herausforderung, spielerisch an deren eingeübter Selbstinszenierung zu kratzen und damit Momente voller ungewollter Ehrlichkeit, gespielter Authentizität und überraschenden Einsichten - also letztlich Unterhaltung - zu kreieren, besonders hoch. Andrea Ypsilanti, die bei der Aufzeichnung an diesem Tag, gemeinsam mit Stuckrad-Barre in den Kulissen einer Art Denkfabrik die großen Fragen der Menschheit lösen und sich zu diesem Zwecke eine weiße Schutzhaube aufsetzen soll, sagt: „Ich hasse es ja, wenn man mich so zum Affen machen will.“ Stuckrad-Barre sagt: „Zum Affen gemacht wird hier niemand. Wir bieten es nur an.“ Andrea Ypsilanti zieht daraufhin die hässliche Haube über die schöne Frisur. Das Publikum klatscht. Im Regieraum nicken sich Christian Ulmen und Johannes Boss zufrieden zu.
Es ist ein lustiger Zufall, dass die Sendung, dank der sich die Wege von Johannes Boss und Christian Ulmen vor sechs Jahren zum ersten Mal kreuzten „Mein neuer Freund“ hieß. Pro7 hatte die Show, in der ein Kandidat Geld gewinnt, wenn er den bis zur Unkenntlichkeit als Ekelpaket verkleideten Christian Ulmen zwei Tage lang als neuen Freund aushält, nach nur einer Folge und mäßigen Quoten abgesetzt. Johannes Boss und sein Kumpel mit den Programmier-Kenntnissen fanden dieses Entscheidung mutlos. Als Zivildienstleistende hatten sie genug Zeit, der Fernsehlandschaft einen besonderen Dienst zu erweisen. Mit ihrer Unterschriften-Aktion, der sich im Internet rund 10 000 Unterstützer anschlossen, zwangen sie Pro7 2005 zur Wiederaufnahme von „Mein neuer Freund“. Damit schrieben sie Fernsehgeschichte.
Johannes Boss war es aber nicht genug, Christian Ulmen zurück auf den Bildschirm zu holen. Er kreierte ihm sogar einen eigenen Fernsehsender: den Internetkanal „Ulmen TV“, der 2008 online ging. Johannes und der knapp zehn Jahre ältere Ulmen standen nach der Unterschriften-Aktion und der damit verbundenen persönlichen Bekanntschaft in einem freien Gedankenaustausch über einen möglichen Web-TV-Sender, „in dem wir ungefiltert und ohne Quotensieb senden können, was wir wollen.“ Johannes Boss sagt: „Ich habe Christian damals eigeninitiativ ein Papier runtergeschrieben und meine Idee von ulmen.tv skizziert. Das war quasi ein Bewerbungsschreiben als Autor, und Christian hat die Bewerbung angenommen.“ Denn Christian Ulmen ist einer, der sich durch eine Sache überzeugen lässt. Weniger durch eine illustre Vita.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Moderator und Regisseur der Sendung: Stuckrad-Barre und Ulmen.
Johannes Boss verkörpert das, was man mit „Macher“ bezeichnen könnte. „Ich brauche keine lange theoretische Auseinandersetzung mit Dingen, bevor ich sie selber umsetze“, sagt er. Anstatt Journalismus zu studieren, gab er schon als Kind eine eigene Zeitschrift heraus und zog als 17-Jähriger für den lokalen Fernsehsender seiner Heimatstadt gemeinsam mit zwei bärtigen Russlanddeutschen durch Fuldas Fußgängerzonen, um „unsere brutale Langeweile zu zerschießen und Bürger zu verwirren“. Statt aufs Abitur zu lernen, schrieb er Fernsehkritiken auf einem Blog, das er nicht ganz uneitel „Sendungsbewusstsein“ nannte. Übermut und einen leichten Hang zur Selbstüberschätzung leugnet Johannes nicht, wenn er an seine Entscheidung von damals denkt, kurz vor dem Abitur die Schule zu schmeißen. Mit Anfang zwanzig produzierte er auf eigene Faust zwei Pilotsendungen für eigens entwickelte Fernsehserien. „Das war wirtschaftlich eine Katastrophe“, sagt er heute. Seinen besorgten Eltern – beide Lehrer – sagte er damals: „Wartet ab. Irgendwann macht es klick.“
Johannes Boss ist einer der wenigen Menschen, die man als selbstbewusst bezeichnen kann, ohne ihnen damit eigentlich Hochnäsigkeit vorwerfen zu wollen. Er ist keiner von denen, die einen fehlenden Schulabschluss als charakterliches Qualitätsmerkmal bezeichnen. Den Satz „ich war überfordert damit, mich anzupassen“ sagt Johannes jedenfalls völlig ohne unterschwelligem Stolz. Seine Begründung für den vorzeitigen Schulabgang klingt nicht wie eine Rechtfertigung für Faulheit und fehlende Helligkeit im Hirn. „Ich habe früh im Leben Dinge gefunden, bei denen ich merkte: Wenn ich die mache, bin ich bei mir.“ Schulfächer gehörten nicht dazu.
In einem Monat wird die erste Staffel „Stuckrad Late Night“ abgedreht sein. Dann will sich Johannes Boss Urlaub nehmen. Trotz allem Stress, den die Produktion einer innovativen Fernsehsendung mit sich bringt, sagt er: „Ich bin mit dem, was ich mache sehr glücklich. Gerade bei einer Late Night Sendung vergehen von der Idee bis zur Umsetzung oft nur ein paar Stunden. Das gefällt mir.“ Nach der Aufzeichnung an diesem Tag vergehen nur wenige Minuten bis sich Ulmen und Stuckrad-Barre vom Set verabschieden. Die beiden müssen weiter zur nächsten Show. Wegen des Fukushima-Unglücks steht eine Live-Lesung von Dürrenmatts Physikern im Berliner Radio an. Johannes muss sich alleine um die Kürzungen, den letzten Schliff an der Aufzeichnung kümmern, die am nächsten Tag ausgestrahlt wird. Ulmen und Stuckrad-Barre fahren also den Ruhm ein, der Boss erledigt die Arbeit? So will es Johannes nicht stehen lassen: „Es ist nicht so, dass die beiden ohne mich nicht arbeiten oder gar lustig sein könnten.“
Vielleicht ist Johannes auch deshalb so ein guter Chefautor, weil er sich in der zweiten Reihe wohl fühlt. Auch der Wechsel in eine Rolle vor die Kamera ist nichts, was Johannes anstrebt. „Ich müsste das Agieren vor einer Kamera unter Qualen lernen“, sagt er. Johannes hält wenig davon, Dinge anzufangen, die man erst noch lernen muss: „Man sollte sich fragen: Was kann ich? Und nicht: Was will ich können?“ Und wenn es keinen Beruf gibt, der zu den eigenen Fähigkeiten passt? „Dann muss man ihn eben erfinden.“
Mehr zum Thema auf jetzt.de: Eine Kritik der Sendung.
Text: anna-kistner - Foto: privat, ZDF